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Nebelhorn und Gospel 1
ОглавлениеDie New Strangers Home Baptist Church lag zwei Blocks östlich von meiner Wohnung in einem dreistöckigen viktorianischen Gebäude mit zwei an Getreidesilos erinnernden, von Kreuzen gekrönten Türmchen an den Seiten und – eine Besonderheit in diesem Viertel von direkt an den Gehweg grenzenden Häusern – einem kleinen Rasenstück vor dem Haus, auf dem inmitten einiger kümmerlicher Rosen ein Holzschild mit dem Namen der Kirche stand. Jahr um Jahr ging ich daran vorbei und überlegte, was diese new strangers, diese neuen Fremden, wohl sein mochten. Die Solid Rock Baptist Church ein Stück weiter oben, wo die Lyon Street steil anstieg, war eines von mehreren Gotteshäusern, vor denen ich manchmal stehen blieb, um dem Gospelgesang drinnen zuzuhören. Ich war eine Außenseiterin, eine neue Fremde in diesem Stadtviertel, das doch selbst eine Gemeinschaft von Außenseitern innerhalb der weißen Gesellschaft war, in der ich mich frei bewegen konnte und zu der ich dazugehörte.
Es war ein kleines Stadtviertel, fünf Blocks breit und sechs Blocks lang, von breiten Boulevards im Osten und Westen, dem grünen Streifen des Golden Gate Park im Süden und einem steilen Hügel im Norden begrenzt, der wie eine Art Mauer wirkte. Mein neues Zuhause lag an der südlichen Ecke eines Blocks, an dessen nördlicher Seite die düstere, niedrige Pfingstkirche stand, die auch mein Wahllokal war. Daneben befand sich ein Spirituosenladen, der von einer aus Afrika stammenden Familie geführt wurde; Jahre später sollte ich zur Beerdigung ihres noch jugendlichen Sohns gehen, der aus einem vorbeifahrenden Auto erschossen worden war. Die Trauerfeier fand in der Emanuel Church of God in der Hayes Street statt, nur drei Blocks vom Laden der Familie entfernt und noch näher an dem Waschsalon, vor dem der Junge ermordet worden war.
Die Kirche befand sich in einem hübschen Gebäude, das in einer weißeren Zeit eine Mormonenkirche gewesen war, und die Trauerfeier war aufwühlend, voller Musik und mit tief beeindruckenden Reden. Die gepflegte eckige Kirche, verputzt und in Pastellfarben gestrichen, sah aus, als wäre sie aus einem Renaissance-Heiligenbild gefallen. Ihr gegenüber befand sich eine kleine Ladenkirche, in der ich in meinen Anfangsjahren einmal einen Gottesdienst besuchte; das Kruzifix über dem Altar bestand aus Eierkartons, die mit den Ausbeulungen nach außen zusammengefügt worden waren. Es gab noch weitere schwarze Kirchen im diesem kleinen Viertel. Man war nie sehr weit von der Frömmigkeit entfernt.
Eine schöne, in reinem Weiß gestrichene Villa beherbergte das Brahma Kumaris Meditation Center, und als einige Jahre später Aids zur weltweiten Geißel wurde, eröffneten Mutter Teresas Missionarinnen der Nächstenliebe ein Aids-Hospiz in einem großen viktorianischen Holzhaus gegenüber von meiner Wohnung; die Nonnen in ihren dünnen weißen Baumwollsaris mit den blauen Streifen wurden ein vertrauter Anblick in der Nachbarschaft. Ein paarmal erschien Mutter Teresa auch persönlich, und die Nonnen zeigten mir einmal ein Foto von ihr, auf dem sie vor unserem in arabischem Besitz befindlichen und von Schwarzen geführten Spirituosenladen stand. In östlicher Richtung gab es ein islamisches Zentrum, in westlicher eine jesuitische Universität, am nördlichen Rand katholische und Episkopalkirchen und auf der Divisadero Street im Südosten, knapp außerhalb des Viertels, die St. John Coltrane African Orthodox Church mit ihren Jazzmessen, der Armentafel und den großen russisch-orthodox anmutenden Gemälden von schwarzen Erzengeln.
Womit ich sagen will, dass ich in einem kleinen Viertel von großer und vielfältiger Spiritualität wohnte, in dem hingebungsvoll der Himmel und verschiedene Versionen von Gott angerufen wurden. In meinen ersten Jahren dort gingen die Leute zu Fuß zu ihren kleinen Kirchen, prächtig herausgeputzt, die Männer und Jungen trugen Anzüge in den verschiedensten Farben, die Frauen und Mädchen Kleider, die älteren Frauen dazu oft Kopfbedeckungen aus Satin, Tüll oder Samt, der gefaltet, gerafft, gerüscht, beschleiert, mit Stoffblumen, Federn oder Schmucksteinen verziert war. Das Viertel war auf eine Weise lebendig, die die Vororte, in denen ich aufgewachsen war, tot und entleert erscheinen ließ, jene Wohngebiete, deren räumliche und gedankliche Konzeption den Rückzug aus dem öffentlichen Raum und ein Minimum an zwischenmenschlichem Kontakt vorsah; in denen die Erwachsenen nur im Auto unterwegs waren, die Leute für sich blieben und die Zäune unsere Köpfe überragten.
Manchmal sah ich aus meinen Erkerfenstern auf die Kirchgänger*innen hinunter, die in verschiedene Richtungen schlenderten, manchmal schlenderte ich auch selbst durch das Gewühl von Menschen, die einander vor oder nach dem Gottesdienst begrüßten. Die Nachbarschaft war von quirligem Leben erfüllt in jenen Tagen, als die Gläubigen zu Fuß zu ihren jeweiligen Gebetshäusern und danach wieder nach Hause gingen, durch Gruppen anderer Gläubiger hindurch, die in andere Richtungen unterwegs waren. Den Kirchen gehörten ihre Gebäude, deshalb blieben sie, wo sie waren, ihre Gemeindemitglieder hingegen wohnten meist zur Miete, und im Laufe der Zeit zogen immer mehr von ihnen weg, sodass es auf den Straßen nicht mehr so lebendig zuging. Statt der festlichen Betriebsamkeit auf den Gehwegen waren diese nun von zweireihig geparkten Autos gesäumt. Und dann verschwanden allmählich auch die Gotteshäuser, aber das war lange nach der Zeit, als ich das Viertel und seine Bewohner kennenlernte.
Die älteren Leute dort waren während der großen Wanderungsbewegung von Schwarzen aus den Südstaaten hierhergekommen, und ihre Lebensweise in diesem Viertel war mindestens genauso sehr von den Südstaaten und einem kleinstädtischen oder ländlichen Leben geprägt wie von der Vitalität der Großstadt. Wenn ich ihre Geschichten hörte, spürte ich schemenhaft die Gegenwart jener anderen Orte, die in ihren Erinnerungen, ihren Lebenswegen, ihren Verhaltensmustern lebendig blieben. Die schwarze Bevölkerung von San Francisco hatte sich in den vierziger Jahren fast verzehnfacht, und die Neuankömmlinge hatten sich an zwei Orten konzentriert, zum einen in dieser Gegend nicht weit vom geographischen Mittelpunkt der Stadt, zum anderen in Hunter’s Point im äußersten Südosten, wo die Werften Arbeit boten.
Diese älteren Leute hatten es nicht eilig, darin blieben sie Landmenschen. Sie schauten, wer des Weges kam, grüßten, wen sie kannten, riefen auch mal einem Kind etwas zu, das sich danebennahm. Von ihnen lernte ich, dass eine Plauderei, auch mit Unbekannten, ein Geschenk sein kann, sogar eine unterhaltsame Herausforderung, eine Gelegenheit für Herzlichkeit, Neckereien, gute Wünsche, Humor, ich lernte, dass gesprochene Worte ein kleines Feuer sein können, an dem man sich wärmen kann. Als ich viele Jahre später etwas Zeit in New Orleans und an anderen Orten der Südstaaten verbrachte, fühlte ich mich dort auf eine verblüffende Weise zu Hause, und mir wurde klar, dass dieses kleine Stück Westcoast damals ein Außenposten der schwarzen Südstaaten gewesen war.