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Bremerhaven, 1884

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Nebel, überall Nebel, wie so häufig um diese Jahreszeit in den frühen, dämmrigen Morgenstunden. Bremerhaven war dafür bekannt, für Anfang März war es dennoch ungewöhnlich kalt. Die Luft trieb den salzigen Geschmack der See mit sich und mehrere Schiffe lagen im Hafen, kleinere und größere und dazwischen Fischerboote, die wie Spielzeuge gegen die mächtigen Überseedampfer wirkten. Majestätisch ragten ihre meterhohen Flanken aus den schlagenden Wellen. Unzerstörbar schienen ihre riesigen Rümpfe, die tausende von Menschen zu fassen vermochten, Güter und Tiere um die Erde brachten.

Das kräftige, durch den Nebel wie gedämpft hallende Glockengeläut der Sankt-Marien-Kirche verkündete, dass es soeben sechs Uhr früh wurde. Ein neuer Tag, ein entscheidender Tag, der alles verändern würde, lag vor den Menschen, die sich an diesem Morgen zur Abfahrt am Hafen eingefunden hatten, dort, am berühmt gewordenen „Point Of No Return“, dessen Name allein schon sagte, wohin die Reise gehen würde: Fort von der Heimat, in die Fremde und in eine erhoffte, bessere Zukunft – hier, am Ort ohne Wiederkehr. Familien mit Kindern, junge Männer und Frauen, Geistliche und Nonnen und ein Haufen unbändiger, umher tollender Kinder drängten sich zwischen Anlegestelle und Zufahrtsstraße. Sie stammten aus allen Gesellschaftsschichten, von der Fürstin, die erste Klasse reisen würde, um ihre Verwandten zu besuchen, bis zum armen Handlanger, der sich drüben, in der neuen Welt, Reichtum und Ruhm erhoffte.

Die „Elbe“ lag schon seit zwei Tagen im Hafen, um mit Lebensmitteln und den benötigten Vorräten beladen zu werden. Sie zählte zu den schnellsten Dampfern unter der Flagge des Deutschen Reiches und besaß zwei riesige Schornsteine, aus denen dicker, schwarzer Rauch aufstieg. Über eintausend Menschen fanden auf ihr Platz, eingeteilt in drei Klassen, wobei allein 800 Fahrplätze nur für das Zwischendeck einkalkuliert waren. Sie rühmte sich, eines der Vorzeigeschiffe des Norddeutschen Lloyd zu sein und hatte sich auch in Bezug auf ihren Komfort einen guten Ruf erarbeitet.

Nikolaus, ein schmächtiger, dürrer Junge von neun Jahren, starrte bereits seit Minuten die Bugwand des Schiffes hinauf. Er versuchte, die vielen Bullaugen zu zählen, die er entdecken konnte und wurde dabei immer wieder von Matrosen abgelenkt, die oben auf Deck, nahe der Brüstung, umherliefen. Nikolaus’ braune Augen leuchteten. Geboren in einem kleinen Ort nahe Wittenberge und auch dort aufgewachsen, hatte er solche Schiffe bisher nur auf Bildern oder aus der Entfernung bewundern können. Nun stand er hier, neben diesem modernen, erst drei Jahre in Betrieb befindlichen Dampfer, der ihn über den großen Ozean bringen sollte, in ein fremdes Land, von dem es hieß, dass dort alles schöner, größer und weiter sei als irgendwo sonst auf der Welt. Nikolaus versuchte sich das vorzustellen und gelangte zu der Annahme, sie müssten sich auf dem Weg ins Paradies befinden. Eine Hand legte sich mit einem Mal schwer auf seine Schultern und schreckte ihn aus seinen Überlegungen; es war die seines älteren Bruders.

„Bist du in Ordnung?“ Hubert lächelte fragend. Er war gerade achtzehn Jahre alt geworden, groß, schlank und von unauffälligem Äußeren, mit denselben dunkelbraunen Haaren und Augen wie der Junge..

Nikolaus nickte aufgeregt. „Wann geht’s denn endlich los?“ Gespannt schaute er zu seinem Bruder hinauf, ohne zu ahnen, wie ähnlich sie einander in diesem Moment waren.

Hubert warf einen Blick zurück, zu dem Menschenauflauf, der sich am Pier gebildet hatte. Mitten drin entdeckte er seine Eltern und ihre sechzehnjährige Schwester Juliane. Er zuckte die Schultern.

„Bald“, versprach er und betrachtete das Schiff, an dessen beiden Eingängen bereits die Holzprielen bereitlagen, über die sie treten mussten, um ins Innere des Schiffs zu gelangen. Der linke Eingang war für die Passagiere der ersten und zweiten Klasse gedacht und der andere für die des Zwischendecks. Das wenige Gepäck, das sie mitnehmen durften, war schon am Vorabend in den Rumpf der „Elbe“ verladen worden – alles, bis auf einen kleinen Handkoffer, den Friedrich bei sich trug und in dem ihre wichtigsten Dokumente, ein paar Bücher und anderer Kleinkram verstaut waren. Jeder von ihnen hatte noch eine Tasche dabei, in dem sich seine persönlichen Kleinigkeiten und frische Kleidung befanden, der Rest blieb bis zu ihrer Ankunft in New York im Laderaum des Schiffes verschwunden.

Juliane gesellte sich zu ihnen, mit bedächtigem Schritt und scheinbar gelangweilt. Sie vergaß wieder einmal, dass es sich als junge Dame nicht gehörte, vor sich hin zu schlendern und dabei auf den Zehenspitzen zu wippen.

„Das dauert noch eine Weile, bis sich alle von Vater verabschiedet haben“, meinte sie und blickte um sich, wobei sie ein tiefes Seufzen vernehmen ließ. Hunderte von fremden Menschen drängten sich am Anlegesteg und der Lärmpegel, der sie umgab, war enorm, beinahe beängstigend. Überall dröhnten Maschinen, während dazwischen die lachenden, kreischenden Stimmen der Kinder erklangen. Es gab Abschiedsszenen, Tränen und Vorfreude bei denen, die den Dampfer in wenigen Minuten betreten durften. Auf in ein neues Leben, in ein hoffentlich besseres! Auf ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten! Und daneben der Schmerz des Zurückbleibens bei denen, die nur gekommen waren, um hinterdrein zu winken. Wie gedämpft durch den Nebel, herrschte eine eigenartige Bedrücktheit über dem Pier. Nur die Weser plätscherte am Landesteg entlang, leise gurgelnd und die Mächtigkeit des tosenden Meeres verratend, wie jedesmal, wenn ein Schiff diesen Hafen verließ, am Punkt ohne Wiederkehr.

Hubert steckte seine Hände in die einfachen Baumwollhosen und runzelte die Stirn. „Meine Güte“, entfuhr es ihm. „Stell dir das einmal vor: In etwas mehr als einer Woche sind wir schon in Amerika!“

„Es ist ganz seltsam“, erwiderte Juliane nachdenklich, während ihre hellen, fast bernsteinfarbenen Augen die Seitenwand des Dampfers hinaufglitten. Es waren die Augen ihrer Mutter Luise – sie hatte als einzige die rotblonden Haare und diese seltenen Augen vererbt bekommen. Dazu das feine, etwas kantige Gesicht mit den vollen, roten Lippen und dem hellen Teint, der von kleinen Sommersprossen gezeichnet war. Sie konnte nicht als außergewöhnlich hübsch bezeichnet werden, jedoch herzlich in ihrer Ausstrahlung und bezaubernd mit ihrem fröhlichen, ungezwungenen Charakter, der ihr regelmäßig in die Quere kam zu dem, was Luise von ihr erwartete. Als Tochter eines Pastors hatte Juliane stets höflich, zurückhaltend und adrett zu sein und ihre burschikose, teils vorlaute Ader kollidierten nur allzu gern mit den Wertvorstellungen ihrer Mutter.

„Weißt du“, sagte Juliane jetzt und legte den Kopf schief. „Ich finde, es wäre nicht nötig, dass wir auswandern.“

Ein Schmunzeln bildete sich um die Lippen ihres älteren Bruders.

„Das wird Vater kaum von seinem Vorhaben abbringen können! Er ist fest entschlossen, sich dort drüben nützlich zu machen!“

Das junge Mädchen seufzte. „Ich weiß. Er sieht sich als eine Art Missionar. Trotzdem wäre ich lieber hiergeblieben. Wir sind doch hier Zuhause!“ Sie verzog betrübt das Gesicht und Hubert fasste sie bei der Hand.

„Keine Angst, Schwesterchen. Es kann dir überhaupt nichts passieren, wenn wir zusammenbleiben! Du wirst sehen, Amerika ist herrlich! Ich habe so viele Reiseberichte und Schilderungen von Auswanderern in der Zeitung gelesen...“ Sein schmales Gesicht nahm einen sehnsüchtigen Ausdruck an. „Ich freue mich unbeschreiblich darauf, all das selbst zu sehen, was dort geschrieben stand!“

„Du vielleicht“, murmelte Juliane, „aber ich kann nicht einmal mehr zur Schule gehen!“

„Die meisten Mädchen deines Standes gehen überhaupt nicht zur Schule“, wagte Hubert leise, doch hart einzuwerfen, die Stirn kritisch gerunzelt. „Weder hier in Deutschland, noch sonstwo auf der Welt!“

Störrisch warf Juliane den Kopf zurück. Ihre Augen blitzten herausfordernd. „Ich habe nicht vor, eine dieser ungebildeten, dummen, affektierten Puten zu werden, die nicht einmal wissen, dass der Rhein ein Fluss und kein neuer Staat ist! Aber einen reichen Mann heiraten – das wollen sie alle!“

Hubert konnte sich ein Grinsen nur schwer verkneifen. Er kannte den Trotz und die Sturheit seiner Schwester was die Emanzipationsfrage anbetraf. Ein Punkt, der regelmäßig zu Streit zwischen ihr und ihrer Mutter führte, die eine völlig andere Auffassung von den Aufgaben einer Frau vertrat.

Liebevoll strich Hubert das schulterlange, rotblonde Haar zurück, das Juliane meist offen trug, nur die vorderen Strähnen mit einem blauen Band zurückgehalten. Auch das war eine Sache, die Luise störte, die sie jedoch nicht in den eigenwilligen Schädel ihrer Tochter hineinbekam: Eine anständige, junge Dame steckte ihr Haar streng und glatt nach oben und verbarg es unter einer Haube, wenn sie das Haus verließ. Juliane allerdings sah darin lediglich eine Tortur und ihre persönliche Freiheit eingeschränkt und wehrte sich vehement dagegen.

Die „Elbe“ stieß drei langgezogene Pfiffe aus. Es war das Zeichen, dass die letzten Passagiere aufgefordert wurden, an Bord zu gehen. Von einer Sekunde auf die andere brach tumultartikes Chaos aus und ein großes Drängen und Schieben begann.

„Schnell!“ Hubert fasste seine beiden jüngeren Geschwister an den Oberarmen. Wie immer fühlte er sich als Ältester für sie verantwortlich. „Wir dürfen Vater und Mutter nicht verlieren!“

Sie kämpften sich durch die Menschenmenge, die es nun auf einmal, da die Zeit drängte, sehr eilig hatte, an Bord zu gelangen. Vor den Holzprielen bildeten sich lange Schlangen, die alle noch mit aufs Schiff wollten.

„...deshalb hoffen wir, dass es Ihnen im neuen, gelobten Land nur bestens ergehen wird!“, erklärte der Vorstand ihrer Kirchengemeinde jetzt und schüttelte Friedrich Kleinfeld die Hand. „Sie werden uns sehr fehlen, Pastor!“

„Sie mir auch! Alle werdet ihr mir fehlen – die ganze Gemeinde!“, versicherte Friedrich und schob seinen schwarzen, breitkrempigen Hut zurecht, den er immer auf seiner Glatze trug, sobald er aus dem Haus ging. Dazu hatte er seine lange, schwarze Kutte über seine Alltagskleidung gezogen, denn jeder sollte sehen, dass er mit Leib und Seele Geistlicher war und sich in jedem Moment seiner Aufgabe verpflichtet fühlte.

Einen Schritt hinter ihm, freundlich lächelnd, jedoch ohne sich in das Gespräch einzumischen, stand Luise. Im Vergleich zu seiner großen, breiten Erscheinung wirkte sie trotz ihrer Fülle sehr klein und unauffällig. Außer ihrem Gesicht war keine nackte Haut zu erblicken. Ihr rotblondes Haar steckte fest unter der dunkelbraunen Haube und ihre Hände wiederum in feinen Strickhandschuhen. Sie wandte kurz den Kopf, als sie ihre drei Kinder hinter sich bemerkte. Sie nickte Hubert und Nikolaus zu, bevor sie Juliane einen strengen Blick zuwarf. Das junge Mädchen ignorierte die unübersehbare Kritik gegenüber ihrem Erscheinungsbild jedoch völlig und lächelte stattdessen freundlich in die Runde der Menschen, die die Mühe auf sich genommen hatten und von Wittenberge bis nach Bremerhaven gereist waren, um sich hier von ihnen zu verabschieden. Alle waren sie angesehene Bürger der Stadt und Mitglieder des Kirchenvorstands. Ihr Vater hatte die protestantische Gemeinde kurz nach seiner Heirat übernommen. Seitdem lebte und arbeitete er dort. Es war für niemanden ein Abschied, der ohne etwas Wehmut begangen wurde.

„Ich glaube, es ist besser, wir stellen uns gleich einmal hinten an der Schlange an, bevor sie noch länger wird!“, meinte Friedrich jetzt, während er reihum ging und den Männern und deren Gattinen, die teilweise ebenfalls mitgekommen waren, zum Abschied die Hand reichte. Auch, wenn er sich zuversichtlich und voller Vorfreude gab – ein wenig Traurigkeit machte sich dennoch in ihm breit. Es war ein Abschied ohne Wiedersehen. Amerika wartete auf ihn, mit neuen, anderen Herausforderungen, die er sonst nirgendwo auf sich nehmen konnte.

„Nun“, meinte er schließlich und fasste seine Frau am Ellenbogen. „Es wird Zeit für uns.“

„Auf Wiedersehen!“ – „Schreiben Sie uns bald!“ – „Gott sei mit Ihnen!“ – „Alles Gute!“ drang es aus den Kehlen ihrer Freunde und Nachbarn. Winkend und lächelnd führte Friedrich seine Familie in Richtung Schiff. Ganz allmählich lichtete sich der Nebel und der Sonne gelang es, durch den Schleier zu brechen. Fast schien es, als ob ihre Strahlen nicht nur die Stille zerbrachen, sondern auch die Aufregung in ihnen allen weckte.

„Ich will als erster rein!“, rief Nikolaus immer wieder, während er auf der Stelle hüpfte, um zu sehen, wieviele Passagiere noch vor ihnen auf Einlass warteten. Es ging nur sehr langsam vorwärts und durch die vielen Schaulustigen, Verwandten und Freunde der Reisenden, die alle noch am Pier herumstanden, sich unterhielten und darauf warteten, dass der Dampfer ablegte, war eine Unterscheidung zwischen ihnen nicht möglich.

Luise seufzte. „Ich bin froh, wenn wir unsere Kabine haben und ich mich ein bisschen hinlegen kann!“

„Aber ich will ganz oben stehen und zuschauen, wenn wir ablegen!“, rief Nikolaus, erschrocken, das Spektakel des Auslaufens verpassen zu können.

„Ja, ja! Keine Sorge! “ Lächelnd legte Hubert ihm seine Hände auf die Schultern. „Das machen wir beide schon!“

„Ich will auch mit!“, rief Juliane laut, was ihr einen empörten Blick ihrer Mutter einbrachte.

„Wirst du dich wohl zusammenreißen? Es gehört sich nicht, in einer solchen Lautstärke herumzuschreien! Schon gar nicht, wenn es darum geht, sich mitten unter die Mannsbilder zu mischen!“

Ehrfürchtig senkte das junge Mädchen den Blick und starrte auf die Spitzen ihrer einfachen Lederriemenschuhe, die sie unter ihrem einzigen Sonntagskleid mit dem Unterrock trug. Sie verabscheute es, von ihrer Mutter belehrt und zurechtgewiesen zu werden, doch sie wagte nicht, ihr zu widersprechen, denn sie wusste, dass ihr Vater seiner Frau niemals in den Rücken fallen würde. Und wenn Luise der Überzeugung war, ihre Tochter verdiente eine ordentliche Strafe, dann erfolgte diese prompt und ohne lange Diskussionen, denn ihre Hand war schnell und schmerzhaft.

Es dauerte beinahe eine Stunde, ehe Friedrich ihre fünf Fahrkarten gegen ein Zahlenschild eintauschen konnte.

„Kabine 431“, erklärte der junge Matrose und hakte ihre Namen auf der Passagierliste ab. „Einmal die Treppe hinunter und dann nach links. Immer den Ausschilderungen folgen!“

„Gut, danke!“, erwiderte Friedrich und schob Luise vorwärts. Er drehte sich um, ob seine drei Kinder noch da waren und als er sie hinter sich herlaufen sah, beschleunigte er seinen Schritt etwas. Sie marschierten einen unglaublich langen Korridor entlang, bis sie an eine Treppe gelangten, die in der einen Richtung nach oben aufs Deck führte und in die andere nach unten, zum Zwischendeck, der dritten Klasse.

„Also schön, dann lasst uns nach unserer Kabine suchen“, sagte Friedrich, während er den Gang entlang weiter marschierte, in dem sich bereits unzählige Menschen aufhielten, einander beobachteten oder sich unterhielten. Kinder rannten auf und ab, beim aufgeregten, erwartungsvollen Spiel. Sie mussten sich vorbeizwängen, um Platz bitten und über Koffer und Gepäckstücke steigen.

„Hier ist es!“ Hubert entdeckte die Tür als Erster.

„Ah!“, machte sein Vater und drückte die Klinke der unverschlossenen Tür.

Der Raum war kurz und schmal. Es gab als einzige Einrichtungsgegenstände jeweils zwei Doppelbetten an den beiden Wänden.

„Was bin ich froh, dass wir zumindest unter uns sind!“, stieß Luise erleichtert hervor. „Wenn ich mir vorstelle, wir hätten in einem der größeren Kabinen einen Platz bekommen, mit zig fremden Menschen...“ Sie brachte den Satz mit einem abgeneigten Kopfschütteln zu Ende und deutete dafür auf die beiden Betten. „Die Kinder sollen oben schlafen, sie sind noch jung und kommen da leichter hinauf als wir beide. Was meinst du, Friedrich?“

„Du hast völlig recht!“, stimmte ihr Mann zu und befahl Nikolaus mit einer Handbewegung, die Türe zu schließen. Der Lärm und das Stimmengewirr wurden leiser.

„Schade, dass wir kein Fenster haben“, meinte Juliane und zog sich ihre Strickweste aus, um sie auf das rechte obere Bett zu werfen.

„Bullauge“, verbesserte Hubert sie grinsend. „Bullauge nennt sich das auf einem Schiff.“

„Von mir aus! Aber sowas haben wir ja auch nicht!“ Sie schaute sich um. In dieser winzigen Kammer würden sie die nächsten Tage also verbringen, bis sie hoffentlich in New York einlaufen würden.

„Juliane!“, sagte Luise streng und deutete auf die Weste. „Leg’ das ordentlich zusammen, wie ich es dich gelehrt habe! Danach kannst du die Jacken deines Vaters und deiner Brüder dort an die Haken an der Türe hängen und meinen Umhang ebenfalls.“

Eine Sekunde lang wollte das junge Mädchen aufbrausen und protestieren. Sie hasste es, für ihre Mutter die Hausarbeiten erledigen zu müssen, doch ihr Anstand und ihre strenge Erziehung verboten es ihr, sich zur Wehr zu setzen – noch, denn sie fühlte, dass der Tag nicht mehr weit sein würde, an dem sie ohne schlechtes Gewissen „Nein“ sagen konnte und ganz allein das tun, was sie für gut und richtig hielt. Im Augenblick jedoch blieb ihr nichts anderes übrig, als sich zu beugen und den Befehlen Folge zu leisten. Vielleicht war dieses Land, in das sie nun reisten ja wirklich viel freier und sie nicht mehr alles so streng geregelt wie hier.

„Hubert und Nikolaus können gemeinsam in einem Bett schlafen! Sie sind beide dünn genug, um Platz zu haben“, erklärte Friedrich jetzt, während er seinen Hut und das Cape ablegte und beides seiner Tochter reichte. Darunter trug er eine einfache Leinenhose und ein helles Hemd. Luise setzte sich auf das rechte untere Bett, über dem Juliane schlafen sollte.

„Es erscheint mir ganz unwirklich, dass wir jetzt auf diesem Schiff sind. Geht es dir nicht ähnlich?“, fragte sie und lächelte zufrieden, was ihre harten, energischen Züge ungewöhnlich weich werden ließen.

Friedrich nickte. „Das ist nur möglich, weil wir für alles, was wir nicht mitnehmen konnten, einen Käufer gefunden haben.“ Er lächelte zufrieden. „Das ist ein Zeichen Gottes, ganz gewiss! Er will, dass ich in dieses Land gehe und den Menschen dort seine Lehre und Weisheit erzähle!“

„Natürlich ist es das!“, stimmte Luise ihm eilig zu. „Du wirst eine eigene Gemeinde bekommen, mit eigener Kirche und vielen, vielen Gläubigern, die zu deinen Gottesdiensten kommen und deine Predigten hören werden!“

„Gewiss!“ Friedrich lächelte stolz in sich hinein, die Vorstellung gefiel ihm. „Wir werden Teil eines neuen Volkes sein, einer neuen Lebenseinstellung und zu den Pionieren eines neuen Staates gehören!“ Er konnte seine Euphorie über diese Tatsachen kaum verbergen. Theatralisch begann er, in der kurzen Kabine auf- und abzulaufen. „Der protestantische Glaube wird zur größten und mächtigsten Kirche aufsteigen und wir werden Frieden und Toleranz unter die Wilden bringen!“

„Und Bildungsmöglichkeiten für Frauen könntest du auch vorantreiben“, warf Juliane trocken ein und schaute ihrem Vater fest in die Augen. „Das ist ebenfalls etwas, was revolutioniert werden muss!“

Ruckartig hielt Friedrich in seiner Bewegung inne. Er starrte seine Tochter zuerst fassungslos an. Je länger er jedoch Zeit hatte, über ihre Äußerung nachzudenken, desto wütender wurde er.

„Wozu habe ich dich eine religiöse Erziehung genießen lassen? Wie kannst du es wagen, mir – deinem Vater – gegenüber solche Ungepflogenheiten von dir zu geben?!“

„Das habe ich in einer von Huberts Zeitschriften gelesen!“, verteidigte Juliane sich und wollte noch hinzufügen, dass sie hoffte, baldmöglichst wieder einen Schulunterricht genießen zu können. Doch der schmerzhafte Schlag der Ohrfeige, die sie rechts und links im Gesicht traf, ließ sie verstummen. Sie kannte das bereits. Es war nicht das erste Mal, dass sie für eine freche, unbedachte Äußerung gezüchtigt und bestraft wurde. Meistens allerdings hatte ihr Vater sie für einen Tag in den Kohlenkeller, zu den Ratten und Mäusen gesperrt. Hier, auf dem Dampfer gab es diese Möglichkeit nicht und so griff er zu einer anderen erzieherischen Maßnahme, die seine Tochter in ihre Grenzen weisen sollte. Zornig starrte Friedrich auf sie hinab. Sie war genauso klein wie ihre Mutter und reichte ihm gerade bis ans Schlüsselbein.

Fassungslos blickten die großen, bernsteinfarbenen Augen ihn an. Tränen sammelten sich für eine Sekunde darin, doch das Mädchen zwang sie energisch zurück. Auf keinen Fall wollte sie sich den Schmerz anmerken lassen, der auf ihren Wangen brannte.

„Aber, aber!“ Erschrocken war Luise aufgesprungen und stellte sich zwischen ihren Mann und das junge Mädchen. „Wir haben noch nicht einmal abgelegt! Wollt ihr euch nicht ein bisschen zusammennehmen?“ Sie fixierte ihre Tochter lange. „Und du könntest endlich einmal begreifen, dass sich ein anständiges Mädchen nicht so benimmt! Wann geht das in deinen Dickschädel?“

Juliane senkte den Kopf und schwieg. Sie wusste, dass ihr Mund wieder einmal schneller gehandelt hatte als ihr Verstand, aber es änderte nichts an ihrer heimlichen Meinung, an ihren Ansichten und ihrem Willen, diese eines Tages durchzusetzen.

„Ich möchte so gerne hier bleiben, bei meinen Freunden.“ Ihre Stimme war kaum ein Flüstern und sie hatte große Mühe, nicht laut aufzuschluchzen. „Ich bin doch hier zu Hause!“

„Ach, Kind!“ Erschüttert legte Friedrich seine Hände auf ihre Schultern. Er verabscheute es, wenn er eines seiner Kinder schlagen musste. „Ich weiß, dass es schwer ist für dich. Es wird für keinen von uns einfach sein. Wir müssen viel lernen, eine fremde Sprache zum Beispiel, und wir werden mit sehr vielen verschiedenen Kulturen und Völkern zusammentreffen. All das wird zu Konflikten und Schwierigkeiten führen, da mache ich niemandem von uns eine falsche Hoffnung.“ Der Blick aus seinen braunen Augen glitt über Hubert, Nikolaus und Luise hinweg. Er lächelte kurz. „Aber es ist doch auch eine Herausforderung, ein Stück Veränderung auf unserem Weg und vielleicht ein Ort, an dem wir unsere wahre Aufgabe finden.“

„Vielleicht“, murmelte Juliane und biss sich auf die Lippen. Es war schwer für sie gewesen mitanzusehen, wie die neuen Besitzer ihre schönen Möbel, das Porzellanservice und das Klavier abgeholt hatten. Sogar einen Teil ihrer Kleider und ihre geliebte Spieluhr in der Dose hatte sie zurücklassen müssen, weil sich dafür in dem wenigen Gepäck, das zugelassen war, kein Platz gefunden hatte. Sie hatte es einem Nachbarmädchen geschenkt, das sich sehr darüber gefreut hatte, aber das war nur ein geringer Trost für den Verlust geliebter Dinge.

Friedrich tätschelte ihr die Wangen, die sich durch die beiden Schläge rot verfärbt hatten. „Ist schon gut, mein Kind. Du hast deine Gründe, so zu denken...auch, wenn ich sie nicht verstehen kann.“

Juliane nickte tapfer und sie war froh, Hubert hinter sich zu spüren, der ihr mit einem sanften Stoß mit seinem Zeigefinger in den Rücken zu verstehen gab, dass nichts Schlimmes passiert war und sie sich keine Sorgen zu machen brauchte.

Friedrich zog seine Taschenuhr hervor und schaute darauf. „Oh!“, entfuhr es ihm. „Wir sollten uns langsam aufs Deck begeben, wenn wir Bremerhaven noch einmal ‚Auf Wiedersehen‘ sagen wollen!“

Oben, unter den beiden Schornsteinen, an der Reling, hatten sich bereits Menschentrauben versammelt. Die Sonne strahlte inzwischen vom Himmel und wärmte die Gesichter der Passagiere und derjenigen, die am Pier zurückblieben. Die „Elbe“ stieß zwei langgezogene, ohrenbetäubende Pfiffe aus – es war das Zeichen zur Abfahrt.

„Kommt hierher!“ Eifrig deutete Hubert auf seinen Platz zwischen einigen jungen Männern, den er sich erobert hatte. Er schob Nikolaus vor sich, sodass der Junge über die Eisenstangen blicken konnte, hinab auf die Anlegestelle, wo unzählige Arme winkten und Taschentücher sich im Wind schwenkten. Es war ein berauschender Anblick. Die Holzprielen wurden eingezogen und die Türen mit einem lauten Schlag verschlossen. Ein paar Matrosen liefen umher und lösten die Taue, die in bedachter Ruhe eingeholt wurden. Im nächsten Augenblick ging ein Rumpeln und eine Erschütterung durch den Schiffskörper. Schwarzer, dicker Rauch stieg aus den beiden Schornsteinen empor. Langsam, sehr langsam legte die „Elbe“ vom Landungssteg ab. Es zischte und rauchte und dampfte und sie glitt durch das Wasser, der Nordsee und dem Ozean entgegen. Die Menschen, die am Pier zurückgeblieben waren, wurden kleiner und kleiner, ebenso wie die Häuser der Stadt Bremerhaven immer winziger wurden und das Spielen der Kapelle leiser – „Muss i denn, muss i denn zum Städtele hinaus...“

„Jetzt ist es endgültig“, sagte Hubert leise, sodass nur Nikolaus und Juliane es verstehen konnten, die dicht zusammengedrängt neben ihm standen. „Jetzt sind wir für immer fort von unserer Heimat und dem Ort, wo wir geboren worden sind.“

„Denkst du wirklich, es ist für immer?“, fragte das junge Mädchen leise und schluckte. Ihr Herz fühlte sich bleiern an und sie glaubte, jeden Moment die Beherrschung zu verlieren. Sie hatten aufgehört, Deutsche zu sein. Bald würden sie zu Amerikanern werden und eine andere Nationalhymne singen. Sie würden eine andere Sprache sprechen und in einem fremden Land leben, das Glück, Erfolg und Reichtum versprach. Doch ganz gleich, wie es dort sein würde – es war nicht ihr Zuhause. Es war die Fremde, die sie ängstigte und die Gewissheit, all ihre Freunde und Nachbarn heute zum letzten Mal in ihrem ganzen Leben gesehen zu haben, die sie traurig stimmte. Die Endgültigkeit war nur schwer für sie zu fassen.

„Ja“, sagte Hubert ehrlich und starrte hinüber, zu den Häusern, die sich zu kleinen Punkten verwandelten. „Wer einmal nach Amerika ausgewandert ist, kommt nicht mehr zurück.“

Juliane schaute ihn an. „Glaubst du, wir werden es schaffen?“, wollte sie wissen und flehte, er würde sie nicht belügen. Sie wollte die Wahrheit wissen, ganz gleich, wie diese aussah.

Einen Moment biss ihr älterer Bruder sich auf die Lippen und schwieg. Er wollte sie nicht beunruhigen, aber sie hatte ein Recht darauf zu wissen, was sie erwartete.

„Nun...“ Er seufzte. „Von allem, was ich so gehört habe, ist es oft schwierig und gefährlich. Die Indianer wollen sich ihr Land nicht wegnehmen lassen und es kommt immer wieder zu Auseinandersetzungen. Nicht überall gilt bereits Gesetz und Ordnung und es gibt viele Banditen. Dieses Land ist noch nicht bezwungen und wir werden ein Teil der Geschichte werden. Vielleicht werden wir miterleben wie es ruhiger und sicherer wird, wir werden selber Geschichte schreiben.“

„Ein Teil der Geschichte“, wiederholte Juliane nachdenklich und starrte hinunter auf das dunkle, wellenschlagende Wasser. „Und welchen Preis müssen wir dafür bezahlen, Hubert? Für welchen Preis werden wir zu den Pionieren gehören? Ich habe so viel Schreckliches gelesen...“

Er wandte den Kopf und schaute sie an, verblüfft über ihren scharfen Blick für die Wirklichkeit. Er wusste darauf nichts zu erwidern, außer ihr stumm rechtzugeben. Niemand konnte ihnen sagen, wohin diese Auswanderung führen würde und er verdrängte jede Vorstellung an Schlechtes, so gut er konnte. Er freute sich auf dieses Land, auf all die Menschen unterschiedlichster Rassen, er wollte sich freuen und anstatt der Gefahren nur die Möglichkeiten sehen. In seinem Kopf entstand bereits das Bild seines eigenen Häuschens, irgendwo auf einem riesigen Stück Land, das er dann selbst bewirtschaften konnte und auf dem er Schafe züchten wollte.

Die ersten Tage auf See verliefen ohne Störungen oder Abwechslung verschaffende Zwischenfälle, zumindest abgesehen davon, dass Juliane, Hubert und Luise die ersten drei Tage unter entsetzlicher Seekrankheit litten. Danach jedoch hatten sie sich an den Wellengang gewöhnt und jeder bemühte sich, die beginnende Langeweile und den öden Anblick des immer gleichen Meeres auf irgendeine Weise zu bekämpfen und sich anderweitig zu beschäftigen. Friedrich lernte zusammen mit Luise und seinen drei Kindern jeden Tag mehrere Stunden englische Grammatik und Vokabeln. Er wollte, dass sie der Sprache halbwegs mächtig wären, wenn sie in New York einliefen. In der wenigen Zeit dazwischen ging er meistens spazieren und weil alle Passagiere ihn mit seiner langen, schwarzen Kutte sofort als Geistlichen erkannten, kam er von diesen Erkundungsgängen oft lange nicht zurück. Die Menschen vertrauten ihm ihre Probleme und Sorgen an, baten ihn um Rat oder Unterstützung und er fühlte sich ihnen verpflichtet.

Es war der sechste Tag, nachdem sie Bremerhaven hinter sich gelassen hatten. Hubert und Juliane strichen auf dem Deck umher, wo ein kalter Nordwind pfiff und ihnen den Aufenthalt bald verleidete. Nikolaus spielte mit ein paar anderen Kindern und einem Ball aus zusammengeknüpften Stoffresten. Keinem von ihnen schien kalt zu sein.

Juliane beobachtete ihren kleinen Bruder inmitten der anderen Kinder, die aus ganz Deutschland stammten und alle mit ihren Eltern nach Bremerhaven gereist waren, um von dort aus die „Elbe“ zu besteigen.

„Er ist viel kleiner als die anderen“, stellte sie auf einmal fest, während sie sich an die Reling lehnte. Hubert folgte ihrem Blick und nickte kurz.

„Stimmt“, gab er zu und betrachtete den schmächtigen Jungen mit demselben braunen Haar wie das seine. „Das wird vermutlich mit der Lungenentzündung zusammenhängen, die er als Kleinkind hatte.“

„Wahrscheinlich“, nickte Juliane nachdenklich. Sie und ihre beiden Brüder waren die einzig Überlebenden der sieben Kinder, die ihre Mutter geboren hatte. Alle anderen lagen auf dem Friedhof ihrer Kirche beerdigt, gerade einmal mehrere Wochen oder Monate alt geworden.

„Was ist?“, fragte Hubert, während er das junge Mädchen eindringlich betrachtete. „Du schaust auf einmal entsetzlich verbittert aus! He, du bist ganze sechzehn!“ Er boxte sie aufmunternd in die Seite. „Du hast dein ganzes Leben noch vor dir und nur, weil wir jetzt auswandern...daraus lässt sich etwas machen!“

„Ja, schon...“ Juliane legte den Kopf schief, ohne ihre Augen von einem unbestimmten Punkt, irgendwo hoch oben am vorderen Schornstein, abzuwenden. „Ich musste nur gerade an die anderen denken.“

Die anderen...Hubert seufzte. Er kannte das bereits. Immer wieder kam sie auf ihre verstorbenen Geschwister zu sprechen und manchmal fragte er sich, inwiefern sie der Tod all dieser Kinder geprägt und vielleicht auch verändert hatte. Sie war als zweite nach ihm geboren worden. Die beiden Schwestern, die kurz hintereinander auf die Welt gekommen waren, hatten beide nicht überlebt, erst wieder Nikolaus. Und dann waren nach ihm noch einmal zwei Mädchen gewesen, die es ebenfalls nicht geschafft hatten.

„Das ist vorbei“, sagte Hubert ausweichend und verschränkte die Arme vor der Brust. Er sah noch heute seine Mutter dasitzen, gegrämt und voller Trauer. „Das ist eben so. Das ist das Leben.“

„Ich werde das nie verstehen“, erwiderte Juliane mit einer derartigen Emotion in der Stimme, die ihren großen Bruder erstaunt aufblicken ließ. „Da quält sich eine Frau mit dieser Geburt und dann? Wozu? Damit ihr Kind gar nicht groß werden darf?“

Hubert schluckte. Das war es also – sie empfand den Tod als eine Ungerechtigkeit, aber nicht etwa gegenüber den Kindern, nein, sondern gegenüber der Mutter, der diese Qualen auferlegt wurden.

„Schau, ich verstehe auch nicht recht, wieso das sein muss. Vielleicht gehört es einfach zum Leben dazu. Mach’ dir nicht so viele Gedanken.“

„Ich muss!“, widersprach Juliane ernst. „Schließlich werde ich auch eines Tages eine Frau sein, die Kinder zu Welt bringen soll und ich möchte nicht so viele von ihnen verlieren!“

Hubert lächelte sanft. Er ahnte, welch tiefes Gefühlsleben, unendlich viele Grübeleien hinter der rebellischen, selbstbewussten Fassade seiner kleinen Schwester steckten. Er ahnte auch, dass sie sich nicht in dieses Schicksal fügen wollte.

„Irgendwann wirst du heiraten und dir keine Gedanken mehr darüber machen, weil du mit lauter Hausarbeit gar nicht mehr dazu kommst!“ Es sollte aufmunternd klingen, doch seine Schwester starrte ihn nur verständnislos an.

„Ich weiß nicht, ob ich überhaupt jemals heiraten werde“, entgegnete sie bissig und es schien ihr vollster Ernst. „Ich habe schon zu viele junge Frauen gesehen, die bei der Geburt ihrer Kinder gestorben sind und die Vater dann beerdigen musste.“

Hubert senkte den Blick. „Auch das, ja...“ Er seufzte. „Aber du wirst sehen, dass dich das eines Tages nicht mehr stört, nämlich dann, wenn du dem Mann gegenüberstehst, den du liebst und...“

„Das glaube ich nicht!“, fiel Juliane ihm trotzig ins Wort und sie zog ihren Mantel enger. Der Wind wurde immer stürmischer und kühler.

Hubert schmunzelte. „Das kannst du nur behaupten, weil du noch nie verliebt gewesen bist!“

Verdutzt und neugierig zugleich schaute Juliane ihn an. „Aha! Sag bloß, du hast damit schon Erfahrungen gesammelt!“

Mit einem verschmitzten Grinsen zuckte ihr Bruder die Schultern. „Es gab da schon das ein oder andere Mädchen...“

„Hubert Kleinfeld!“ Entrüstet stemmte Juliane die Arme in ihre schmalen Hüften. „Das hätte ich nicht von dir gedacht!“

Er lachte leise auf. „Es ist das Natürlichste auf der Welt, Julchen!“

„Nenn mich nicht Julchen! Ich bin kein kleines Kind mehr!“

„Manchmal schon. Trotzdem ist es ganz natürlich!“ Er kniff ihr frech in die Wange. „Aber ich hab’ ja keine von ihnen geheiratet!“

„Das hätten Vater und Mutter dir auch nie verziehen“, warf das junge Mädchen ein. Sie wandte sich ab und stolzierte hocherhobenen Hauptes davon, um Nikolaus von den anderen Kindern fort, in ihre Kabine zu bringen. Sie fürchtete, er könnte sich sonst erkälten.

Hubert sah ihr nach. Sie war eine junge Dame geworden, seine kleine Schwester. Irgendwann, das wusste er, würde der Mann kommen, der ihr Denken und ihre Ansicht veränderte und dann würde es ihr ganz gleich sein, ob sie einmal oder zehnmal ein Kind austragen musste. Hubert schmunzelte in sich hinein. Sie kannte den Weg, auf dem ein Kind in den Körper einer Frau gelangte noch nicht, aber er, er kannte ihn – zumindest theoretisch – und er wusste, dass es in diesem Augenblick nicht zählte, was danach sein könnte.

Er stieß sich von der Reling ab. Dieses kleine Geheimnis musste er allerdings für sich behalten, er konnte sein Wissen nicht mit ihr teilen. Derartige Dinge wurden nicht besprochen, noch nicht einmal in den Mund genommen und wenn, dann nur hinter vorgehaltener Hand. In den Augen seines Vaters, dessen war Hubert sich bewusst, war er der anständige, guterzogene Sohn, der eines Tages in die Fußstapfen seines Vaters treten würde. Bisher hatte Hubert sich nicht dagegen gewehrt – er wusste seit Kindesbeinen an nichts anderes und dennoch...irgendetwas zog ihn weiter. Irgendetwas ließ ihn nicht zur Ruhe kommen und er fragte sich oft, was das sein konnte und ob er den Grund dafür eines Tages finden würde. Es war seine Bestimmung, ebenfalls Pastor zu werden und daran gab es nichts auszusetzen. Es war ein guter Beruf, mit dem er anderen Menschen helfen konnte, wenn auch nicht so, wie er es manchmal gerne getan hätte.

Am selben Abend gerieten sie in einen wüsten, furchterregenden Sturm. Tosende Wellen schlugen draußen an die Schiffsplanken und brachen sich an Deck.

„Ich habe Angst“, flüsterte Nikolaus und drückte sich fester an seinen großen Bruder. Beschützend legte Hubert ihm den Arm um die Schultern.

„Musst du nicht“, versicherte er. „Das ist immer so, wenn über dem Meer ein Sturm losbricht. Das ist immer schlimmer wie auf dem Festland, aber das macht dem Schiff nichts aus, überhaupt nicht! Das ist für solche Überfahrten gebaut!“

Er wusste, dass das geschwindelt war und in seinem Inneren zitterte er genauso, wie der schmächtige, zarte Junge der sich fest und voller Vertrauen an ihn presste. In seiner Sorge tat Hubert das, was er gelernt hatte zu tun: Er faltete die Hände und betete lautlos, nur für sich. Er betete, dass sie das restliche Stück Weg heil überstehen würden, dass es bald vorüber wäre mit diesem entsetzlichen Geschaukel und dass niemandem an Bord etwas zustieß. Er war noch mitten in sein Gebet vertieft, als plötzlich die Türe aufgerissen wurde und helles Licht von draußen, vom Korridor hereinfiel.

„Pastor?“, rief eine aufgeregte Frauenstimme. „Pastor, kommen Sie schnell!“

Ruckartig setzte Friedrich sich auf. Alarmiert warf er seine Bettdecke zurück und griff im Aufstehen bereits nach seiner bodenlangen, schwarzen Kutte, die immer griffbereit in seiner Nähe lag und jetzt am oberen Bett hing.

„Was ist passiert?“

„Ein junger Matrose ist die Treppe hinuntergefallen! Kein Wunder, bei diesem Tanz, den der Sturm mit uns vollführt!“

„Ich komme!“ Friedrich schlüpfte in seine Schuhe und befahl: „Los, Hubert! Steh auf!“

Sein achtzehnjähriger Sohn seufzte innerlich, doch ihm blieb keine Wahl und so zog er seinen Arm unter Nikolaus hervor.

„Ich komme so schnell wie möglich zurück“, versprach er und schwang sich vom oberen Bett hinunter. Auf eigenartige Weise fühlte er sich unwohl bei der Vorstellung, jetzt dort hinaus zu müssen, zwischen all die aufgeregten und verängstigten Menschen, um irgendwo nach einem verletzten Matrosen zu sehen. Womöglich war er sogar schon tot, wenn die Frau seinen Vater holte.

Im Halbdunkeln fingerte er nach seiner Weste und den Schuhen. Sie behielten ihre Kleidung auch nachts an, für den Fall, dass sie schnell von Bord mussten. Im Schein des flackernden Lichts, das durch die offene Tür fiel, konnte er seinen Vater mit der fremden, älteren Frau zusammenstehen sehen. Er hörte jedes ihrer Worte. Sie sprach auf Deutsch mit einem weichen, württembergischen Akzent.

„Haben Sie schon einen Arzt geholt?“, fragte Friedrich jetzt und Hubert schien es, als sei er sich auch noch nicht ganz schlüssig, wie er sich in dieser Lage verhalten sollte.

„Mein Mann ist auf der Suche nach einem“, versicherte die Frau aufgeregt und fuchelte mit dem Arm. „Aber dazu müssen wir ja erstmal bis ganz rauf, zur ersten Klasse, wo die Seeleute alle schlafen.“

Hubert verkniff sich den Kommentar, dass die Wegbeschreibung der guten Frau alles andere als stimmte: Die erste Klasse und die Mannschaftsunterkünfte lagen weit voneinander entfernt und die meisten Seeleute hausten nicht besser, als sie es hier taten, im Gegenteil, doch er schwieg. Hätte er nicht zufällig einen Blick auf die Pläne geworfen, die in jedem Gang für Notfälle und zur Orientierung aushingen, hätte er dies vermutlich auch nicht gewusst. Für die Frau, die jetzt eilig vor ihm und seinem Vater herlief, war der Schiffsarzt ganz einfach „irgendwo da oben“ untergebracht.

Sie bogen in einen Seitenkorridor ab, wo vor einigen Türen ein Menschenauflauf herrschte. Sie alle wollten wissen, was geschehen war und fragten neugierig Friedrich, den sie im Vorbeilaufen als Geistlichen erkannten, doch dieser winkte nur beruhigend ab.

„Geht wieder schlafen, Leute! Es ist bloß jemand ausgerutscht, bei einem der Hüpfer, den unser Schiff gemacht hat! Kein Grund zur Aufregung!“

Hubert hörte ihn reden und rufen und fragte sich, weshalb er seinem Vater eigentlich wie ein Handlanger, mit zwei Schritten Abstand, folgte. Eigentlich war er hier doch völlig überflüssig! Weder er, noch Friedrich verstanden sonderlich viel von Medizin, also konnten sie sowieso nichts ausrichten, ehe nicht...nein. Hubert musste sich korrigieren. Falls dieser junge Matrose keinen Arzt mehr benötigte, dann allerdings war sein Vater der Richtige. Einige Meter vor ihnen hatte sich eine große Menschentraube gebildet.

„Geht weg!“, rief die Frau mit lauter, schriller Stimme und zerrte an ein paar Hemden und Ärmen. „Ich habe den Pfarrer dabei!“

Tatsächlich machten die Neugierigen Platz und ließen Friedrich und Hubert an den Treppenabsatz treten. Dort, zusammengesunken und ohne Bewusstsein, lehnte ein junger Mann, höchstens zwanzig.

Hubert schluckte. Überall auf den weiß gestrichenen Stufen und der Wand klebte Blut. Jemand musste den Matrosen halb auf die ersten beiden Stufen gelegt und seinen Kopf mit einer Jacke gestützt haben.

„Gütiger Himmel!“, entfuhr es Friedrich leise und er ging neben dem Verletzten in die Knie.

Huberts Blick glitt die Treppe hinauf und dann zurück zu dem jungen Mann. Aus einer langen, hässlichen Stirnwunde tropfte unaufhörlich Blut und sein linker Arm wölbte sich seltsam verrenkt nach oben. Der Blutspur nach zu urteilen, musste er vornüber hinuntergefallen und mit dem Kopf gegen die gusseiserne Haltestange geschlagen sein. Hubert atmete tief durch, während er das hellrote Blut dabei beobachtete, wie es aus der Wunde, über das geschlossene rechte Augenlid hinab und über die Wange rann, um von dort auf die blaue Uniform zu tropfen.

„Achtung! Lassen’s mich durch! Ich bin Arzt! Hören’s denn nicht? Lassen’s mich doch durch!“

Hubert drehte sich zu der energischen Stimme um und stellte erstaunt fest, dass sich ein kleiner Mann von vielleicht Ende zwanzig durch die Menge schob. Sein strohblondes Haar war zerzaust, als sei er eben aufgestanden und er sprach mit deutlich österreichischem Akzent.

„Ah, geh!“, schimpfte er jetzt und schob eine Frau beiseite. „Immer diese unnützen Gaffer!“ Er nahm kaum Notiz von Hubert oder Friedrich, sondern griff sofort nach dem Handgelenk des Patienten. „Hmm“, machte er schließlich. „Stabil und gleichmäßig.“ Er nickte Friedrich zu. „Schaut nicht so aus, als bekämen’s heute noch was zu tun, Herr Pastor!“

Friedrich lächelte amüsiert. „Das will ich auch hoffen! Das sollte eine schöne Überfahrt für mich werden!“

„Das kann man sich nie aussuchen“, entgegnete der schlanke, kleine Österreicher und tupfte mit seinem Taschentuch behutsam das Blut rund um die Stirnwunde fort. „Ah, ich glaube, das wird wieder.“

„Er wird es schaffen?“, fragte Hubert und spürte, wie das Herz ihm bis zum Halse schlug. Es war das erste Mal, dass er einem Arzt bei der Arbeit zusah.

„Sicher!“, wurde er beruhigt und eine Hand forderte ihn auf, mit anzupacken. „Wir bringen ihn trotzdem auf die Krankenstation. Da kann er sich auskurieren.“

Er fasste den jungen Matrosen unter den Achseln und Hubert packte seine Knöchel. „Kommen Sie, wir werden den Weg schon finden!“

Hubert nickte und spürte, wie sein Vater ihm auf die Schulter tätschelte. „Gut so, mein Junge!“ Er lächelte und beobachtete, wie sein ältester Sohn mit dem jungen Arzt verschwand.

„Ich bin übrigens Burkhard Retzner“, sagte der Österreicher mit seinem unverkennbaren Akzent, während er sich oben, an der Treppe, für den linken Korridor entschied. „Doktor Burkhard Retzner“, fügte er mit Nachdruck hinzu.

„Angenehm“, stieß Hubert ein wenig außer Atem hervor, ehe er ihm seinen Namen nannte. Der Matrose wurde allmählich ganz schön schwer.

„Ah, ein Nordlicht!“, erkannte Doktor Retzner und schmunzelte. „Auch auf dem Weg ins große Abenteuer und das gelobte Land, was?“

„Nun...“, begann Hubert zögernd, kam jedoch nicht weit.

„Machen wir uns keine falschen Illusionen!“ Doktor Retzner stieg die nächste Treppe hinauf. „Da wartet mehr Arbeit auf uns, als mir lieb ist! Da gibt’s ja noch gar nichts! Nicht einmal eine vernünftige Organisation!“

„Nun ja...“, wollte Hubert erwidern, doch er wurde erneut von dem geschwätzigen Arzt unterbrochen: „Ich weiß noch gar nicht, wie ich mich mit meinen Patienten verständigen soll! Man muss ja schon fast alle Sprachen dieser Welt beherrschen, wenn man sich irgendwie durchwursteln will, nicht wahr?“

„Hmm, ja.“ Mehr fiel Hubert dazu nicht ein und er wollte auch nicht riskieren, ein weiteres Mal nicht zu Wort zu kommen. Außerdem ging ihm sowieso allmählich die Puste aus. Sie brachten den jungen Matrosen zum Schiffsarzt, auf dessen Station, und als dieser versicherte, es bestehe keine Lebensgefahr, verabschiedeten sie sich wieder.

Müde und erschöpft und doch gleichzeitig aufgewühlt ging Hubert in ihre Kabine zurück. Er schloss die Türe leise hinter sich und stellte fest, dass der Rest seiner Familie mittlerweile ruhig schlief. Er zog die Schuhe aus, ehe er lautlos auf das obere Bett kletterte. Obwohl er sehr behutsam vorging, wachte Nikolaus auf und rieb sich die Augen.

„Du bist wieder da?“

„Psst!“, zischte Hubert und legte ihm die Hand auf den Mund. „Du weckst ja alle auf!“

„Aber“, wisperte sein kleiner Bruder, „ich will doch wissen, was passiert ist!“

„Nichts!“, flüsterte Hubert ungeduldig. „Nur ein Matrose, der die Treppe hinuntergefallen ist und jetzt vom Arzt versorgt wird.“

„Ach so“, erwiderte Nikolaus und gähnte. „Dann kann ich ja jetzt schlafen.“

„Mach’ das und sei still!“ Hubert zog die Bettdecke über sie beide und horchte auf die Atemzüge der anderen: Von Juliane und Luise war nichts zu hören, nur Friedrich schnarchte leise und bedächtig vor sich hin. Hubert starrte an die Decke, die er in der Dunkelheit nicht erkennen konnte. Das Erlebnis hatte ihn auf eigenartige Weise bewegt. Wie gerne hätte er nicht bloß dumm dagestanden und zugeschaut, wie dem jungen Mann das Blut über das Gesicht lief. Wie gern hätte er geholfen!

Ein Leben zu retten, dachte er, ist vielleicht die sinnvollste und gleichzeitig schwierigste Aufgabe, die wir übernehmen können, aber ist sie nicht auch die befriedigendste?

Wind über der Prärie

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