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Eine andere Spiegelgeschichte: Als ich ungefähr elf war, gab es einen Schuhladen, in dem mir meine Mutter die Engineerstiefel kaufte, die ich damals unbedingt haben wollte, denn ich versuchte, nicht dieses verabscheute Wesen, ein Mädchen, zu sein, sondern etwas, das mir wie etwas ganz Eigenes erschien, robust, einsatzbereit; in Erinnerung geblieben ist mir der Laden jedoch aus einem anderen Grund. Wenn man vor die Spiegel trat, die auf beiden Seiten des Mittelgangs angebracht waren, sah man ein Spiegelbild des Spiegelbilds des Spiegelbilds des Spiegelbilds von sich selbst oder den Schemeln oder was auch immer, jedes weitere Abbild blasser, verschwommener und ferner als das vorige, eine Reihung, die sich endlos fortzusetzen schien, als läge in diesen Spiegeln ein Ozean, in dessen meergrüne Tiefen der Blick immer weiter vordrang. Damals hielt ich nicht nach meinem Selbst Ausschau, sondern nach dem, was jenseits davon lag.

Jenseits jeden Anfangs liegt ein weiterer Anfang und noch einer und noch einer, aber meine erste Fahrt mit dem Bus der Linie fünf Fulton könnte ein Startpunkt sein, jene Buslinie, die die Stadt in zwei Teile teilt, von Downtown an der San Francisco Bay über die Fulton Street bis zum Pazifik ganz im Westen. Das Hauptgeschehen dieser Geschichte spielt sich in der Mitte dieser Strecke ab, in der Mitte der Stadt, aber bleiben wir einen Moment lang in diesem Bus sitzen, der sich den Hügel hinaufquält, an der Jesuitenkirche vorbei, deren Türme im Morgenlicht leuchten, den südlich der Straße gelegenen großen Park entlang, wo die Avenues immer weniger dicht bebaut sind, auf Erde, die eigentlich nur Sand ist, bis hin zu dem langen Sandstreifen am Pazifik, dem Ozean, der ein Drittel unseres Planeten bedeckt.

Manchmal sieht das Meer aus wie ein Spiegel aus Silber, aus Silber mit Hammerschlag, nicht glatt genug für wirkliche Spiegelungen – es ist die Bay, die den gespiegelten Himmel auf der Wasseroberfläche trägt. An den schönsten Tagen gibt es für die Farben der San Francisco Bay und des Himmels darüber keine passenden Worte. Manchmal spiegelt sich im Wasser ein Himmel, der sowohl grau als auch golden ist, und das Wasser ist blau, ist grün, ist silbern, ist ein Abbild von diesem Grau und Gold, fängt die Wärme und Kälte der Farben in seinen kleinen Wellen ein, ist sie alle und zugleich keine davon, ist etwas Subtileres als die Sprache, die wir dafür haben. Manchmal taucht ein Vogel in diesen Spiegel aus Wasser ein, verschwindet in seinem eigenen Abbild, und die spiegelnde Oberfläche macht es unmöglich zu erkennen, was darunterliegt.

Manchmal wenn ein Tag geboren wird oder erlischt, ist der opalene Himmel von einer Farbe, für die wir keine Worte haben, einem Gold, das ins Blau verblasst ohne das vermittelnde Grün, das auf halbem Weg zwischen diesen Farben liegt, den feurig-warmen Farben, die nicht Apricot oder Purpur oder Gold sind, das Licht wandelt sich von einer Sekunde zur nächsten, sodass der Himmel, von der Sonne bis zur gegenüberliegenden Seite hin betrachtet, wo andere Farben in Bewegung sind, mehr Schattierungen von Blau aufweist, als man zählen kann. Wenn man nur einen Augenblick lang wegschaut, verpasst man einen Farbton, für den es niemals einen Namen geben wird und der sich wiederum zu einem anderen und einem wieder anderen wandelt. Die Bezeichnungen für Farben sind manchmal Käfige, die etwas umschließen, was dort nicht hingehört, und das gilt oft auch für die Sprache im Allgemeinen, für Wörter wie Frau, Mann, Kind, Erwachsener, sicher, stark, frei, wahr, schwarz, weiß, reich, arm. Wir brauchen die Wörter, doch wir sollten sie am besten in dem Bewusstsein verwenden, dass sie Behältnisse sind, die bei jeder Gelegenheit überfließen oder auseinanderbrechen können. Es liegt immer etwas jenseits von ihnen.

Unziemliches Verhalten

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