Читать книгу Unziemliches Verhalten - Rebecca Solnit - Страница 10
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ОглавлениеDas Haus, in dem ich wohnte, ein verputztes Gebäude aus den zwanziger Jahren inmitten all der stattlichen viktorianischen Holzhäuser, hatte seinen ganz eigenen Charme. Meine kleine Wohnung, die mir so geräumig erschien, amüsierte mich mit ihren diversen auf beengte Verhältnisse abgestimmten Einbauelementen: ein aus der Wand ausklappbares schmales Bügelbrett, ein Schrankbett, das heruntergelassen das ganze Zimmer beherrschte, sodass ich es dauerhaft in dem kleinen Kabuff aufstellte, das eigentlich als begehbarer Kleiderschrank gedacht war. Am Kopfende des Betts befand sich ein Fenster, an der Seite eine breite Tür und am Fußende eine weitere Tür, der Raum war also relativ offen, trotzdem blieb er ein Kabuff, in dem ich ein Vierteljahrhundert lang schlief.
Armut ist manchmal eine große Bewahrerin der Vergangenheit, und ich lebte in Räumlichkeiten, die noch mehr oder weniger im Originalzustand waren. Das galt für die schmalen Dielen der goldgelben Eichenholzböden wie auch für die gluckernden Heizkörper, den Müllschlucker im Treppenhaus, durch den der Abfall über zwei Stockwerke in die große Tonne hinunterstürzte, und einen altmodischen, winzigen, nicht mehr funktionierenden Kühlschrank, der in der Küche neben den Spülbecken in die Wand eingebaut war, gegenüber dem ebenfalls eingebauten deckenhohen Geschirrschrank mit Glastüren und Anrichte.
Ein großartiger alter Wedgewood-Herd dominierte die Küche, cremeweiße Emaille mit schwarzen Einfassungen und einem schwarzen Ofenrohr, das einen rechten Winkel beschrieb, bevor es in die Wand führte. Die Zündflammen blieben während meiner gesamten Zeit dort erloschen, sodass ich immer Streichholzbriefchen aus Bars und Restaurants mitnahm, in denen das Rauchen damals noch erlaubt war. Selbst kochen zu können und einen ganzen Kühlschrank für mich zu haben, empfand ich als echten Luxus, nachdem mir in der Pension für Dauergäste, in der ich vorher gewohnt hatte, weder die Aufbewahrung noch die Zubereitung von Essen möglich gewesen waren.
Ich war arm. Meine Möbel kamen vom Sperrmüll, meine Kleider aus Secondhandläden, die Haushaltswaren vom Flohmarkt; damals wussten wir Altes noch zu würdigen, und auch ästhetisch entsprach mir diese Vorgehensweise. Die meisten Gegenstände, die ich besaß, waren älter als ich, und das gefiel mir, sie verankerten mich in der Vergangenheit. Ich sehnte mich danach, mit einem Bewusstsein für Zeit, Geschichte, Sterblichkeit, Tiefe, Textur zu leben, das meiner Kindheit und Jugend völlig abgegangen war, denn ich war in einem Neubauviertel am Rand der Bay Area aufgewachsen, und meine Eltern mit ihrem städtisch-migrantischen Hintergrund hatten wenig Sinn für Abstammung, kaum Geschichten zu erzählen, keine Familienerbstücke. In meinem Schreiben sollte es später auch immer wieder um die Rekonstruktion der Vergangenheit von Orten im amerikanischen Westen gehen.
Auf dem Weg zu einer Demonstration im Castro District entdeckte ich auf einem Flohmarkt ein kleines viktorianisches Sofa mit Samtbezug und Ziernägeln; der Schwule, der es mir für zehn Dollar verkaufte, schaffte es nach der Protestveranstaltung netterweise auch noch zu mir nach Hause und schleppte es sogar die Treppe hoch. Es ließ kleine Büschel uralter Rosshaarfüllung unter sich, wie ein inkontinentes altes Haustier. Ich sammelte kleine Erinnerungsstücke, Schätze, Artefakte an, durch die meine Wohnung mit der Zeit einem exzentrischen Naturkundemuseum zu ähneln begann, mit eigenartigen flechtenbewachsenen Zweigen und Ästen, Vogelnestern und Eierschalen, Geweihsprossen, Steinen, Knochen, vertrockneten Rosen, einem kleinen Glas mit schwefelgelben Schmetterlingen von einer Massenwanderung im östlichen Nevada und einem Hirschkopf mit Geweih, den ich von meinem jüngeren Bruder bekommen hatte und der auch über mein jetziges Zuhause wacht.
Ich durchlebte eine Phase der Armut, bis sich meine finanziellen Verhältnisse allmählich wieder entspannten; auch in der Armut war ich eine »neue Fremde«, doch ich erlebte sie lang genug, um zumindest ansatzweise zu begreifen, wie sie sich auswirkt. In einem anderen Sinne, dem der geistigen Armut, hatte sie mich seit meiner Geburt umgeben. Meine Eltern hatten infolge der Weltwirtschaftskrise oder wer weiß welcher Entbehrungen in ihrer Kindheit ein tiefsitzendes Gefühl des Mangels entwickelt, und sie hatten kein Interesse daran, den Komfort ihres Mittelschichtlebens mit anderen zu teilen. Ich war mir nicht sicher, ob sie mir aus der Klemme geholfen hätten, wenn mich irgendetwas wirklich Schreckliches in die Knie gezwungen hätte, und ich ließ es tunlichst nie darauf ankommen, stürzte mich also nicht so hingebungsvoll in die Armut wie viele andere junge Weiße um mich herum, die aus diesem Leben jederzeit genauso einfach wieder aussteigen konnten, wie sie eingestiegen waren. Auch ich kam aus der Armut wieder heraus, aber langsam und aus eigener Kraft. Und, was ich aber erst später richtig begreifen sollte, dank der Vorteile, die meine Hautfarbe und mein Hintergrund mit sich brachten und die dazu führten, dass sowohl ich selbst als auch andere meine Eignung für eine höhere Bildung und geistige Arbeit ganz selbstverständlich voraussetzten.
Ich las Bücher im Stehen in Buchhandlungen, entlieh sie in der Bücherei oder suchte monate-, wenn nicht jahrelang nach günstigen gebrauchten Ausgaben; ich hörte Musik im Radio und nahm die Schallplatten von Freundinnen und Freunden auf Kassette auf; ich beäugte Gegenstände und fühlte mich angespornt und zugleich beunruhigt von dem Versprechen, das sie bargen: dass dieses Paar Stiefel oder dieses Hemd mich zu der machen würde, die ich sein musste oder sein wollte, dass das, was an mir unvollständig war, nur ein Loch war, das mit Dingen gestopft werden konnte, dass das, was man hat, neben dem, was man will, verblasst, dass Wollen durch Haben kuriert werden kann, durch Mehr-als-das-Nötige-Haben.
Ich wollte immer noch etwas, noch etwas anderes, und wenn ich es hatte, wollte ich das Nächste, es gab immer etwas Weiteres zu wollen. Dieses Begehren nagte an mir. Ich wollte Dinge so dringend haben, mit einem so schmerzlichen Verlangen, dass es mich regelrecht aushöhlte, und der Prozess des Wollens nahm oft weit mehr Zeit und Vorstellungsraum in Anspruch als nachher die tatsächliche Person, der Ort oder das Ding; der imaginäre Gegenstand besaß größere Macht als der tatsächliche. Und wenn ich das Ersehnte dann hatte, ließ das Begehren nach – es war das Begehren, das so lebendig war –, und dann kam es wieder und gaffte und gierte nach etwas Neuem. In Liebesbeziehungen konnte natürlich Ungewissheit das Begehren lebendig halten (das sich mit den verlässlicheren und netteren Männern dann in jene andere Art von Bindung verwandelte, die wir Liebe nennen).
Was ich mehr als alles andere wollte, war eine Verwandlung nicht meines Wesens, sondern meiner Umstände. Ich hatte keine klare Vorstellung davon, wo ich hinwollte, aber ich wusste, dass es möglichst fern von da sein sollte, wo ich herkam. Vielleicht handelte es sich tatsächlich weniger um Begehren als vielmehr um das Gegenteil, Aversion und Flucht, und vielleicht hatte für mich deshalb das Gehen eine so große Bedeutung: Es gab mir das Gefühl, irgendwohin zu gelangen.
Zumindest eine frühe Vorstellung, wie ein lebenswertes Leben aussehen könnte, hatte ich. Als Jugendliche las ich Anaïs Nins Tagebücher, und die plastischen Schilderungen ihres Pariser Lebens in der Zeit zwischen den Weltkriegen vermittelten mir ein Bild von geschützten Räumen, in denen tiefe, forschende Gespräche möglich waren, von Leben, die sich verwoben und gegenseitig befruchteten, von der Wärme, die leidenschaftliche Freundschaften spenden können. Viele Jahre später, als ich mit einigen Freundinnen und Freunden, für die ich gekocht hatte, an meinem Küchentisch – einer Linoleumplatte auf Chrombeinen – saß, waren die linke Historikerin Roxanne Dunbar-Ortiz und ich uns einig, dass wir nach genau diesen Dingen in unserer einsamen Jugend gehungert hatten. (Noch später fand ich zu meiner Bestürzung heraus, dass Nin, die ihren Mann, einen Bankangestellten, in den veröffentlichten Tagebüchern verschwiegen hatte, gar nicht die von der Hand in den Mund lebende Bohemienne gewesen war, als die sie sich darstellte.)
Neben dem Herd befanden sich zwei Spülbecken, ein normales fürs Geschirr und rechts davon ein tieferes zum Wäschewaschen, das ich mit einer alten emaillierten Abtropfplatte abdeckte, die zur Küche gehörte; nach einer Weile begann das tiefe, dunkle, feuchte Becken unter der Abdeckung immer zu muffeln, sodass ich sie ab und zu herunternehmen und das Becken ordentlich scheuern musste. Früher hatten die Frauen darin die Wäsche von Hand gewaschen, und in meinen ersten Jahren in der Wohnung gab es auf dem Flachdach unseres Gebäudes noch eine Art hölzernen Käfig, in dem man die Wäsche aufhängen konnte, die obersten Stufen der Treppe, über die man dort hinaufgelangte, knirschten vom Abrieb der Dachpappe.
Der ursprünglich gelb-grüne Linoleumboden in der Küche hatte sich in etwas Mürbes, Rissiges verwandelt, das man praktisch nicht sauber halten konnte, also strich ich ihn schwarz an, und das immer wieder von neuem, sobald die Farbe sich abgenutzt hatte. Aber an sonnigen Morgen strömte das Licht in die Küche, durch das östliche Erkerfenster auch in das große Zimmer, und im Winter sickerte es den ganzen Tag durch das südliche Erkerfenster herein. Der Erker ging auf die Fulton Street und eine Straßenlampe hinaus, und manchmal saß ich dort und schaute gebannt zu, wie sich die Nebelschwaden, die der Wind vom kalten Meer hereintrieb, unter der Straßenlampe gleich gigantischen, phantasmagorischen Steppenläufern übereinanderwälzten.
Oder ich lag im Bett und hörte in der nächtlichen Stille die fernen Nebelhörner tuten. Wenn ich nachts aufwachte, mitten in der Großstadt, in einer Wohngegend, die zur Innenstadt gezählt wurde, hörte ich oft die Nebelhörner, und sie trugen mich an den Rand der Stadt und darüber hinaus, zum Meer, zum Himmel, zum Nebel. Ich hörte sie so häufig, dass sie mir im Rückblick mit jenem Zustand mitten in der Nacht gekoppelt zu sein scheinen, wenn man nicht ganz wach ist, aber auch nicht schläft, wenn die Gedanken wandern, der Körper aber mit der Jupiter’schen Schwere des Schlafs ans Bett gefesselt ist. Sie riefen mich, als wäre ich ein verirrtes Schiff, aber nicht, um mich nach Hause zu leiten, sondern um mich an das Meer und die Luft dort draußen zu erinnern, mit denen ich auch hier in meinem Kabuff verbunden war.
Ich lebte so lange in dieser kleinen Wohnung, dass sie und ich förmlich miteinander verwuchsen. Am Anfang hatte ich kaum etwas darin stehen, und sie kam mir riesig vor, zum Schluss war sie vollgestopft mit Büchern, unter dem Bett standen etliche Kartons mit Papieren, und ich fühlte mich beengt. In meiner Erinnerung schimmert die Wohnung wie das perlmutterne Gehäuse eines Perlboots, als wäre ich ein Einsiedlerkrebs und hätte mich in eine besonders zauberhafte Zuflucht verkrochen, bis diese, so war nun mal der Gang der Dinge, zu klein für mich geworden war.
Auch zwölf Jahre nach meinem Auszug sehe ich noch jedes Detail vor mir, greife in Gedanken manchmal in das dortige statt mein jetziges Medizinschränkchen, nenne dem Taxifahrer, nachdem ich mich in meinem alten Viertel etwas umgesehen habe, meine Adresse in der Lyon Street, ehe mir einfällt, dass ich dort ja schon seit vielen Jahren nicht mehr wohne, dann die darauffolgende und erst zum Schluss meine jetzige Adresse, die sich mir niemals so in die Psyche einbrennen wird, wie es die alte tat. Als ich dort wohnte, träumte ich oft von der Straße, die an meinem Elternhaus vorbeiführte, sich zur Landstraße wandelte und dann vor einer Pferdekoppel endete, der Straße, von der aus ich durch Stacheldrahtzäune zu so vielen meiner Abenteuer geschlüpft war, und so wie damals von dieser Straße träume ich heute von meiner kleinen Wohnung in der Lyon Street, die ein so prägender Ort für mich war.
Als ich dort noch wohnte, träumte ich oft, ich fände ein weiteres Zimmer darin, eine weitere Tür. In mancher Hinsicht war die Wohnung ich und ich sie, sodass diese Entdeckungen sich auch auf mich selbst bezogen. Ich träumte wieder und wieder von meinem Elternhaus als einem Ort, an dem ich in der Falle saß, meine Wohnung hingegen engte mich nicht ein, sondern eröffnete mir neue Möglichkeiten. In meinen Träumen war sie größer, hatte mehr Zimmer, Kamine und geheime Gemächer, besaß Schönheiten, die im wahren Leben nicht existierten, und einmal öffnete sich die Hintertür auf leuchtende Felder statt auf das tatsächliche trostlose Gerümpel dort.
Unter dem weißen Anstrich der Küchenwände sah man die Struktur einer PVC-Tapete mit Backsteinprägung, und eines Tages riss ich sie herunter. Es war wie Verbände von einer Wunde zu reißen. Sie löste sich in großen Stücken ab, und die nächste Tapetenschicht kam gleich mit. Unter dieser befand sich eine noch ältere, schönere Tapete mit einem Muster aus rankendem Efeu. Als ich das hellbraune Muster sah, spürte ich sehr lebendig die Gegenwart der Menschen, die vor mir hier gewohnt hatten, weitere Schemen, andere Zeiten, vor dem Krieg, als dieses Viertel ein ganz anderer Ort mit anderen Leuten auf einer noch sehr anderen Welt war.
Dann wiederholte ich den ganzen Vorgang im Traum erneut, doch diesmal erschien unter den alten Tapeten eine dichte Collage aus Zeitungs- und Zeitschriftenausschnitten und Stoffstücken, jede Menge Blumenmotive in rosigen Tönen, üppig und eigenartig, ein Garten aus lauter Fetzen. Im Traum wusste ich, dass es sich um die Hinterlassenschaft einer anderen Frau handelte, die vor mir hier gewohnt hatte, einer alten Schwarzen mit gestalterischer Gabe.
Das Gebäude lag nicht weit vom Stadtzentrum, und wenn ich heute daran denke, sehe ich es als die Achse, um die eine Kompassnadel wandert, ein Ort, der sich nach allen vier Himmelsrichtungen öffnet. Nicht ich erschuf mir dort ein Zuhause, sondern mein Zuhause erschuf mich, während ich Menschen beobachtete und mich ihnen manchmal anschloss, im Laufe der Jahre Tausende Meilen zu Fuß durch die Stadt ging, manchmal auf vertrauten Wegen zu den Kinos, Buchhandlungen, Lebensmittelläden oder zur Arbeit, manchmal um Neues zu entdecken die Hügel hinauf und manchmal, um mich von der Enge und dem Trubel zu erholen, zum Ocean Beach ganz im Westen, dem Ort, wo, wie mir jedes Mal aufs Neue bewusst wurde, so viele Geschichten endeten und andere jenseits des weiten Pazifiks begannen.
Das aufgewühlte Meer und der lange Sandstrand boten mir eine andere Art von Zuhause, eine andere Art von Zuflucht, denn hier in dieser Weite, angesichts des Himmels und des Meeres, des fernen Horizonts, der vorbeiziehenden Wildvögel, relativierten sich meine Ängste und Sorgen. Meine Wohnung war meine Zuflucht, mein Brutkasten, mein Schneckenhaus, mein Anker, mein Startblock und ein Geschenk von einem Fremden.