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Der Treck

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Die ersten dreizehn Tage regnete es beinahe ohne Unterlass und zwischendurch fiel in höheren Lagen sogar Schnee, wobei ein eisiger Wind blies, je näher sie den Rocky Mountains kamen. Wie weit sie auch vorwärtsdrangen, die dunklen Wolken schienen sie zu verfolgen und nicht aufhören zu wollen, ihnen das Leben schwerzumachen. Endlich, am Abend des vierzehnten Tages, als sie in einem kleinen, grünen Tal ihr Lager aufschlugen, durch das ein schmaler Bach floss, der an einigen Stellen über die Ufer getreten war, hörte es auf und die Sonne kam zum Vorschein.

„Seien wir lieber froh, dass wir nicht eingeschneit worden sind“, kommentierte Hardy Retzner in seiner eigenen, trockenen Art und zog sich den feuchten Regenmantel aus. „Sauber sehen wir alle miteinander aus!“

Julie blickte an sich hinab und musste ihm stumm rechtgeben. Ihre Stiefel und ihr Reitrock waren mit Erdkrusten überzogen und verklebt. Bis zu den Oberschenkeln hinauf wies der Stoff eine bräunlich-schmutzige Verfärbung auf und es tat ihr leid um den geliebten Hosenrock, der nun ruiniert war, aber gut, solange sie sich auf dem Trail befanden, solange würde sie ihn auch noch anbehalten.

Lagerfeuer wurden angezündet, während sich die Wagen zu einem Kreis formierten. Die Zugtiere wurden abgespannt, getränkt und in die Mitte der Wagenburg getrieben und Wachen für die Nacht eingeteilt. Gleich darauf dufteten die ersten Mahlzeiten und Schüsse fielen, weil sich drei oder vier der jungen Männer aufgemacht hatten, frisches Fleisch zu besorgen.

„Hoffentlich treffen sie nicht versehentlich irgendeine Kuh, die einem Rancher gehört“, raunte Friedrich stirnrunzelnd und setzte sich an ihr Feuer, über dem Luise eine Suppe im Topf zum Kochen brachte. Dazu gab es trockenes Brot. Die Dämmerung brach schnell und unvorbereitet über dem Land herein, das noch unter dem Einfluss des langen Winters stand und dem Frühling nur allmählich gewährte, sich durchzusetzen.

„Meinst du, es gibt hier überhaupt Ranches?“, fragte Hugh, während er sich neben seinem Vater niederließ. Die Fahrt im Wagen und die Strapazen des Trecks hatten seiner Gesundheit nicht sonderlich gut getan. Er war blass und mager und fror sehr schnell. Mindestens alle vier Stunden kontrollierte Hardy Retzner seine Temperatur und den Puls, doch bisher war alles in Ordnung und der Österreicher hoffte inständig, dass es auch so bleiben würde, denn bei einer weiteren Erkältung oder gar einer nochmaligen Lungenentzündung gab er dem jungen Mann keine Überlebenschancen. Darüber sprach er selbstverständlich mit niemandem, aber das Wissen darüber belastete ihn.

Luise machte sich daran, die letzten Konservenbüchsen mit Bohnen und Karotten zu öffnen, die sie in St. Louis eingepackt hatten, um sie in die Brühe zu schütten.

„Bloß gut, dass wir bald in der nächsten Stadt sein müssten“, seufzte sie und holte den großen Topf hervor.

Friedrich schmunzelte. „Du wirst dich daran gewöhnen müssen, wieder ohne Konserven auszukommen! Bis Oregon liegt noch ein weiter Weg vor uns und...“

Er wurde durch ein lautes Klatschen unterbrochen. Im Schein der Lagerfeuer, die neben jedem der Wagen brannten, trat Charlie in die Mitte und hob die Hände zum Zeichen, dass er Aufmerksamkeit erwartete. Zum ersten Mal, seitdem sie ihn kannten, trug er nicht seinen breitkrempigen, schmutzigen Cowboyhut. Sein ungepflegtes Haar glänzte golden im Schein der flackernden Feuer und ließ ihn auf eigenartige Weise unnahbar und gleichzeitig geheimnisvoll aussehen. Er war überhaupt ein merkwürdiger Mensch.

„Was ist los?“, wollte Julie wissen. Sie hatte sich im Inneren des Wagens ihrer schmutzigen Kleidung entledigt, die sie nun zum Trocknen außen an die Holzverkleidung hängen wollte. Morgen wollte sie alles in dem kleinen Flüsschen auswaschen. Stattdessen trug sie jetzt einen langen Rock mit dazugehörigen Unterkleid und die unbequemen Schürschuhe.

„Ah, nichts weiter!“, erwiderte Hardy Retzner auf Deutsch und hob sie vom Wagen herab. Seine Hände legten sich um ihre schmale Taille und er hielt sie einen Moment länger fest als nötig. Eine kaum zügelbare Sehnsucht überkam ihn und er musste einen Schritt von ihr zurücktreten, um nicht die Beherrschung über sich zu verlieren. Sie hatte den Zopf gelöst, der ihr rotblondes Haar für gewöhnlich zusammenhielt und nun fiel es lang und glatt bis über ihre Schultern hinab. Er verspürte große Lust, seine Finger hindurchgleiten zu lassen, doch er glaubte zu wissen, dass er dadurch mehr zerstören als gewinnen konnte.

„Was will Mister Charlie?“, fragte Julie, ihren Blick nicht von dem Mann mittleren Alters abwendend.

Der österreichische Arzt grinste, ehe er sehr leise und auf Deutsch erwiderte: „Ich fürchte, er will uns mit einer Rede beglücken!“

Julie unterdrückte ein Kichern, doch ihre bernsteinfarbenen Augen glitzerten übermütig. Abwartend standen und saßen die Siedler vor und neben ihren Wägen, rund um die Lagerfeuer und wollten wissen, was ihr Führer ihnen mitzuteilen hatte.

Noch einmal hob Charlie den Arm, dann schallte seine tiefe, von dem amerikanischen Akzent stark geprägte Stimme, über die kleine Wiese: „Morgen Mittag werden wir die Town of Kansas erreichen! Macht euch keine Hoffnungen, wir werden uns dort nicht lange aufhalten! Ihr werdet gerade genug Zeit haben, um Lebensmittel zu kaufen oder was auch immer ihr sonst benötigt! Dann geht’s weiter!“

„Wie lange werden wir denn noch bis Oregon brauchen?“, rief jemand, von der Perfektion seines Englisch her vermutete Hardy, es könnte ein Brite sein. Seine grünen Augen betrachteten ihren – vom Äußeren einem Cowboy nicht unähnlichen – Treckführer eindringlich. Er spürte, dass das noch nicht alles gewesen war, was er ihnen zu sagen hatte.

„Oregon“, wiederholte Charlie gedehnt und bemühte sich, seine zu langen, struppigen Haare glattzustreichen, was ihm jedoch nicht gelang. „Oregon ist noch sehr weit fort! Wir müssen über die Rocky Mountains und durch Indianergebiet! Wir haben zwar immer wieder Forts und Städte auf unserem Weg, an denen wir Vorräte besorgen können, aber in Oregon wird sich dann jeder einen Platz für sich suchen müssen! Das wird nicht ganz leicht!“

„Wieso?“, rief jemand anderer. „Ich dachte, in Oregon gibt es noch fast keine Siedler!“

Charlie lachte leise und bellend auf. „Wo habt ihr das gelesen? In einer von euren Zeitungen in Europa?“ Er lachte noch einmal, diesmal lauter. „In Oregon gibt es längst Städte und jede Menge Farmen! Was glaubt ihr, wieviele tausend Leute wie ihr sich in den vergangenen Jahren dorthin auf den Weg gemacht haben und alle mit derselben Hoffnung! Glaubt ihr, die lassen sich das Land von euch einfach so besetzen?“

Ein lautes, protestierendes oder ungläubiges Murmeln ging durch die Menschen. Sie wollten nicht glauben, was sie hörten.

„Und was wollen Sie jetzt tun?“, rief eine aufgebrachte Frau. „Wo sollen wir dann hin?“

„Es gibt eine ganz einfache Lösung!“, schrie ihr Treckführer, beinahe triumphierend, zurück. Er schien genau auf diese Frage gewartet zu haben. „Dieses Land ist riesig! Es werden alle genug Platz finden! Wir werden die Town of Kansas morgen nicht in westlicher, sondern in südlicher Richtung verlassen! Dort unten gibt es noch jede Menge unbesiedeltes, unberührtes Land! Wir werden uns in Richtung Arkansas River aufmachen, bis zu einem Fort, das dort errichtet ist. Da können wir bleiben und...“

„Zum Arkansas River?“, wiederholte Hardy Retzner lauter als beabsichtigt. Alle Augen wandten sich ihm zu. Er hatte die Landkarte genau vor Augen und wusste, wovon Charlie sprach. „Das ist doch alles Indianergebiet!“

„Noch!“, entgegnete ihr Führer selbstbewusst. „Noch ist es das, aber nicht mehr lange! Die Regierung will so schnell wie möglich Verhandlungen mit den Indianern aufnehmen und das Gebiet für die Siedler nutzen.“

„Aber zum jetzigen Zeitpunkt ist es doch verboten, sich dort niederzulassen!“

Charlie kniff die Augen zusammen. „Willst du mir erklären, welche Gesetze in diesem Land gelten? Welche Rechte ein Siedler hat? Schon einmal etwas von einem Heimstättengesetz gehört?“

„Allerdings“, erwiderte der junge Österreicher erzürnt und bereit, sich mit ihrem Treckführer anzulegen. „Und es besagt nicht, dass es auch für Land gilt, das den Indianern überlassen wurde! Wir haben keinerlei Rechte uns...“

„Rechte!“, brüllte Charlie unkontrolliert und die Geduld verlierend. „Es gibt schon lange Farmer dort unten, ohne dass jemand groß Notiz davon genommen hat! Und jetzt stell dir vor, was passiert, wenn das Land irgendwann zur Besiedlung freigegeben wird und wir bereits dort sind? Weißt du, was das bedeutet?“

„Und wenn es nicht freigegeben wird?“, bohrte Hardy unbeeindruckt nach. „Was dann?“

„Es wird!“, schrie Charlie wütend, die Hände zu Fäusten ballend. „Dieses ganze Land wird eines Tages von euch Einwanderern besiedelt sein! Nichts davon wird mehr wild und unentdeckt sein und kein Indianer wird mehr auf irgendeinem Besitztum pochen, weil es keinen von ihnen mehr geben wird!“

„Wollen Sie mir etwa andeuten, dass wir uns das Land stehlen sollen? Obwohl es uns nicht zusteht?“ Auch Hardy Retzner brüllte jetzt. Es war ihm unbegreiflich, dass jemand auf solch absurde, gefährliche Ideen kam. „Die Indianer werden genauso wenig begeistert sein, wie die schon angesiedelten Farmer in Oregon, wenn wir uns einfach an ihrem Besitz bedienen! Sie wollen mir doch nicht etwa erzählen, dass die sich nicht dagegen zur Wehr setzen werden? Und was wird dann aus uns? Ein Haufen Leichen in der Prärie?“

„Red keinen Unsinn, du kleiner, dummer Europäer!“ Herausfordernd stemmte Charlie die Arme in die Hüften. „Wir werden nach Süden ziehen und zwar bis in die Nähe des Forts, wo sich der letzte Stützpfosten befindet! Dort könnt ihr eine Stadt errichten, oder was auch immer ihr wollt und dort seid ihr sicher! Und jetzt gibt es keine weiteren Diskussionen mehr oder ihr könnt euch morgen einen anderen Führer suchen...falls ihr so etwas in einer Stadt wie der Town of Kansas findet!“

Seine Drohung zeigte Wirkung – alle schwiegen und starrten Hardy Retzner vorwurfsvoll und abwartend an. Rüde packte Friedrich ihn am Arm.

„Was ist denn in Sie gefahren? Das ist doch eine einmalige Gelegenheit!“

„Das ist Raub!“, stieß der junge Arzt wütend hervor. „Nichts weiter! Wir machen uns auf Land breit, das uns nicht zusteht!“

„Aber wenn Mister Charlie sagt, dass die Regierung Verhandlungen mit den Indianern führt, dann ist es das in ein paar Wochen vielleicht schon! Und wenn dann alle dorthin rennen, sind wir bereits da und haben unser Parzellen abgesteckt!“

Fassungslos legte Hardy Retzner sich einen Moment die Hand vors Gesicht. „Pastor, begreifen Sie denn nicht? Unser werter Fährtensucher hat lediglich erklärt, dass die Verhandlung bald aufgenommen werden sollen! Das ist ein gewaltiger Unterschied! Was, wenn der Regierung etwas dazwischen kommt? Oder wenn sie eine bessere Idee hat oder es zu keiner Einigung kommt? Was dann?“

„Ach, nun malen Sie den Teufel doch nicht an die Wand!“, fuhr Friedrich ihn ungehalten an. „Ich hab’ mir dieses Heimstättengesetz unzählige male durchgelesen! Wir haben das Recht auf 160 Acres Land, das sind 64 Hektar! Jedenfalls ich, weil ich ein verheirateter Mann mit Familie bin, aber das will ich gar nicht! Ich möchte lediglich ein kleines Häuschen bauen und eine Kirche errichten, in der ich zu all diesen Menschen predigen kann und auch zu all denjenigen, die noch folgen werden!“

Kopfschüttelnd wandte Hardy Retzner sich ab. Wenn nicht einmal mehr ein Geistlicher, ein Pfarrer, sich seines Unrechts bewusst war, wie konnten das dann die anderen hier? Wie konnte er ihnen nur begreiflich machen, dass es falsch war, was sie taten, dass sie mit entscheidenden, wenn nicht gar lebensgefährlichen Konsequenzen zu rechnen hatten? Er umrundete den Wagen und lehnte sich auf der anderen Seite gegen das rauhe Holz, dort, wo der Schein des Feuers ihn nicht treffen konnte. Er fühlte sich entsetzlich hilflos und sehr erschöpft. Die Kälte der Nacht kroch in ihm hoch, doch er nahm sie kaum wahr.

„Glauben Sie wirklich an das, was Sie eben gesagt haben?“, fragte auf einmal Hugh neben ihm. Der junge Mann war ihm unbemerkt gefolgt, verunsichert und durcheinander.

Hardy schaute ihn nicht an. Ihm war nicht danach, jetzt mit irgendjemandem zu streiten, schon gar nicht mit Hugh.

„Ja, das meine ich, aber bitte...“

„Warum?“, unterbrach der junge Mann ihn. „Warum glauben Sie das?“

„Bei Doktor Stankovski hatte ich genug Gelegenheit entsprechende Artikel zu lesen und die dazugehörige Wahrheit aus dem Mund eines Mannes zu erfahren, der es wissen muss.“ Er hatte seine Stimme gesenkt und Hugh musste sich anstrengen, um ihn verstehen zu können. „Immer weiter werden die Indianer zurückgedrängt, immer weiter, bis es keinen Ort mehr für sie gibt. Dieses riesige, einzigartige Land hat einst ihnen gehört, ihnen ganz allein...bis wir kamen, wir Siedler und Eindringlinge, die es ihnen fortnehmen. Immer mehr davon, immer mehr, aber eines Tages werden sie zurückschlagen. Selbst, wenn wir immer noch mehr von ihnen töten und in Reservate pferchen – eines Tages werden sie zurückschlagen und für ihre Rechte kämpfen. Das ganze Land dieser Vereinigten Staaten gehört ihnen, nicht uns.“ Er seufzte und brach ab. „Was nützt es schon, wenn ich rede? Gar nichts. Die anderen werden auf Mister Charlie hören, weil er Erfahrung hat und dieses Land schon mehrmals ohne größere Zwischenfälle in alle möglichen Richtungen durchquert hat...ein verdammt zäher Bursche. Wer weiß? Vielleicht hat er auch schon vorher Siedlertrecks in den Süden geführt, in dieses Gebiet wo auch wir hin sollen, aber selbst wenn wir unbeschadet bis zu diesem Fort durchkommen, wer sagt, dass wir dort bleiben können? Wer sagt, dass uns die dort stationierten Soldaten nicht gleich wieder davonjagen, weil sie dort sind, um Leute wie uns davon abzuhalten, über das Land herzufallen? Vielleicht kommen wir auch gar nie erst an, weil die Indianer uns zuvor überfallen. Wer weiß das schon?“

Hugh schluckt. Im Stillen bewunderte er den jungen, strohblonden Arzt mit dem schmalen, eingefallenen Gesicht und dem energischen Auftreten. Er hatte ihn von ihrer ersten Begegnung an bewundert, als er den jungen Matrosen auf dem Schiff versorgt hatte. Schon an diesem Tag hatte Doktor Retzner etwas in ihm auszulösen vermocht, das er bis dahin nicht gekannt hatte. Es war wie eine Art unstillbarer Wunsch, ein Drängen, das ihn irgendwohin führen wollte und er konnte nicht genau sagen, wohin. Ein Wunsch, den er nicht beim Namen nennen konnte, noch nicht.

„Ich...gehe...das Abendessen ist fertig“, brachte Hugh zerstreut hervor, ehe er sich abwandte und eilig zum Feuer zurückging.

Die Town of Kansas war laut, schmutzig und seine Hauptstraße mit Saloons und Freudenhäusern gesäumt, die Luise die Schamesröte ins Gesicht trieben und Friedrich blankes Entsetzen verspüren ließen.

„Lasst uns für diese armen Sünder beten“, sagte er, als sie schließlich den General Store erreichten und faltete die Hände. „Mit der Bitte, dass ihr unchristliches Verhalten ihnen verziehen wird.“

Hugh schluckte, erwiderte nichts und kletterte eilig vom Kutschbock. Er wollte jetzt nicht beten und schon gar nicht für diese Mädchen und nicht für die Männer, die ihnen Geld dafür bezahlten, damit sie sich an ihnen vergehen durften, denn er war nicht besser, nicht einen Deut besser als sie. Sein Vater hätte auch ihn in sein Gebet einschließen müssen, in seine Bitte um die armen Sünder. Hugh war froh, dass er auf der anderen Seite des Wagens stand und Friedrich nicht mehr anschauen musste. Schnell einkaufen, einpacken und dann nichts wie weiter, dachte er. So schnell wie möglich fort von hier!

Je weiter ihr Weg sie Richtung Süden führte, desto sandiger und trockener schien der Boden zu werden. Immer mehr Felsen tauchten auf und viele kleine Wälder durchzogen das weite, hügelige Land. In einigen Tälern wuchs üppiges, grünes Gras, an dem sich die Tiere erfreuten und dann gab es Gebiete, in denen die Prärien braun und ausgetrocknet waren. Der Weg war schwierig für die Wagen und die Zugtiere. Sie mussten vorsichtig fahren und hin und wieder ging eine Achse zu Bruch, dann war der Trail für diesen Tag beendet. Charlie schimpfte und fluchte, wenn etwas derartiges vorfiel und einmal ließ er einen Wagen an Ort und Stelle zurück und nahm nur die beiden Pferde mit, um Zeit zu sparen.

„Ein eigenartiges Land ist das“, bemerkte Julie an einem Abend Ende Juni, als sie ihr Lager mitten in der Prärie, weit entfernt von den nächsten Wäldern und Felsen aufgeschlagen hatten. Die meisten Siedler hatten sich längst zur Ruhe begeben und eine angenehme, fast friedlich scheinende Ruhe lag über dem Platz. Die ersten beiden Wachen hatten begonnen, ihre Runden um die Wagen zu drehen, jeder ein Gewehr geschultert und einige der Lagerfeuer begannen langsam und knisternd herunterzubrennen.

„Fremd“, erwiderte Hardy Retzner leise und starrte in seinen leeren Zinnbecher. „Fremd und so unendlich weit. Der Himmel scheint hier nirgendwo aufzuhören, nicht einmal am Horizont.“

„Ja“, flüsterte Julie und starrte hinauf zu den Sternen. Ihr fröstelte, denn die Temperaturen fielen auch jetzt in der Nacht noch recht tief. „Ich möchte wissen, wann wir endlich dieses Flusstal erreichen, wo das Fort steht.“

„Ich weiß es nicht, Julie-Mädchen“, gab Hardy Retzner offen zu. Er stellte seine Tasse beiseite. „Lassen Sie uns schlafen gehen. Es ist spät und ich bin sicher, dass unser verehrter Führer morgen wieder eine lange, mörderische Strecke für uns aussucht.“

Julie blickte auf ihre Stiefel. „Wenn wir angekommen sind, brauche ich neue Sohlen.“

Der junge Österreicher schmunzelte. „Damit wird es nicht getan sein. Da brauchen Sie ganz neue Stiefel!“

Er wollte aufstehen und sich unter den Wagen zu Friedrich und Hugh legen, denn im Inneren schliefen die Frauen und Nikolaus. Er verabscheute den Platz auf der harten, feuchten Erde, doch es gab keine Alternative, weder für ihn, noch für Hugh oder Friedrich. Da vernahm er eilige Schritte, die sich ihnen näherten.

„Oh, da kommt Mr. Stromson!“, sagte Julie erstaunt.

Greetje und Torbjörn Stromson waren ein junges Ehepaar aus Norwegen, beide Anfang zwanzig und hochmotiviert, was ihre Zukunft anbetraf. Sie stammten aus ärmlichen Verhältnissen und wollten diesen entfliehen. So hatten sie sich ein wenig Geld gespart, um mit dem Schiff nach Amerika auswandern zu können. Julie kannte die beiden recht gut, denn sie hatten sich dem Treck schon in New York, zusammen mit ihnen angeschlossen und außerdem hatte Friedrich ihnen das Geld für die Rate an ihren Führer geliehen, weil sie es nicht hatten bezahlen können.

„Doktor?“, fragte der junge Mann mit den Sommersprossen und den sehr blonden Haaren.

„Was gibt es?“ Alarmiert sprang Hardy auf die Beine. Niemand fragte umsonst nach ihm.

„Könnten Sie vielleicht einmal nach meiner Frau sehen?“, raunte Torbjörn leise, um keinen der anderen zu wecken. „Sie hat starke Schmerzen und ich weiß auch nicht...“

„Ich komme!“, fiel Hardy ihm eilig ins Wort und trat an den Wagen, um lautlos seine Instrumententasche herauszuholen. „Wo ist sie?“

„Dort hinten! Ich zeige es Ihnen!“ Besorgt rannte der junge Ehemann ihnen voraus. Ganz von selbst schloss sich Julie ihnen an, denn sie war es gewohnt, dem Österreicher immer eine Hilfe zu sein. So oft hatte er sie in der Vergangenheit schon gebraucht und vielleicht musste sie ihm auch diesmal zur Hand gehen.

Geertje lag im Inneren ihres kleinen Planwagens und wand sich vor Schmerzen. Torbjörn schob den Leinenstoff beiseite und wollte hineinklettern, doch der Arzt hielt ihn zurück.

„Lassen Sie mich und Julie nach ihr sehen! Warten Sie hier!“

Der Gesichtsausdruck des jungen Mannes verriet, dass er der Aufforderung nur ungern nachkam, doch er wagte nicht, zu widersprechen und ließ Doktor Retzner und das Mädchen gewähren. Hastig kniete Hardy sich neben die junge, blonde Frau.

„Zünden Sie eine Lampe an“, bat er Julie, die nach einem kurzen Rundumblick nur eine einzige entdecken konnte. Ihr Schein verbreitete nur schwaches Licht, doch es reichte aus, um den Ernst der Lage erkennen zu lassen.

Vorsichtig legte Doktor Retzner der jungen Norwegerin seine Hand auf die schweißbedeckte Stirn. Danach tastete er ihren Bauch ab und seufzte.

„Haben Sie gewusst, dass Sie guter Hoffnung sind?“, fragte er sehr leise, sodass Torbjörn es draußen nicht verstehen konnte.

Geertje nickte heftig. Sie schluchzte leise auf. „Ich...ich glaube schon, aber ich war mir nicht sicher.“

„Sind Sie heute gestürzt? Oder haben Sie irgendwelche schweren Gegenstände hochgehoben?“, fragte Hardy leise, sie sehr genau beobachtend.

Wieder schluchzte die junge Frau auf, diesmal unbeherrschter. „Ich...bin...vom Wagen gefallen, vorhin, als...als wir hier angekommen sind, aber...es war nicht schlimm! Wirklich nicht!“

Hardy nickte. Ein schmerzlicher Ausdruck legte sich auf sein Gesicht. Er gab Julie einen Wink.

„Sie müssen ihr so viel Whiskey einflößen, wie Sie nur fertigbringen! Verstanden?“ Er sprach nun Deutsch mit ihr, um sicherzugehen, dass niemand sonst sie verstehen konnte. Er griff in seine Tasche und brachte eine Flasche zum Vorschein.

Julie nickte nervös. Sie wollte wissen, was mit Geertje los war und wagte doch nicht, danach zu fragen, denn schon beugte Doktor Retzner sich nach draußen und befahl Torbjörn mit leiser Stimme: „Nehmen Sie einen der Männer mit, die Wache stehen und holen Sie einen Topf mit frischem Wasser! Den stellen Sie auf eines der Feuer, bis es sprudelnd kocht! Ich brauche frisches, kochendes Wasser, klar?“

„Ja...ja...“, stammelte der bemitleidenswerte, ahnungslose Ehemann und rannte davon, in die dunkle Nacht hinaus.

„Und jetzt?“, wollte Julie wissen. Sie gab Geertje einen Zinnbecher nach dem anderen zu trinken. Die junge Frau schüttelte sich.

„Ist das eine eklige Medizin!“

„Mehr!“, sagte Doktor Retzner nur, während er bereits seinen Instrumentenkoffer öffnete. „Ich wünschte, ich hätte etwas Äther bei mir, aber daran habe ich nicht gedacht, muss ich zu meiner Schande gestehen. Ich bin mir sicher, Doktor Stankovski hätte mir welchen mitgegeben.“

Der Alkohol zeigte bereits nach wenigen Bechern seine Wirkung, denn Geertje trank sonst nie und sie sank in einen weggetretenen Dämmerzustand.

„Was fehlt ihr denn?“, fragte Julie schließlich, als sie sicher war, dass Geertje nicht mehr bewusst wahrnahm, was sie sprachen und drückte den Pfropfen zurück auf die Flasche.

„Sie wird das Kind verlieren“, erwiderte Hardy ernst und schob den Rock mitsamt den Unterröcken nach oben. „Wir müssen es holen.“

Julie schluckte. „Es...holen?“

Sie war nur zweimal bisher bei einer Geburt dabei gewesen. Das erste Mal bei der Frau des Bürgermeisters. Bei dieser war es so schnell gegangen, dass sie das Kind bereits auf dem Weg ins Schlafzimmer, auf der Treppe bekommen hatte und das zweite Mal bei einer Farmersfrau. Auch bei ihr hatte es keine drei Stunden gedauert, ehe ihr zwölftes Kind das Licht der Welt erblickt hatte. Keine der beiden Frauen hatten geschwitzt oder sich vor Schmerzen gewunden wie Geertje hier und Julie fragte sich, was der Unterschied war, denn immerhin waren die beiden Säuglinge der anderen Frauen bereits voll ausgebildet gewesen und viel größer als Geertjes Kind im Augenblick noch sein musste. Unter ihren Röcken zeichnete sich nur ein winziges Bäuchlein ab.

Ein mulmiges Gefühl überkam Julie, denn sie spürte, dass dies hier etwas anderes, etwas Bedrohliches war. Sie beobachtete Hardy Retzner dabei, wie er Geertje an ihrer intimsten Stelle untersuchte, die sonst nur ihr Ehemann zu sehen bekam und sie fragte sich, wie Torbjörn wohl darauf reagieren würde, wenn er das sehen könnte.

Schließlich richtete Hardy Retzner sich auf. Er seufzte tief, als er die nächste Wehe durch den Körper der jungen Frau gehen sah und hörte, wie sie leise aufstöhnte.

„Vielleicht haben wir Glück und ihr Körper stößt den Fötus alleine aus. Wir müssen abwarten.“

Von draußen erklangen Schritte und er beeilte sich, den Topf mit heißem Wasser bereits draußen entgegenzunehmen, sodass Torbjörn nicht ins Innere sehen konnte.

„Was ist mit ihr, Doktor?“, hörte Julie ihn verzweifelt fragen. „Sie schafft es doch, nicht wahr?“

Sie merkte, wie Hardy einen Moment zögerte, ehe er antwortete: „Natürlich wird sie es schaffen! Aber bitte warten Sie draußen, ich rufe Sie dann, wenn wir soweit sind!“

Er stellte den Topf neben sich ab, aus dem das kochende Wasser dampfte und zog den Leinenstoff hinter sich zu, sodass von draußen nicht hereingesehen werden konnte. Dann krempelte er sich die Ärmel seines Hemds hoch.

„Machen Sie das auch!“, befahl er Julie, ehe er nach dem Whiskey griff, mit dem er seine Hände übergoss und die Flasche dann an Julie weiterreichte. „Wir müssen sehr sauber arbeiten, wenn wir sie retten wollen.“

Julie schluckte. Zum ersten Mal spürte sie die enorme Verantwortung, die auf den Schultern eines Arztes lastete und sie merkte, wie ihr Herz zu rasen begann. Ganz ruhig, sagte sie sich, es kann dir nichts passieren! Doch die Angst vor dem Unbekannten blieb.

Geertje stöhnte wieder auf und wand sich unter einer erneuten Wehe.

„Halten Sie sie fest! Sie macht es nur schlimmer“, sagte Hardy, während er aus seinem Instrumentenkoffer die unterschiedlichsten Geräte herausnahm und in das kochende Wasser legte.

Julie fasste die junge Frau, nur ein paar Jahre älter als sie selbst, an den Schultern und drückte sie zu Boden.

„Gut so.“ Hardy schob die Röcke über Geertjes Schenkel nach oben und schob ihre Beine auseinander. Julie schluckte, peinlich berührt. Sie fragte sich, ob es ihr wohl eines Tages auch so ergehen würde, wenn sie ein Kind erwartete und eine seltsame Reaktion der Abwehr gegen dieses Geschehen machte sich in ihr breit. Sie wusste, dass Geertje sich sehr schämen würde, wenn sie wüsste, dass ein fremder Mann – auch, wenn er Arzt war – sie dort untersuchte, wo niemand das Recht dazu hatte.

„Ich glaube, wir haben Glück“, sagte Hardy in Julies Gedanken hinein. Er atmete leise auf. „Da ist es.“

Julie brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, wovon der junge Österreicher sprach. Dann lag es vor ihr – winzig, mit einer eigenartigen Kopfform, doch eindeutig ein Mensch, mit noch unausgebildeten Armen und Beinen, der tote Fötus. Übelkeit stieg in ihr hoch und sie musste den Blick davon abwenden. Eilig wickelte Hardy es in ein Stück Stoff, der im Wagen lag, um sich dann zu dem Topf herumzudrehen, aus dem immer noch das Wasser dampfte und es unerträglich heiß werden ließ unter dem Leinenstoff des Wagens. Jedenfalls erschien es Julie so.

„Machen Sie jetzt bitte nicht schlapp!“, raunte Hardy leise, als er im Schein der Lampe ihr weißes Gesicht bemerkte. „Ich brauche Sie hier dringender als jemals zuvor!“

Julie nickte tapfer und zwang sich, ihren Blick auf Geertje zu richten, die bewusstlos vor ihr lag, die Augen geschlossen, jedoch ruhig atmete.

„Ich muss ihren Uterus ausschaben“, erklärte Hardy, als spräche er zu einem unerfahrenen Medizinstudenten, wie er es immer tat, wenn sie dabei war, wenn er arbeitete. „Sonst verblutet sie. Ich hoffe, ich erwische alles.“

Julie wollte schon fragen, wovon er alles erwischen musste, verkniff es sich jedoch im letzten Moment. Sie beobachtete den Arzt dabei, wie er mit einem anderen Instrument eines aus dem kochenden Wasser fischte und es einige Sekunden auskühlen ließ. Dann beugte er sich über Geertje und Julie senkte den Blick. Sie wollte nicht sehen, was weiter geschah. Sie hörte die junge Norwegerin leise stöhnen und drückte sie fester auf den Wagenboden. Dann wiederum hörte sie Doktor Retzner leise fluchen und die ganze Zeit über vernahm sie dieses seltsame Geräusch – manchmal schmatzend, manchmal kratzend. Sie wusste nicht, wie lange sie so dagesessen hatte, vielleicht zehn, vielleicht zwanzig Minuten oder sogar eine halbe Stunde. Endlich jedoch sagte Hardy. „Gut, Sie können sie loslassen.“

Langsam richtete Julie sich auf. Sie fühlte sich entsetzlich erschöpft und ihre Hände zitterten. Geertje war noch immer ohne Bewusstsein.

„Was ist mit ihr?“

Der junge Arzt rang sich zu einem zuversichtlichen Lächeln durch.

„Der Whiskey, die Schmerzen...sie wird es schaffen, hoffe ich.“ Er seufzte und machte einen Knoten in einen Lappen, sodass niemand sehen konnte, was darin steckte, doch Blut durchweichte ihn von innen heraus. „Wenn ich nur in sie hineinsehen könnte und wüsste, ob ich wirklich alles herausbekommen habe.“ Er schüttelte kurz den Kopf, dann übergoss es seine Hände erneut mit Whiskey und holte danach seine restlichen Instrumente aus dem Topf, um sie wieder in seiner Tasche zu verstauen. „Sagen zu müssen, ich habe alles getan, was in meiner Macht steht und doch nicht sicher sein zu können, ob sie durchkommt oder nicht – das ist das Schlimmste.“

Sacht legte Julie eine Hand auf die seine. Sie lächelte mitfühlend, doch kein Ton kam über ihre Lippen. Sie fand keine Worte für das, was sie empfand und er verstand sie auch so. Aufmunternd tätschelte er ihren Unterarm.

„Wir müssen Torbjörn Bescheid geben und uns allmählich schlafen legen. Sonst sind wir beide die nächsten Patienten.“

Er richtete Geertjes Unterröcke und deckte sie zu, dann kletterte er aus dem Wagen. Den zugeknoteten Lappen nahm er mit. Julie beeilte sich, ihm zu folgen und nahm seine Tasche an sich.

Torbjörn musste die ganze Zeit über zwischen den Wagen hin und her gelaufen sein, denn er kam von rechter Seite angestürmt, als er Doktor Retzner erblickte. „Endlich! Das hat ja ewig gedauert!“

Die meisten Lagerfeuer waren mittlerweile vollständig heruntergebrannt und Hardy konnte das Gesicht des jungen Norwegers nicht erkennen.

„Tut mir leid, schneller ging es nicht.“ Er wartete, bis Julie neben ihm stand, ehe er fortfuhr: „Ihre Frau hat das Kind leider verloren.“

Eine lange Minute herrschte Stille. „Das Kind?“, wiederholte Torbjörn verblüfft. Es war offensichtlich, dass er keine Ahnung davon gehabt hatte. „Sie...Sie meinen...“

„Ja“, entgegnete Hardy bedacht. „Es liegt noch drinnen, im Wagen. Ich denke, Sie werden es sicherlich morgen früh beerdigen wollen.“

„Hmm“, machte der junge Mann hilflos und biss sich auf die Lippen. „Was...was ist mit Geertje?“

Der junge Arzt musste sich einen Ruck geben. „Das werden die nächsten Stunden zeigen“, gab er ehrlich zu. „Sie wird bald wieder zu sich kommen. Passen Sie genau auf, ob Sie irgendwelche Veränderungen an ihr bemerken. Und sollte sie Blutungen oder Fieber bekommen, holen Sie mich sofort, ganz gleich um welche Uhrzeit, verstanden?“

Torbjörn nickte stumm. „Darf ich jetzt zu ihr?“

„Natürlich. Gute Nacht.

„Gute Nacht, Doktor und vielen Dank.“ Der junge Norweger kletterte in seinen Wagen und ließ Hardy und Julie allein zurück.

„Wie spät es wohl sein mag?“, fragte Julie leise und gähnte.

Hardy lächelte. „Gehen Sie schlafen, Julie-Mädchen. Es ist spät und ich weiß nicht, ob wir nicht in ein paar Stunden wieder gebraucht werden.“ Er deutete auf den seltsam anmutenden Beutel in seiner Hand. „Ich muss das vergraben. Nicht, dass noch Wölfe oder andere Tiere das Blut riechen.“

Er ging davon, um einen Spaten zu holen und ließ Julie allein zurück mit ihrer Verwirrung und den tausend Fragen, die sie beschäftigten.

Der nächste Morgen brach schneller herein als erwartet und weder Hardy, noch Julie fühlten sich ausgesprochen wohl in ihrer Haut. Sie waren müde und erschöpft von den Geschehnissen, über die Friedrich sogleich unterrichtet wurde. Geertje hatte die Nacht gut überstanden. Es waren keine Blutungen aufgetreten und auch kein Fieber und obwohl sie noch sehr schwach und blass war, konnte Hardy doch guten Gewissens behaupten, dass sie es vermutlich schaffen würde.

Zwei Männer halfen Torbjörn beim Ausheben des kleinen Grabes und noch am frühen Vormittag fand die Beerdigung für das kleine Mädchen statt, das nicht einmal ein halbes Jahr alt geworden war und nie das Licht dieser Welt hatte erblicken dürfen. Geertje wollte dabei sein, doch Doktor Retzner erlaubte es nicht.

„Sie müssen eine Woche lang im Wagen liegenbleiben, haben Sie mich verstanden?“

„Aber, Doktor...“, wollte die junge Frau protestieren, doch Hardy ließ sie nicht aussprechen: „Wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist und wenn Sie jemals Ihre neue Heimat zu sehen bekommen wollen, dann tun Sie, was ich Ihnen sage!“

Seine eindringlichen Worte zeigten Wirkung und Geertje blieb mit Julie im Wagen zurück, wo sie haltlos weinte. Hilflos saß Julie neben ihr und streichelte ihren Rücken, während Geertje von lautem Schluchzen geschüttelt wurde. Sie fühlte tiefes Mitleid mit der jungen Frau, doch konnte sie ihren Kummer nicht wirklich nachvollziehen. Sie erschrak ein wenig über dieser Erkenntnis. Hatte ihr Vater sie nicht Zeit ihres Lebens gelehrt, dass es nichts Wertvolleres gab, als das Leben selbst?

Nein, sie konnte es nicht, denn in ihrer Vorstellung wollte sie nicht zulassen, dass der Tod etwas Endgültiges, etwas alles Beendendes war. Es musste noch mehr geben, was danach kam, ein neues Leben vielleicht oder ein Dasein als Engel – irgendetwas! Julie senkte den Kopf und schloss die Augen. Nein, ihrem Vater durfte sie davon nichts anvertrauen. Es gab überhaupt niemanden, der ihre Überlegungen diesbezüglich hätte begreifen können, niemanden, mit dem sie darüber sprechen konnte und der sie vielleicht verstand.

Vielleicht, dachte sie, bin ich ein törichtes, dummes Mädchen, ohne Verstand und Benehmen. Wahrscheinlich bin ich genau das.

Die Tage zogen dahin, ohne, dass jemand es bewusst wahrnahm. Sonnenuntergang und Tagesanbruch schienen sich so schnell abzuwechseln, dass sie darüber aufhörten zu zählen, wieviele seit dem Aufbruch aus St. Louis mittlerweile hinter ihnen lagen. Bei Tage ging es ohne Unterlass durch rauhes, felsiges Land, mit all seinen unergründlichen Weiten und den unbekannten Gefahren, wie giftige Schlangen und Kojoten. Schließlich erreichten sie einen reißenden Fluss, der ungeheure Kräfte besaß und der von einem See zu einem anderen führte, wie Charlie ihnen erklärte. Sie folgten ihm ein gutes Stück in südlicher Richtung, bis in ebeneres Grasland und er sich dort in ein flaches, fast zahmes Wasser verwandelte. An einer besonders ruhigen Stelle konnten Menschen, Tiere und Wagen ungefährdet ans gegenüberliegende Ufer gelangen, wo ihr Treckführer bestimmte, dass das Lager für die kommende Nacht aufgeschlagen wurde. In zwei Tagen, so seine Einschätzung, würden sie Fort Gibson erreicht haben.

„Stimmt etwas nicht?“, fragte Julie, als sie den finsteren Blick Hardy Retzners nach der Verkündung dieser Nachricht bemerkte.

„Nein“, log dieser hastig. „Alles in Ordnung! Alles okay, wie wir jetzt sagen müssen, nicht wahr?“

Es klang ironisch und Julie zog es vor, den Mund zu halten und ihrer Mutter bei der Zubereitung des Abendessens zu helfen, wie es ihre Pflicht war. Friedrich hatte sich in ein Gespräch mit einem der anderen Siedler vertieft und so blieben Hugh und Hardy alleine am Wagen zurück, um den Maultieren den Schweiß von den Leibern zu waschen, nach ihren Hufen zu sehen und sie an den Fluss zum Tränken zu führen.

Die Striche, mit denen Doktor Retzner dem dunkelbraunen, kräftigen Tier mit dem alten Fetzen Stoff über das Fell fuhr, wurden mit jeder Minute wütender, bis Hugh es schließlich nicht länger aushielt: „Wenn Sie es meiner Schwester schon nicht anvertrauen wollen – das Vieh kann wohl kaum etwas für Ihre Laune!“

Ein wenig beschämt senkte der junge Arzt den Kopf und hielt inne.

„Nein“, murmelte er undeutlich. „Sie haben ganz recht, tut mir leid. Das Tier trifft nun wirklich die wenigste Schuld.“

„Wen dann?“ Hugh wollte nicht aufgeben. Ihn interessierte, was ihren Begleiter so sehr beschäftigte. Ihm war schon seit Tagen die Veränderung an dem Österreicher aufgefallen, die immer deutlicher zum Vorschein kam. Hardy hob die Schultern. Sein Blick hing starr irgendwo an einem unbestimmten Punkt am vom Wolken verhangenen Abendhimmel.

„Ich frage mich, weshalb noch keine Indianer versucht haben, uns aufzuhalten.“

Verständnislos runzelte Hugh die Stirn. „Glauben Sie denn im Ernst, das würden sie tun? Ich meine, was könnten die schon ausrichten?“

Kritisch blickte Hardy ihn an. „Wir sind bloß etwa siebzig Leute, die meisten davon Frauen und Kinder, gegen einen Stamm von Wilden, der womöglich ein paar hundert geübte Krieger zählt und wir befinden uns in einem Gebiet, das nicht uns, sondern denen gehört! Wir haben kein Recht, uns hier breitzumachen, einfach irgendeine Siedlung zu errichten! Das Land gehört nicht uns! Die Regierung hat es den Indianern zugesprochen!“

„Hmm“, machte Hugh nachdenklich. „Aber doch nur vorerst gehört es noch ihnen! Wenn die Verhandlungen durch sind, wird das alles anders! Vater meint, wenn wir uns eine Parzelle abstecken, dann...“

„Dann!“, unterbrach Hardy ihn ungehalten. „Dann hat er sich etwas genommen, was ihm nicht zusteht! Er hat gestohlen! Selbst diese ganzen Soldaten in diesem Fort können uns nicht zu dem machen, was wir von jetzt an nie wieder sein werden – nämlich ehrenhafte Bürger dieses Landes! Bürger der Vereinigten Staaten von Amerika, die wir von weit hergekommen sind, um ein besseres Leben zu führen! Ist es das, was wir alle wollten? Uns ein Stück Land rauben von diesem Volk, das lange vor uns hier gewesen ist und das jedes Recht besitzt, diese Ebenen bis aufs letzte Blut zu verteidigen?! Sag schon, ist es das, was wir wollten?!“

Hugh schluckte und senkte den Kopf. Schlagartig begriff er, wovon Hardy Retzner sprach. In dieser Sekunde wurde dem jungen Mann bewusst, dass nicht einmal sein Vater unfehlbar war – und diese Erkenntnis traf ihn hart, härter, als er es im Augenblick ertragen konnte.

„Von dieser Seite habe ich das Ganze noch nie betrachtet.“

„Schau“, sagte der österreichische Arzt, sehr viel sanfter als zuvor. „Wir reden immer nur von ‚diesen Indianern‘, als seien sie ein Stück Vieh. Dabei wissen wir noch nicht einmal, wie sie aussehen! Vielleicht erkennen wir sie noch nicht einmal, wenn sie vor uns stehen, aber wir rauben ihnen ihr Land und erwarten dann noch, freundlich von ihnen empfangen zu werden! Hugh, alle hier scheinen zu denken, dass die Indianer nichts weiter sind, als irgendein dummes Volk von ungesitteten, ungezähmten Wilden! Vielleicht sind sie das bis zu einem bestimmten Grad, ich kann es nicht beurteilen, denn ich kenne sie nicht und ich habe mir bisher offengestanden herzlich wenig Mühe gegeben, mich mit ihrer Kulter auseinanderzusetzen. Ich kann nur von dem erzählen, was ich über ihre Plünderungen und Morde in den Zeitungen gelesen habe und das war alles andere als erbauend. Ich lege jedenfalls bestimmt keinen großen Wert darauf, einem von ihnen gegenüberzustehen, aber wenn wir nicht umkehren, wird sich ein Zusammenstoß kaum noch vermeiden lassen!“

„Vielleicht“, begann Hugh zögernd, „lassen sie uns in Ruhe hier siedeln.“

„Vielleicht“, gab Hardy resigniert zurück und fuhr fort, das Muli trockenzureiben. „Vielleicht werden sie uns vorerst in Frieden lassen, weil ihre Häuptlinge mit Washington verhandeln wollen, aber selbst, wenn das der Grund sein sollte, traue ich diesem Frieden nicht!“

Der merkwürdig fragende Blick von Hubert entging ihm nicht. Er stand noch immer regunglos am selben Fleck, hantierte mit dem Lappen herum, den er noch eine Minute zuvor dazu benutzt hatte, um Otto, das andere Muli, zu putzen. Hardy Retzner runzelte die Stirn, während er in den Himmel hinaufstarrte.

„Ich kann einfach nicht anders. Für mich ist diese ganze Prozedur nicht richtig. Vielleicht kann es nicht aufgehalten werden, vielleicht erkennt Mister Charlie das ganz richtig und eines Tages werden keine Indianer mehr übrig sein – ausgerottet, wie manche Tierart das heute schon ist. Aber hast du dich jemals gefragt, warum es soweit kommt? Wir sind mit ein Grund dafür, nur ein kleiner, aber wir sind einer. Wir drängen uns in dieses Land und womöglich in hundert Jahren oder schon früher wird eine ehrliche, gebildete Generation auf den Bergketten stehen und das Land unter sich betrachten – weit und grün und fruchtbar. Wenn die letzten Spuren ihrer einstigen Bewohner längst mit dem Präriewind davongeweht sind und sie sagen: ‚Schau, das hier waren einst die Jagdgründe des Roten Mannes und sie sind gleichzeitig sein Grab geworden.’ Nun ja, du weißt, ich zweifle ernsthaft, dass dies jemals so passieren wird. Die Menschheit ist zu raffgierig für solcherart Erkenntnisse...“

Ruckartig wandte er sich ab. Er warf den Stofffetzen zornig neben den Wagen und stapfte davon, hinaus in die nächtliche Prärie und in die Dunkelheit. Seine Worte ließen Hugh mit einer Gänsehaut zurück und dem betäubenden Schlag der Feststellung, dass er dumm und ungebildet war und dass es an ihm ganz alleine lag, seinen Horizont zu erweitern. Nie hatte er mehr Ehrfurcht, Respekt und Anerkennung für einen anderen Menschen empfunden als in dieser Sekunde für Hardy Retzner.

Sie erreichten Fort Gibson zwei Tage später. Es war quadratisch, aus niedrigen Holzhäusern gebaut, umgeben von einer Mauer aus Baumstämmen und wesentlich kleiner, als sie erwartet hatten. Es stand auf einer kleinen Anhöhe zwischen Mischwald und Prärie, drei Meilen flussaufwärts der Stelle, wo der Arkansas, Grand und Verdigris River ineinander übergingen. Ein einziger Weg führte zwischen den Bäumen hindurch und über die Ebene bis zum Fort hinauf. Die beiden Wachtürme waren besetzt und einer der Soldaten schrie herunter, was sie wollten. Charlie hob seinen Arm und rief etwas zurück. Keine fünf Minuten später öffnete sich das Tor und ein großer, schlanker Mann mit dunklem Vollbart trat energischen Schrittes auf sie zu. Ihm folgten vier Soldaten, jeder mit einem Revolver im Holster um die Hüften. Seine Augen glitten abschätzend über die Gruppe von Siedlern hinweg. Dann wandte er sich dem Mann auf dem Rapphengst zu.

„Schon wieder welche? Hab ich dir nicht das letzte Mal schon gesagt, dass...“

„Ja, ja!“, unterbrach Charlie ihn eilig. „Sie kennen meine Ansicht, Captain! Was ist übrigens aus dem vorigen Treck geworden?“

„Oh, die sind auf die andere Seite des Arkansas gewechselt. Ich weiß nicht, was sie inzwischen machen. Habe nichts mehr von ihnen gehört“, lautete die knappe Antwort. Mit drei, vier großen Schritten trat er auf die Siedler zu. „Nun gut, jetzt sind Sie alle einmal hier!“ Er wartete auf eine Reaktion, doch alle schwiegen gespannt und gleichzeitig ein wenig ängstlich, was nun mit ihnen geschehen würde. „Dies hier ist offiziell noch immer Indianerland, auch wenn keiner sagen kann, wie lange noch! Sie haben deshalb kein Recht, sich darauf niederzulassen! Das Heimstättengesetz gilt hier nicht! Sie betreten dieses Land widerrechtlich! Ich hoffe sehr, Sie sind sich dessen bewusst! Das Problem ist, ich habe strikte Order, jeden davonzujagen, der versuchen sollte, hier einzudringen und jede Art von Ansiedlung sofort zu unterbinden!“

„Ach, kommen Sie schon!“, ächzte Charlie, die Augen verdrehend. „Sie wissen, das sind nicht die ersten...“

„Das ist mir vollkommen klar!“, unterbrach der Captain ihn scharf. „Und genau das ist der Punkt! Ich bin mir durchaus der ganzen Entwicklung bewusst, die unter Captain Paynes Leitung stattgefunden hat! Und ich weiß auch, dass niemand abschätzen kann, wieviele solcher Wagentrecks er hierher gebracht hat und ihnen gestattet hat, sich hier niederzulassen. Und ja, es gibt auch Rinderfarmen weiter nördlich, auf dem Gebiet des Indianerterritoriums! Trotzdem gibt es Ihnen nicht das Recht zu bleiben!“

„Genau das, was ich schon die ganze Zeit sage“, raunte Hardy Retzer mit einem Hauch grimmigen Triumphes.

„Ich habe keinen von Ihnen und Ihren Leuten jemals gesehen!“, brüllte der Captain jetzt, ihrem Führer einen finsteren Blick zuwerfend. „Bring sie weg und sieh zu, dass sie sich in der Nähe der Grenze zu Arkansas aufhalten!“

„Jawohl, Sir!“ Charlie grinste zufrieden. „Ich mache, was immer Sie sagen, Captain!“

Das ausbrechende Freudengeschrei wurde durch eine abrupte Armbewegung des Kavalleriemannes im Keim erstickt. „Es kann ständig zu Indianerüberfällen kommen! Bereiten Sie sich lieber darauf vor und suchen Sie sich einen fähigen Mann aus, dem Sie den Sheriffstern ans Hemd pinnen! Diese Wilden haben uns nicht gerade viel Freude bereitet im letzten Jahr! Also, machen Sie sich keine falschen Illusionen!“

„Aber das Land gehört doch der Regierung, oder etwa nicht?“, schallte eine männliche Stimme hinter einem der Wagen hervor.

„Das ist zwar korrekt“, nickte der Captain. „Aber es wurde den Stämmen zugesprochen!“

„Ich frage mich, wie lange die Regierung die Aufsätzigen noch unter Kontrolle halten kann, ohne hässliche Schlachten!“ Charlie grinste verächtlich.

Captain Harbach hob die Brauen, sichtlich verärgert. „Das ist weder etwas, das ich entscheide, noch mit dem Sie jemals konfrontiert werden! Aber solange wie ich hier die Befehle erteile, will ich Sie niemals wiedersehen oder ich schwöre, ich lasse Sie in der nächsten Zelle versauern und für organisierten Landraub anklagen! Habe ich mich deutlich ausgedrückt?“

„Klar und deutlich!“ Das Grinsen auf dem Gesicht ihres Führers wurde breiter. „Auf dem Rückweg werde ich mal bei einem der Rancher vorbeischauen, Sie wissen schon, die haben richtig gutes Land für ihr Vieh gefunden, nicht weit von der Grenze und die Indianer haben dreimal versucht, sie davonzujagen...aber sie kommen immer wieder zurück!“

Der Captain schürzte die Lippen. „Das ist eine Geschichte ganz nach Ihrem Geschmack, was?“

„Natürlich! Diese Leute haben das beste Recht, sich hier niederzulassen! Nichts von diesem wunderbaren, fruchtbaren Land wurde jemals schriftlich an die Indianer abgetreten!“

„Geht mir einfach aus dem Blick! Und rechnen Sie nicht mit irgendeiner Hilfe von meiner Seite, sollte es zum Schlimmsten kommen!“

„Jawohl, Sir!“ Es klang respektlos und er ließ seinen schwarzen Hengst auf der Hinterhand umdrehen.

Julie hatte weder ihm zugehört, noch irgendetwas überhaupt registriert, was während der letzten Minuten gesprochen worden war. Ihre Augen hingen an einem der Soldaten, die den Captain begleiteten. Ihr war schwindlig und ein seltsames Kribbeln breitete sich in ihrer Magengegend aus. Er bemerkte sie nicht hinter dem Wagen, hinter dem sie sich versteckte und sie fühlte sich erleichtert, dass er ihr keinen Blick schenkte, denn sie war zu nichts weiter in der Lage, als ihn wie eine törichte Gans anzustarren. Er war groß und schlank, mit einem feingeschnittenen Gesicht und blonden Haaren. Obwohl sie ihn noch nie zuvor gesehen hatte, erschien es ihr, als habe sie diese Reise nur angetreten, um diesem Mann zu begegnen. Nie zuvor hatte sie solche Gefühle in sich aufwallen bemerkt. Was war nur in sie gefahren? War sie mit all den Strapazen der vergangenen Wochen schon verrückt geworden? Sie konnte ihren Blick einfach nicht von ihm abwenden, als er nun mit langen Schritten dem Captain durch das Tor ins Fort folgte. Beinahe enttäuscht, wandte sie sich ab. Vermutlich würde sie ihn niemals wiedersehen und die Vorstellung erschien ihr unerträglich. Sie musste diesen Mann wiedersehen, ganz gleich, wie sie es auch anstellte! Sie musste! Julies Herz raste wie verrückt und sie nahm die anderen Menschen um sich herum kaum wahr. Sie schienen keine Bedeutung mehr zu haben, jedenfalls nicht dieselbe wie noch wenige Minuten zuvor.

Hardy Retzner stieß einen tiefen Seufzer aus, als er plötzlich neben ihr auftauchte. „Es scheint mir fast, als seien wir bei Weitem nicht die ersten, die sich hier unbefugt niederlassen.“

Hugh grinste breit. „Das heißt, wir brauchen uns keine weiteren Gedanken mehr zu machen und...“

„Doch, das müssen wir!“, fuhr der Österreicher ihn zornig an. „Ich bin nämlich noch immer nicht erpicht darauf, in geraumer Zeit von einem Indianerpfeil durchbohrt zu werden!“

„Wer ist das eigentlich?“, fragte eine Frauenstimme neben ihnen und einer der Männer antwortete: „Ich habe von ihm gelesen in der Zeitung in Kansas gelesen. Er ist ziemlich berühmt für seine Erfahrung – das ist Captain A.A. Harbach.“

Charlie führte sie hinab, bis an einen großen, ovalen See. Stellenweise war das Ufer mit hohen, alten Bäumen bewachsen und an anderer wieder spross grünes, saftiges Gras. Sie stellten ihre Wagen ab und bestaunten die ungewohnte, doch schön anmutende Gegend. Dort verabschiedete Charlie sich mit dem Einsammeln seiner letzten Rate, die er sich als Treckführer verdient hatte und niemand von ihnen bekam ihn jemals wieder zu Gesicht.

„Welch fabelhafte Gegend!“, rief Friedrich und schaute sich um. „Dort, direkt am Ufer, will ich meine Kirche haben!“

Luise hakte sich bei ihm unter und lächelte. „Wir haben es geschafft!“

„Ja!“ Ungewohnt herzlich drückte ihr Mann sie an sich. „Wir sind dort, wo wir hin wollten! Wir besitzen ein eigenes Stück Land, auf dem wir unser Haus bauen können und wo wir den Rest unseres Lebens verbringen werden!“

„Wir besitzen dieses Land nicht“, warf Hardy trocken und sehr ernst ein. „Wir nehmen es uns!“

Angespanntes, bedrücktes Schweigen trat ein und alle Umstehenden beäugten ihn abschätzend. Nur diejenigen, die ihn nicht gehört hatten, lachten und freuten sich weiterhin, am Ziel angelangt zu sein.

Innerhalb von nur einer Woche waren die ersten Häuser fertiggestellt und die ersten Bestellungen wurden zusammengetragen, um zur Bahnstation gebracht zu werden. Diese war von der Missouri-Kansas und Texas-Bahn 1871 erbaut worden, um Kansas und Fort Gibson miteinander zu verbinden. Nur ein Jahr später konstruierte einer der Angestellten eine Weiche zur KATY Eisenbahn, die sie nach Henry Samuel „Bigfoot“ Wagoner benannten. Denn es wurde dringend ein Ort benötigt, wo die Eisenbahnwaggons abgestellt werden konnten, um sie mit Walnussholz zu beladen, das an den Ufern des Grand und Verdigris River wuchs. 1883 entschieden die Kansas und Arkansas Valley Bahngesellschaften schließlich, neue Schienen durch das Gebiet zu verlegen und von diesem Tag an war die bisherige Weiche eine Kreuzung von zwei Schienensträngen geworden. Öfen, Fensterglas, Handwerkszeug, Kleidung – alles, was benötigt wurde, sollte per Eisenbahn angeliefert werden.

Friedrich entwarf eine Skizze für seine Kirche, während einige der jungen, enthusiastischen Leute aufbrachen, um sich weiter außerhalb ihre Farmen zu errichten. Die einen entschieden sich, Geschäfte zu eröffnen, während andere wiederum anfingen, einen Stadtrat zusammenzustellen und einen Sheriff zu ernennen. Schon Ende September bestand die Siedlung aus Wohnhäusern, einem General Store, einer Bäckerei, einem Schmied, einem Mietstall und einer kleinen Kirche ohne Glocke. Auch eine Bank war im Gespräch, jedoch war der betreffende Angestellte noch nicht eingetroffen, der die Filiale leiten sollte. Eine Bankgesellschaft aus Kansas hatte sogleich die Chance gesehen, eine weitere Außenstelle in ihrem kleinen Ort zu eröffnen, der stetig wuchs.

„Sie muss jeden Tag mit der Bahn ankommen“, versicherte Friedrich nach dem sonntäglichen Gottesdienst, als er die Gemeinde in einen freien Tag entließ, der vielleicht die letzten Sonnenstrahlen vor dem Kälteeinbruch brachte. „Der Captain hat mir versprochen, sie sofort vorbeibringen zu lassen, wenn sie da ist!“

„Es wird wirklich Zeit, dass wir eine eigene Glocke bekommen“, lachte Miklós und reichte dem Pfarrer die Hand. „Damit ich nicht jeden Sonntag zur Kirche rennen muss, weil ich verschlafen habe!“

Miklós betrieb den Mietstall und hatte gleich einen Teil der Pferde von den Siedlern abgekauft, die sie nicht mehr brauchten. So besaß er nun eine beachtliche Anzahl von Tieren. Trotz des Siedlungsverbotes und der Tatsache, dass dieses Gebiet noch immer den Indianern gehörte, stießen ununterbrochen neue Trecks aus dem Osten zu ihnen und ließen sich in der Stadt nieder, die sie „Gibson Town“ getauft hatten. Einige wollten auch weiter, Richtung Westen und sich dort ein Stück Land suchen, aber viele blieben. Denn unter vorgehaltener Hand sprach es sich längst herum, dass es hier, im Süden, viel einfacher war, an Land zu kommen als weiter westwärts. Manchmal kamen nur Familien an, anderes Mal bunt gemischte Trecks mit jungen Männern und unverheirateten Frauen.

Es ließ sich auch nicht vermeiden, dass keine zwei Monate später der erste Saloon mit Tanzmädchen eröffnet und auch erfolgreich betrieben wurde. Von den anfangs etwas sechzig Personen war die Stadt innerhalb von nur wenigen Wochen um fast das fünffache angewachsen.

Auch an diesem Sonntag hatte ein Siedlertreck unweit vor der Stadt die Nacht verbracht, um von dort aus weiterzuziehen. Es waren nur um die zwanzig junge Männer aus aller Welt und sie wollten bei der Eisenbahn anheuern.

„Das ist alles vollkommen verrückt!“, meinte Hardy Retzner und verzog das Gesicht. „Zuerst warnt uns dieser Captain und dann finden wir heraus, dass es längst eine Bahnstation für die Eisenbahn gibt, nicht weit entfernt und das schon seit Jahren! Ich begreife das nicht und ich habe das Gefühl, dass es mehr als nur ein paar kleine Probleme mit den Indianern gibt. Ich bezweifle, dass sie auch nur einen Cent dafür bekommen, dass ihre Walnussbäume von diesen Kerlen auf die Wagen verladen werden!“

„Ach, sehen Sie doch nicht immer so schwarz!“, bat Julie, während sie langsam neben ihm die breite, kurze Straße hinabschlenderte, an deren beiden Seiten die Häuser ihres Ortes aus dem Boden gestampft worden waren. Alles einfache, in Holzblockweise errichtete Gebäude, alle braun und nichts Besonderes, doch in jedem steckte stundenlange Arbeit, Schweiß und der Stolz, es geschafft zu haben.

Doktor Retzner hatte sich ein winziges, ebenerdiges Häuschen gebaut, wo er im hinteren Teil lebte und im vorderen eine kleine Arztpraxis eröffnet hatte. Es lag fast genau in der Mitte der Stadt, die an ihrer Größe und Einwohnerzahl gemessen eigentlich noch gar keine war.

„Ich sehe schwarz?“, erwiderte er jetzt, als sie vor seiner Haustür stehenblieben. Er schüttelte den Kopf. „Ich sehe alles völlig klar, das ist ein Unterschied! Bisher haben die Indianer uns größtenteils in Ruhe gelassen, abgesehen von diesem einen Brand, den sie im Haus der Gyllenhales veranstaltet haben. Ich fürchte allerdings, das war nur ein Anfang, denn ihnen wird kaum entgehen, wieviele neue Siedler jede Woche hier einfallen, um sich über ihrem Land zu verteilen und es für sich zu beanspruchen! Und das, obwohl sie alle kein Recht dazu haben! Ich kann es nur immer wieder betonen.“

„Sie machen mir Angst!“, rief Julie vorwurfsvoll. „Ich will nicht, dass Sie solche Dinge sagen!“

„Sie werden Ihnen ins Auge sehen müssen“, erwiderte Hardy sehr ernst. „Sie gehören zu unserem neuen Leben genauso dazu, wie die Tatsache, dass bisweilen Wirbelstürme über diese Gegend hinwegfegen.“ Er fasste sie kurz am Kinn und lächelte aufmunternd. „Das habe ich in einer Zeitung gelesen, aber vielleicht stimmt es ja nicht. Wir haben wenigstens den Vorteil, eine große Truppe zu sein! Die Farmer draußen, in der Prärie, haben es da wesentlich schwerer.“

„Ach ja“, fiel Julie bei dem Stichwort ein. „Soll ich später noch zu Geertje hinausreiten und nach ihr sehen?“

„Oh ja, das wäre schön! Ich hätte nie gedacht, dass sie gleich wieder guter Hoffnung sein würde, kaum, dass sie und Torbjörn sich eine Parzelle gesucht haben!“ Er lachte.

„Ich mache mich gleich nach dem Mittagessen auf den Weg“, versprach Julie eifrig. Sie freute sich darauf, die junge Norwegerin endlich wiederzusehen. Es lag schon beinahe sechs Wochen zurück, seit sie das letzte Mal hinausgeritten war.

„Seien Sie bitte vorsichtig!“, bat Doktor Retzner und runzelte die Stirn. „Captain Harbach meinte, dass sich die Creek und die Cherokees wieder in die Haare bekommen hätten und sie lassen das wohl nicht nur an sich gegenseitig aus!“

„Keine Sorge, ich passe schon auf!“, versicherte Julie und wandte sich zum Gehen. „Ich muss nach Hause! Auf Wiedersehen!“

Er lächelte. „Auf Wiedersehen, Julie-Mädchen!“

Großen Schrittes marschierte sie die Straße hinab. Sie wusste, dass es unschicklich aussah und dass Luise sie schelten würde, doch Julie war viel zu aufgeregt, um sich darüber groß Gedanken zu machen. Sie freute sich, wieder einmal reiten zu können und vor allem, einen Nachmittag mit den Stromsons zu verbringen. Es war immer nett bei ihnen und Geertje konnte aus einfachsten Bestandteilen herrlichstes Gebäck zaubern. Sie musste es nur noch ihren Eltern schonend beibringen, denn der Sonntag war heilig und unantastbar in den Augen ihres Vaters. Ein Tag, an dem niemand arbeitete oder etwas tat, was ihn entheiligen könnte. Julie seufzte. Manchmal hasste sie es, die Tochter eines Pastors zu sein.

Ihr Haus lag einige Meter hinter der Hauptstraße zurückversetzt. So hatte Friedrich es sich gewünscht, denn dort wuchsen hohe, alte Bäume und unter denen wollte er zukünftig im Sommer sitzen und die Sonnenuntergänge beobachten. Es war ein einfacher Bau, nur aus dem Erdgeschoß bestehend. Ein Obergeschoß sollte erst später hinzukommen, jedenfalls sah das Friedrichs Planung vor. Ein kleiner Wohnraum mit angeschlossener Küche befand sich gleich hinter der Haustür. Von dort führten drei schmale Türen in die winzigen Schlafzimmer. Mehr gab es nicht. Gebadet wurde in einer kleinen Wanne im jeweiligen Schlafzimmer und die Wäsche wurde im See gewaschen.

Als Julie eintrat, fiel ihr Blick als erstes auf Hugh, der am Tisch saß und über den Unterlagen für den morgigen Unterricht brütete. Es gab keinen Lehrer unter den Einwanderern und so hatte jemand anderer die Stelle vorerst übernehmen müssen. Zunächst war die Wahl des Stadtrats auf Friedrich gefallen, doch dieser sah sich neben seinem Kirchendienst nicht dazu in der Lage, auch noch eine Schar von knapp fünfzig Kindern zu unterrichten und zu bändigen. Nach einigen Überlegungen hatten sie schließlich Hugh gebeten, die Aufgabe so lange zu übernehmen, bis mit einem anderen Siedlertreck vielleicht ein Lehrer ankommen würde. Zu Anfang war Hugh nicht begeistert gewesen von dieser Idee. Er selbst war gerade einmal neunzehn Jahre alt und was konnte er den Kindern schon beibringen? Gut, er beherrschte am besten Englisch von allen hier, inzwischen sogar besser als seine Schwester und er hatte in Deutschland die höchste Schule besucht. Dennoch war er dem Vorschlag zunächst sehr skeptisch gegenübergestanden. Er hatte noch nie unterrichtet und er besaß auch im Umgang mit Kindern nicht viel Erfahrung. Inzwischen lagen jedoch drei Wochen zurück und er hatte sich einige Bücher zusammengeliehen, ein paar aus dem Fort, andere von Bürgern des Ortes. So hatte er zumindest eine gewisse Grundlage für das, was er neben Englisch und Rechnen noch unterrichten konnte. Er begrüßte die Entscheidung des Stadtrats sehr, schnellstens richtige Schulbücher aus dem Osten zu bestellen und konnte ihre Ankunft kaum erwarten. Für Montag nahm er sich immer Erkunde zur Brust und deshalb blätterte er jetzt eifrig in einem Atlas mit bunten Bildern und einem Buch über die Substanzen im Erdboden und den Aufbau der verschiedenen Vegetationszonen. Dass er sich diesen wertvollen Band von Captain Harbach hatte persönlich ausleihen dürfen, machte Hugh besonders stolz und er behandelte ihn mit größter Sorgfalt.

Jetzt, als er die Türe neben sich aufschwingen bemerkte, hob er kurz den Blick, um ein „Hallo Julie!“ zu murmeln und sich dann wieder über die Unterlagen zu beugen.

Seine Schwester seufzte und schenkte ihm keine weitere Beachtung. Sie hatte sich eine ganz andere Strategie ausgedacht, um auf jeden Fall von hier fortzukommen. Zu ihrer Zufriedenheit stellte sie fest, dass der Rest ihrer Familie noch vor der Kirche versammelt sein musste, um ein sonntägliches Gespräch mit den Gemeindemitgliedern zu führen. Wie großartig! Julie eilte in ihr Zimmer und befreite sich von den unbequemen Röcken, dem Korsett und der steifen Jacke. Achtlos warf sie alles auf ihr Bett, um stattdessen in die schiefgelaufenen Stiefel und den Reitrock zu schlüpfen. Dazu trug sie immer eine weite, meist farbig karierte Bluse, wie es die Männer taten. Heute allerdings zog sie noch eine ärmellose Weste darüber, denn der Wind konnte am späten Nachmittag bereits empfindlich kühl werden.

Hugh blickte nicht auf, als sie wieder in den Wohnraum zurückkam, die Tasche in der Hand, die Hardy ihr bereits in St. Louis vermacht hatte und die Julie immer begleitete, wenn sie zu einem Patienten musste.

„Ich gehe dann! Sag Vater und Mutter, dass sie nicht auf mich warten müssen, mit dem Essen, meine ich. Es könnte später werden!“ Sie eilte zur Tür.

„Moment!“, rief Hugh ihr verdutzt nach. „Wo willst du denn hin? Und was hast du gesagt, soll ich ausrichten?“

Julie verzog das Gesicht. „Du sollte ihnen sagen...ach, ist doch egal! Ich muss zu den Stromsons hinaus und nach Geertje sehen!“

„Jetzt? Heute? Am Sonntag?“

„Warum nicht?“, rief Julie trotzig. „Du arbeitest heute auch und du bist sogar gleich nach dem Gottesdienst auf und davon! Warum sollte ich nicht zu Geertje reiten und sehen, ob es ihr gut geht?“

„Weil...weil...“ Hugh fiel kein passendes Argument ein. Er machte eine ärgerliche, wegwerfende Handbewegung. „Ach, hau doch ab! Wirst schon sehen, was Vater davon hält!“

„Jawohl, ich gehe!“ Julie riss die Tür auf und stürmte ins Freie. Wütend stapfte sie den Weg zu Miklós’ Stall hinauf. Sie hoffte inständig, er würde bereits da sein. Ansonsten sattelte sie sich einfach den großen Fuchs selbst, den sie immer ritt, wenn sie auf eine der Farmen musste. Bis dahin würde ihr ungarischer Freund bestimmt zurück sein. Tatsächlich war niemand im Stall anzutreffen, obwohl das große Tor an der Frontseite offenstand. Julie seufzte. Sie hasste es, den schweren Sattel alleine auf das große Tier hieven zu müssen, aber es half nichts. Es dauerte fast eine Viertelstunde, bis sie den Fuchs gesattelt und aufgezäumt hatte und dann erschien Miklós.

„Ah!“, sagte er und grinste. „Du! Hätte ich wissen müssen! Nur du holst einfach ein Pferd!“

„Entschuldige!“ Julie band ihre Tasche am Sattel fest. „Aber du weißt ja, dass ich ihn dir zurückbringe!“

Der Ungar lachte heiser auf. „Natürlich! Reite nur zu, Mädchen! Immer auf und davon! Brauchst mir dieses Pferd auch gar nicht mehr bringen! Lässt sich sowieso bloß von dir gut reiten!“

„Na, mein Vater wäre nicht begeistert!“, meinte Julie lachend, während sie sich in den Sattel schwang. „Er findet es schon sündhaft, dass ich überhaupt reite wie ein Mann!“

„Wie ein Mann?“, rief Miklós verständnislos. „Bei uns in Ungarn alle Mädchen reiten mit einem Bein rechts und einem links! Ist doch viel einfacher!“

„Bis heute Abend!“ Julie grinste und trieb das Pferd vorwärts. Sie mochte den Stallbesitzer und seine Sprüche, die er stets auf seine lustige Art mit inkorrekter Grammatik von sich gab. Er verriet sie nie, wenn sie wieder einmal davonritt und außer Hardy niemand wusste, wohin ihr Weg sie führte. Er gab ihr auch jedesmal ohne lange Fragereien den Wallach und verlangte kein Geld von ihr dafür, weil er wusste, dass sie irgendwo außerhalb der Stadt jemanden zu versorgen hatte.

Der Weg zur kleinen Farm der Stromsons führte über unwegsames, steiniges Gelände. Einen richtigen Weg gab es ohnehin nicht, nur einen schmalen Pfad, der zur Not auch mit einer kleinen Kutsche befahren werden konnte, das allerdings nur langsam. Julie kannte die Gegend und sie träumte ein wenig vor sich hin, wie sie es meistens tat, wenn sie zu einem der Siedler hinaus ritt. Dunkle Wolken machten sich von Westen her über dem Land breit, die wohl bald Regen bringen sollten. Auf einem der Felsformationen zu ihrer Linken, weit hinter dem Wald, schien jemand ein Feuer gemacht zu haben, denn weißer Rauch zog von dort langsam gen Himmel. Julie schenkte ihm keine weitere Beachtung, denn sie hatte das kleine Farmhaus beinahe erreicht. Es lag geschützt zwischen hohen Sträuchern am Fuße eines Hügels. Aus dem einfachen Steinkamin stieg Rauch auf und die Schafherde blökte in der großzügigen Umzäunung daneben.

Julie sprang aus dem Sattel und wickelte die Zügel kurzerhand um mehrere Äste eines Busches. Sie knotete ihre Tasche los, als sich bereits die Türe öffnete und Geertje heraustrat.

„Julie! Wie schön! Komm herein! Willst du ein Stück Apfelkuchen?“

„Danke, immer gern, das weißt du doch!“ Erst jetzt fiel ihr auf, dass ihr Magen knurrte. „Ich hatte noch gar kein Mittagessen!“

Geertje hielt ihr die Tür auf und wartete, bis Julie eingetreten war.

„Setz dich“, bat sie und eilte an den Herd. „Mir geht es bestens! Du bist ganz umsonst gekommen!“

Julie lachte leise auf. „Ich werde nicht wieder fort reiten, ehe ich mir deinen Zustand angesehen habe! Das würde mir Hardy nie verzeihen und ich mir auch nicht!“

„Mir geht es wirklich sehr, sehr gut!“, versicherte die junge Frau, während sie ein großes Stück Kuchen herunterschnitt und auf einen Teller legte. „Björn müsste auch gleich hier sein. Er wollte nur noch schnell den Zaun ablaufen, damit die Schafe heute Nacht nicht entwischen, falls ein Sturm hereinbricht und danach sieht es wohl aus. Du solltest dich lieber beeilen, wieder zurück in die Stadt zu kommen.“

„Danke!“ Mit leuchtenden Augen griff Julie nach der Gabel und stach einen großen Bissen vom Kuchen ab. Sie verspürte jetzt wirklich Hunger und war froh, etwas essen zu können.

Keine fünf Minuten später öffnete sich die Hintertür und Torbjörn trat ein.

„Hallo Julie!“, rief er munter. „Ich hab dein Pferd draußen gesehen!“

„Ist nicht meins“, erwiderte Julie mit vollem Mund. „Gehört Miklós!“

„Mmh“, machte der junge, strohblonde Norweger und richtete seine Aufmerksamkeit in Richtung Herd. „Das duftet aber!“

„Setz dich!“, lachte seine Frau. „Du wirst nicht verhungern!“

„Oben, bei den Felsen, scheinen sich die Indianer breitzumachen“, sagte Torbjörn leise, sodass nur Julie es verstehen konnte. Erschrocken starrte sie ihn an.

„Die Indianer?“, wiederholte sie gedehnt. „Bist du sicher?“

„Ziemlich“, nickte Torbjörn. „Ich habe jede Menge Hufspuren von unbeschlagenen Pferden gesehen!“

Julie schluckte. Sie wusste, was das bedeutete. Oft genug war ihr von ihrem Vater und Hardy eingeschärft worden, sich sofort in Sicherheit zu bringen, sollte sie Spuren unbeschlagener Pferde entdecken. Also war es jetzt vermutlich soweit, dass sie auszogen, um sie zu vertreiben von diesem Land, das ihnen nicht gehörte, das sie geraubt hatten, wie Hardy es immer wieder formulierte.

„Alles in Ordnung?“, fragte Geertje in ihre Überlegungen hinein.

„Was?“ Verwirrt starrte Julie sie einen Augenblick an, dann rang sie sich zu einem Lächeln durch. „Ja, ja...alles okay! Ich habe nur gerade überlegt....was in der kommenden Woche so alles ansteht!“ Sie schob den leeren Teller zurück und sprang hastig auf. „Am besten, ich reite schnellstmöglich zurück in die Stadt. Komm, lass mich dich kurz anschauen.“

Verwundert hob Geertje die Schultern und ging ihr voraus, in Richtung Schlafzimmer. „Wenn du meinst...“

Julie war froh, als sie die Untersuchung hinter sich gebracht hatte und der jungen Norwegerin mitteilen konnte, dass es dem Kind gut ging, soweit sie feststellen konnte.

„Du musst dich trotzdem schonen“, ermahnte sie streng und sagte sich, es höre sich wie Hardy an. „Sei bitte vorsichtig“, fügte sie sanfter hinzu. Sie lächelte. Sie und Geertje mochten sich und wenn sie davon sprechen konnte eine Freundin zu besitzen, dann war Geertje auf jeden Fall eine von ihnen.

Ein lautes Rufen ließ die beiden jungen Frauen herumfahren. Torbjörn stieß die Türe auf. „Runter! In Deckung! Indianer!“

Geertje wurde blass und stieß einen kurzen Schrei aus. Julie besaß mehr Kaltblütigkeit und packte die junge Frau kurzerhand an den Schultern, um sie auf den Fußboden neben dem Bett zu drücken.

„Bleib hier!“, befahl sie. „Du rührst dich nicht von der Stelle!“

Sie selbst huschte in gebückter Haltung hinüber in den Wohnraum, zu Torbjörn, der in der offenen Tür stand. Seine Winchester krachte und ein Schrei erklang von draußen. Ein weiterer Schuss und es war still, verdächtig still. Vorsichtig wagte Julie es, hinter ihn zu treten. Sie blinzelte und schaute hinaus. Zwei kleine, gescheckte Pferde ohne Sattel standen im Hof. Ihre beiden Reiter lagen ein Stück daneben, regungslos. Julie überlegte einen langen Moment. Es war ihre Pflicht, Menschenleben zu retten, ganz gleich welcher Rasse, Herkunft oder Geschlechts. Das hatte Hardy ihr immer und immer wieder eingebläut, doch das da draußen waren zwei Indianer, die vielleicht nur vorgaben, verwundet zu sein. Vielleicht wollten sie sie auch nur herauslocken, um sie dann umzubringen. Galt für sie nun dasselbe? War es diese Pflicht wert, dass sie sich selbst in Gefahr brachte? Julie schwirrte der Kopf.

„Ich kann keine anderen sehen“, raunte Torbjörn jetzt und schob sich behutsam einen Schritt nach draußen. „Seltsam.“

„Vielleicht dachten sie, mehr brauchen sie für euch beide nicht!“

Julie wagte sich neben ihm ins Freie, ihre Umgebung genau unter die Lupe nehmend, um jede Bewegung sofort wahrzunehmen. Sie konnte niemanden entdecken, kein Geräusch, nichts verriet, ob sich noch mehr Indianer in der Nähe aufhielten. Langsam, jeden Schritt genau bedenkend, ging Julie vorwärts. Nichts geschah. Kein Schuss fiel, kein Pfeil traf sie und auch die beiden Indianer rührten sich nicht. Zuerst trat Julie zu dem einen, der auf dem Bauch lag. Sie scheute sich davor, ihn zu berühren. Er trug Lederkleidung und sein Haar war lang und pechschwarz. Eine Feder war hinein geknotet und er roch seltsam scharf nach Leder, Fell und als habe er neben einem Feuer gestanden, rauchig und schwer.

Sie gab sich einen Ruck und beugte sich über ihn. Es kostete sie einige Kraftanstrengung, ihn auf den Rücken zu drehen. Zwei große, schwarze Augen starrten sie an, ein Rinnsal von Blut lief aus einem Loch in seiner Stirn. Entsetzt fuhr Julie hoch. Zum ersten Mal in ihrem Leben sah sie einen toten, erschossenen Menschen. Sie atmete stoßweise. Er war jung, kaum älter als sie selbst. Vergessen war die Möglichkeit, weswegen die beiden gekommen waren, jetzt siegte ihr Mitgefühl.

Hastig wandte Julie sich ab. Vielleicht lebte zumindest der andere noch. Er lag einige Schritte entfernt, zusammengekauert auf der Seite. Sein glattes, schwarzes Haar hing ihm in langen Strähnen ins Gesicht. Mit einem Blick erfasste Julie den Steckschuss an seinem Bein. Blut floss in Strömen heraus, tropfte auf die feuchte Erde und bildete dort einen dunklen Fleck. Sie kniete sich neben ihn. Behutsam strichen ihre klammen, zitternden Finger die Haare beiseite. Das junge, auf eigene Weise sehr hübsche Gesicht war auf jeder Wange mit zwei weißen Streifen bemalt. Zwei schwarze Augen schauten sie an, doch es waren keine toten Augen, sie waren ausgesprochen lebendig und feindselig. Erschrocken sprang Julie auf, einen leisen Schrei ausstoßend.

Torbjörn hatte mittlerweile die Gebäude umrundet und verkündete, dass er keine weiteren Spuren gefunden habe. Sofort kam er nun zu ihr geeilt, das Gewehr im Anschlag.

„Lebt er etwa noch, dieser rote Teufel?“

„Nicht!“ Fassungslos packte Julie die Waffe. „Du kannst ihn doch nicht einfach erschießen!“

„Warum nicht?“, brüllte Torbjörn. „Glaubst du, er hätte sich um uns geschert?“

„Das darfst du nicht!“, rief Julie und versetzte ihm einen energischen Stoß gegen die Brust. „Das wäre Mord!“

Ungläubig starrte der junge Mann sie an. „Willst...willst du etwa behaupten, du möchtest ihn laufen lassen?“

„Zuerst muss ich die Kugel herausholen und sein Bein verbinden!“

„Ihn auch noch verarzten?“, brüllte Torbjörn. Er schlug mit dem Lauf seiner Winchester nach ihr. „Nicht hier, nicht auf meinem Grund und Boden!“

„Wo denn sonst?“ Ärgerlich schüttelte Julie den Kopf. „Mit in die Stadt nehmen kann ich ihn schlecht. Ich glaube kaum, dass ich ihn dorthin bekomme.“

„Sie hat recht!“ Unbemerkt war Geerjte herausgekommen, um nachzusehen, ob alles in Ordnung war. Keiner von beiden hatte sie kommen bemerkt. „Du kannst diesen jungen Kerl nicht einfach erschießen!“ Ihre blauen Augen ruhten vorwurfsvoll auf ihrem Ehemann. „Das wärst nicht du! Das wäre nicht mehr der Torbjörn, den ich liebe und den ich geheiratet habe!“

Er schluckte. Sein Stolz verbot es ihm, Nachsicht walten zu lassen und sein Zorn war noch immer ungebrochen. Mit einer schnellen, fahrigen Bewegung strich er durch das hellblonde Haar.

„Sie werden zurückkommen!“, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Und dann...“

„Wenn du ihn erschießt, werden sie das ganz bestimmt“, erwiderte Geertje mit einer Schärfe, die ihr kaum zuzutrauen war. „Aber wenn du ihm hilfst, wird er es vielleicht weitererzählen und sie werden uns verschonen!“

Es kostete Torbjörn einige Überwindung, doch die Worte seiner Frau schmerzten ihn. Er erkannte sich ja selbst kaum wieder! Endlich nickte er. „Also gut. Bringen wir ihn ins Haus.“

Zufrieden nahm Geertje ihm das Gewehr ab, damit er Julie helfen konnte, den jungen Indianer hineinzutragen. Kaum jedoch, dass Torbjörn ihn fassen wollte, versuchte dieser aufzuspringen. Hasserfüllt starrten seine dunklen Augen sie an. Sein verwundetes Bein konnte kein Gewicht tragen, es gab unter ihm nach und er sackte zusammen, doch irgendwie gelang es ihm, sich noch zu fangen und er landete nur auf den Knien.

„Wir...wir wollen dir helfen“, sagte Julie. Die großen Augen starrten sie misstrauisch an. Er verstand ganz offensichtlich nichts von dem, was sie sagte. „Helfen!“, sagte sie erneut und deutete auf seine Wunde. Als er nicht reagierte, beugte sie sich hinab und berührte sacht die Stelle, wo die Patrone in das Fleisch gedrungen war. Er zuckte vor Schmerz zurück und Julie wunderte sich über ihren eigenen Mut. Seine unergründlichen Augen fixierten sie noch immer, doch sie glaubte, ein Verstehen darin zu erkennen.

„Komm“, sagte sie und gab Torbjörn einen auffordernden Wink. „Geertje, bitte, bring das Gewehr irgendwohin, wo er es nicht sehen kann!“

Diesmal erlaubte der junge Indianer ihnen, ihn zu stützen und ihn zum Haus zu schleifen. Julie legte ihren Arm um seine kräftigen Schultern und wunderte sich, dass er es mit solch stoischer Ruhe geschehen ließ. Wie eigenartig und fremd musste das alles für ihn wirken, erst recht, nachdem er nichts von ihrem Gespräch zu verstehen schien. Sie hatten ihm noch nicht einmal das Messer weggenommen und halfen ihm stattdessen ins Haus! War es schiere Leichtfertigkeit oder waren sie einfach nur vollkommen dumm und naiv? Julie beobachtete ihn genau. Schweiftropfen bildeten sich auf seiner Stirn und sie fragte sich, ob sie von den Schmerzen verursacht wurden oder ob ihm ebenfalls so ungeheuerlich zumute war wie ihnen.

„Legt ihn auf den Tisch“, ordnete Geertje an, die vorausgeeilt war und das Gewehr hinter den Ofen stellte. „Ich koche Wasser auf!“

„Und ich werde die beiden Pferde einfangen und seinen Kumpanen darauf festbinden, damit er ihn später mitnehmen kann“, erklärte Torbjörn mit einem letzten, kritischen Blick auf den jungen Indianer, ehe er sich abwandte und hinauseilte. Er traute dem Kerl nicht, genauso wenig wie dieser ihnen traute.

„Was wirst du jetzt tun?“, fragte Geertje. Die Aufregung und Furcht war ihr anzumerken.

„Ich muss versuchen, die Kugel zu entfernen und die Blutung zu stillen“, entgegnete Julie, während sie bereits mit einem Messer das lederne Hosenbein aufschnitt, um sich die Wunde ansehen zu können. „Reiß irgendein sauberes Leintuch in Streifen“, bat sie, ohne aufzusehen. Der junge Mann musste große Schmerzen haben, denn er ballte seine Hände zu Fäusten und hörte nicht auf, mit den Zähnen zu knirschen. Julie arbeitete flink und geschickt. Sie hatte nur ein einziges Mal dabei zugesehen, wie Doktor Retzner einem jungen Cowboy eine Kugel entfernt hatte und das war in St. Louis gewesen. Sie konnte sich jedoch an alles exakt erinnern, was er ihr damals erklärt hatte. Sie wusste, welches Risiko sie einging. Ein falscher Schnitt und das Leben dieses jungen Indianers wäre vorüber, aber sie hatte keine andere Wahl. Mit der Kugel im Bein stand es ebenso schlecht um ihn. Sie bemühte sich, die Messerschneide schnell und gezielt zu setzen, um an die Kugel heranzukommen. Bald waren ihre Finger blutverschmiert, doch sie spürte unter der Haut und dem Fleisch, dass sie diese gleich zu fassen bekommen würde.

Sie wusste nicht, wie lange sie gebraucht hatte, dann hielt sie die Kugel zwischen den Enden der Pinzette und wunderte sich, welch mächtige Geschoße ein Gewehr abzufeuern vermochte. Hastig schüttete sie etwas Alkohol über die Wunde, ehe sie ein Stück des Leintuchs darauf presste und mit einem weiteren Streifen festband.

Erst jetzt richtete sie ihre Augen wieder auf das Gesicht des jungen Indianers. Seine Augen starrten regungslos zur Decke, die Lippen zu einem schmalen Streifen zusammengebissen. Nicht ein Laut, nicht eine Klage war während der ganzen Prozedur aus seiner Kehle gekommen. Julie hatte nicht bemerkt, dass Geertje die ganze Zeit über neben ihm gestanden und ihm mit einem feuchten Lappen den Schweiß vom Gesicht gewischt hatte. Dabei waren auch die beiden weißen Streifen auf jeder Wange abgewaschen worden und jetzt wirkte er nicht mehr ganz so furchterregend. Fasziniert betrachtete Julie sein kantiges Gesicht. Es war von eigentümlich bräunlicher Farbe, wie sie es noch nie zuvor gesehen hatte. Er schien ihren Blick zu bemerken, denn seine dunklen Augen suchten die ihren. Im Schein des Feuers, das im offenen Kamin brannte, leuchteten Julies bernsteinfarbene Augen beinahe golden und sie lächelte – weshalb, sie wusste es nicht. Sie lächelte einfach auf diesen fremden, jungen Wilden hinab, dem sie womöglich soeben das Leben gerettet hatte. Es war ihr unmöglich einzuschätzen, ob er es schaffen konnte oder nicht. Sie war kein Arzt, sie war nur ein törichtes Mädchen, das gelernt hatte, einem studierten Mediziner zu assistieren. Nie wieder, das schwor sie sich, würde sie es wagen, eine Operation auf eigene Faust durchzuführen, ganz gleich unter welchen Umständen.

„Hier!“ Geertjes leise Stimme riss sie aus den Gedanken. Noch immer starrte der junge Mann sie mit undefinierbarem Ausdruck an. Kein Zucken einer Wimper verriet, was in ihm vorging.

„Oh!“, machte Julie dankbar und tauchte ihre Hände in die Schüssel kalten Wassers. Das Blut hatte bereits zu trocknen begonnen und war nur schwer wieder abzuwaschen. Sie fühlte sich furchtbar müde und wie erschlagen. Erst jetzt fiel ihr auf, wie dunkel es durch die Regenwolken draußen geworden war.

„Du liebe Güte!“, entfuhr es ihr, als sie die Bäche von Wasser bemerkte, die vom Himmel stürzten und auf das Dach des Hauses trommelten.

„Ja“, erwiderte Geertje. „Kein besonders gutes Wetter für deinen langen Heimritt!“

Julies Blick richtete sich wieder auf den Indianer. „Wir lassen ihn noch ein wenig liegen. Ich bin sicher, er wird entweder darauf aus sein, uns den Garaus zu machen oder zu entkommen. Aber ich würde sagen, er ist zu beidem nicht in der besten Verfassung.“

„Soll ich ihm etwas zu trinken geben? Vielleicht Kaffee?“, fragte Geertje.

„Lieber nicht!“ Julie schüttelte den Kopf. „Lieber Wasser, denn ich bezweifle, dass er Kaffee jemals zu sich genommen hat.“

Bald darauf kam Torbjörn zurück, durchnässt und verdreckt. Er betrachtete den ungeladenen Gast in seinem Hause misstrauisch, während er Holz nachlegte und sich an den Kamin stellte.

Julie saß auf einem Stuhl neben dem Tisch. Sie beobachtete den jungen Indianer, der ihr von Zeit zu Zeit einen prüfenden Blick zuwarf. Seine Miene hatte sich ein wenig entspannt, die Schmerzen schienen allmählich erträglicher zu werden. Es war Julie unmöglich, ihren Blick von ihm abzuwenden. Einerseits war sie fasziniert von seinem fremdartigen Aussehen, andererseits spürte sie eine tiefe Furcht vor ihm. Sein schwarzes Haar hing lang, bis fast auf seine Hüften hinab und jetzt über den Rand des Tisches. Behutsam streckte Julie den Arm aus, um es zu berühren. Es fühlte sich fest und dick an, fast ein wenig wie der Schweif eines Pferdes. Die großen, dunklen Augen beobachteten sie genau, doch schienen sie nicht zu wissen, was sie davon halten sollten. Schnell, über ihr eigenes Verhalten entsetzt, zog Julie ihren Arm zurück und sprang auf.

„Ich glaube, es ist Zeit, dass er versucht, aufzusitzen.“ Sie wartete nicht ab, bis Torbjörn ihr zu Hilfe kam, sondern griff nach dem muskulösen Arm und zog daran. Der junge Indianer verstand. Langsam richtete er sich auf, seine Hand griff nach seinem Oberschenkel. Kein Zucken, keine Veränderung seiner Miene verriet, ob er Schmerzen verspürte oder nicht. Er schwang die Beine vom Tisch und belastete das unverletzte rechte.

Zweifelnd runzelte Torbjörn die Stirn. „Glaubst du wirklich, dass er reiten kann?“

„Er wird müssen“, erwiderte Julie leise. „Du wirst ja kaum heute Nacht ein Auge auf ihn werfen wollen!“

„Auf keinen Fall!“, rief Torbjörn prompt und beobachtete, wie der junge Indianer zur Tür humpelte, noch immer von Julie gestützt.

Einen Augenblick zögerte er, als ihm der kalte, prasselnde Regen entgegenschlug, doch dann erblickte er die beiden Pferde an dem Strauch, neben Julies Fuchs, direkt am Haus. Zwei Schritte genügten, um sie zu erreichen. Sie ließ ihn los und trat zurück. Sie musste noch immer damit rechnen, dass er Rache nahm und das ausführte, weshalb sie vermutlich hergekommen waren – nämlich, die kleine Farm zu plündern und die Stromsons zu ermorden.

Nur mit Hilfe seiner muskulösen Arme zog er sich auf den Rücken des Braunschecken, dann griff er nach den Zügeln des anderen Pferdes. Er warf einen letzten, abschätzenden Blick zurück auf die drei Weißen, die im Eingang des Hauses standen und ihn beobachteten. Er schien ihnen noch immer nicht zu trauen, denn er trieb sein Reittier sofort in Galopp und preschte mit ihm davon, den sanften Anstieg hinauf und war im nächsten Moment hinter den Bäumen verschwunden.

„Grund gütiger!“, entfuhr es Geertje und sie atmete auf. „Was für ein Tag!“

„Einer der Soldaten aus dem Fort hat mir erzählt“, sagte Torbjörn, die Augen zusammenkneifend, „dass die Bemalung des Gesichts bedeutet, dass sie sich auf dem Kriegspfad befinden.“

„Auf dem Kriegspfad?“, wiederholte Julie, während ihr ein kalter Schauer über den Rücken lief. „Um Himmels Willen! Ich muss sofort zurück zur Siedlung! Vielleicht haben sie dort auch zugeschlagen und es waren deshalb bloß zwei von ihnen hier, bei euch!“

Geistesgegenwärtig war Torbjörn ins Haus zurückgeeilt, um Julies Instrumententasche zu holen. Julies Hände zitterten, als sie diese am Sattel festknotete. Der Regen fiel noch immer in großen Tropfen auf sie herab; sie nahm es kaum wahr. Während sie einem dieser Indianer, von dem sie weder einen Namen, noch sonst etwas wusste, die Kugel entfernt hatte, war der Rest vielleicht in die Siedlung eingedrungen! Bilder, die ihr Entsetzen und ihre Panik nur noch verstärkten, erschienen vor Julies Augen. Sie konnte sich noch genau an den Brand der beiden Häuser erinnern, die durch die Pfeile der Indianer entstanden waren und sie hörte noch immer die Schüsse aus den Colts und Gewehren der Verfolger. Nie würde sie das vergessen können, niemals.

Sie winkte den Stromsons zum Abschied, ehe sie den Fuchs antrieb, der dankbar in einen runden, ausgreifenden Galopp fiel. Er stand seit über drei Stunden nun schon in der Kälte und dem Regen und er wollte nach Hause, in seinen warmen, gemütlichen Stall und zu seinem Futter.

Julie merkte kaum, wie die mittlerweile vertraute Landschaft an ihr vorbeiflog. Sicher trug der Wallach sie über Steine und Geröll, Büsche und Kaninchenlöcher hinweg ohne zu straucheln. Sie ließ ihm die Zügel lang und er suchte sich seinen Weg alleine. Er kannte ihn und sein innerer Instinkt lenkte ihn besser, als je ein Mensch dazu fähig gewesen wäre.

Hinter der nächsten Biegung des kaum sichtbaren Pfades lag die Siedlung und Julie atmete erleichtert auf, als sie alle Häuser unversehrt vor sich auftauchen sah. Sie zügelte den Fuchs und ließ ihn im langsamen Trab die Hauptstraße hinablaufen. Er schnaubte laut und keuchend und bockte ein wenig. Er schien trotz des langen, schnellen Rittes noch nicht erschöpft zu sein. Vor der Praxis von Doktor Retzner hatte sich ein Menschenauflauf gebildet und Julie kniff verwundert die Augen zusammen. Es schien ihr, als seien alle Bewohner hier zusammengekommen, sogar die Frauen und einige Kinder. Hinter den Menschen erblickte sie einige Pferde und Soldaten und in dieser Sekunde wusste sie, dass etwas geschehen sein musste.

„Juliane!“ Der Aufschrei ihrer Mutter brachte Bewegung in die Gruppe und aufgeregte Rufe und erleichtertes Geschrei schlugen ihr entgegen.

„Julie!“ Hardy war als erster bei ihr, zog sie aus dem Sattel, schüttelte sie. „Sind Sie in Ordnung? Ist Ihnen auch nichts passiert?“

Verständnislos blinzelte Julie ihn an. „Nein! Was soll mir denn passiert sein?“

Jetzt erreichten auch ihr Vater, Hugh und Nikolaus sie. Ihr kleiner Bruder umarmte sie stürmisch und presste sein Gesicht gegen ihren Bauch.

„Gott sei Dank!“ Friedrichs große, rauhe Hand fuhr ihr durch das zerzauste Haar. „Dir ist nichts geschehen!“

„Was ist denn los mit euch?“ Kopfschüttelnd blickte Julie in die Runde. Sie gab sich ahnungslos. „Ich bin doch nur zu den Stromsons hinausgeritten!“

„Die Cherokees!“, stieß Friedrich aufgeregt hervor. „Sie befinden sich auf dem Kriegspfad! Sie haben einen Siedlertreck kurz vor dem Fort überfallen und alle umgebracht, alle! Männer, Frauen und Kinder und die Tiere haben sie mitgenommen!“

„Was bin ich froh, dass dir nichts geschehen ist!“ Tränen glänzten in Luises Augen und sie streichelte kurz die Wange ihrer Tochter, eine Geste, die Julie überhaupt nicht von ihr kannte. Sie blickte in die Runde. Auch Hugh lächelte erleichtert und Nikolaus wollte sie überhaupt nicht mehr loslassen, ebensowenig wie Hardy, dessen Arm noch immer beschützend um ihre Schulter lag. Verwirrt fasste Julie sich an die Schläfen. Siedlertreck...Kriegspfad...Tote... Sie schloss die Augen. Die Erschöpfung und Aufregung der letzten Stunden war auf einmal zu viel. Sie konnte sich nicht einmal jemandem mitteilen, zumindest nicht sofort. Dabei war sie so stolz auf sich selbst auf sich und ihre Fähigkeiten!

„Sie sind ja ganz blass“, stellte Hardy auf einmal fest und dann hob er sie auch schon auf seine Arme, ehe sie überhaupt protestieren konnte. „Das muss der Schock sein! Hugh, mach’ mir die Türe auf! Ich bringe sie erstmal in die Praxis!“

Julie verspürte einen eigenartigen Schwindel und dann merkte sie nur noch, wie Doktor Retzner sie fort trug, zwischen den anderen Bewohnern ihrer Stadt hindurch und wie das Stimmengewirr über ihr zusammenschlug.

Als Julie wieder zu sich kam, war es draußen bereits finstere Nacht. Sie blinzelte, denn das schwache Licht der Petroleumlampe blendete sie im ersten Moment. Als nächstes fiel ihr Blick auf Hardy, der sich lächelnd über sie beugte und danach auf Hugh, der nur einen Schritt daneben stand.

„Na?“, fragte der Österreicher auf Deutsch und in seinem typischen, breiten Akzent. „Sind wir wieder zurückgekehrt?“

„Was...ist denn?“, fragte Julie, noch immer benommen. „Sind die Cherokees...“

„Nein, nein“, unterbrach Hardy sie beruhigend. „Sie sind mitten auf der Straße zusammengebrochen!“

„Mir geht’s gut“, versicherte Julie und wollte sich aufrichten, doch zwei Hände hielten sie zurück.

„Immer schön der Reihe nach!“ Hardy lächelte. „Erzählen Sie mir lieber, was Sie angestellt haben, dass Sie so lange weg gewesen sind! Ist mit Geertje alles in Ordnung? Sie hat das Kind doch nicht etwa verloren? Oder haben Sie bei einer Schafgeburt geholfen?“

Er hob ihre Hände hoch, damit sie sehen konnte, dass sich unter ihren Fingernägeln noch immer Blut befand. Julie verzog den Mund. Am liebsten hätte sie es vorerst für sich behalten. Sie fühlte sich viel zu müde und erschöpft, um jetzt zu berichten, was geschehen war, doch zwei Augenpaare ruhten gespannt und drängend auf ihr und sie seufzte leise.

„Nichts weiter ist passiert“, sagte sie leise, auf ihre Hände starrend. „Geertje geht es bestens.“

„Was hast du dann angestellt?“, wollte nun auch Hugh wissen und drückte ihr brüderlich den Unterarm.

Eine lange Pause entstand. Schließlich zuckte Julie die Schultern. Es hatte keinen Sinn, länger zu schweigen. Spätestens, wenn Torbjörn das nächste Mal in die Stadt kam, um im General Store Besorgungen zu erledigen, würden es alle erfahren. Diese Vorstellung war ihr unangenehm.

„Ich...ich habe einem Indianer eine Kugel entfernt“, erklärte sie leise.

„Sie haben – was?!“ Ungläubig packte Hardy sie an den Schultern. „Wissen Sie eigentlich, was Sie da reden?“

„Ja“, entgegnete Julie ernst. „Ich sage die Wahrheit. Zwei von ihnen wollten die Farm überfallen und Torbjörn hat auf sie geschossen. Der eine war gleich tot und der andere hatte einen Steckschuss im linken Oberschenkel. Ich habe ihm die Kugel herausgeschnitten und nach etwa zwei Stunden ist er auf sein Pferd gestiegen und davongeritten.“

„Gott, Julie!“ Ungläubig schüttelte Hardy den Kopf und auch Hugh musste sich mit den Händen übers Gesicht fahren. „Sie hätten tot sein können, verstehen Sie? Tot! Wenn sich diese Indianer auf dem Kriegspfad befinden, sind sie zu allem fähig! Und sie machen keinen Unterschied zwischen Mann, Frau oder Kind! Das haben Sie doch vorhin gehört!“

Tränen brannten in den bernsteinfarbenen Augen. „Aber...“, brachte sie stockend hervor. „Ich habe ihm doch bloß geholfen! Das war doch meine Pflicht! Ich konnte doch nicht zulassen, dass Torbjörn ihn erschießt!“

Zerstreut tätschelte Doktor Retzner ihr die Hand, ehe er sich durch das blonde Haar fuhr. „Nein...nein, Julie-Mädchen. Natürlich konntest du das nicht!“

Er wandte sich ab und trat ans Fenster, um hinauszustarren. Dafür setzte Hugh sich neben seine kleine Schwester und strich ihr das vom Regen zerzauste, struppige Haar aus der Stirn. Er lächelte, doch seine braunen Augen blickten besorgt. „Du bist vollkommen verrückt. Was machst du nur für Sachen?“

„Nichts“, erwiderte Julie leise und biss sich auf die Lippen. „Nichts, außer, dass ich einem Menschen vielleicht das Leben gerettet habe.“

„Er wollte euch überfallen!“ Hugh versuchte, ihr Vernunft einzubläuen, ihr begreiflich zu machen und sah sich doch außerstande dazu. „Er wollte euch umbringen! Er hätte keine Gnade gekannt!“

„Das hat Torbjörn auch gesagt.“ Julie schluckte. „Aber hätte ich ihn deswegen sterben lassen dürfen? Hätte ich das denn vor unserem Glauben, der Kirche und Gott verantworten können?“

Hugh senkte den Blick und schwieg. Er konnte darauf nichts erwidern, denn er wusste die Antwort selbst nicht. Gab es denn nicht den einen, wichtigen Grundsatz, dass alle Menschen gleich waren und damit auch die Indianer? Weshalb verfiel er nur zu gern in die Angewohnheit, sie außen vor zu lassen, sie als etwas Minderwertiges zu sehen?

Julies leise Stimme riss ihn aus den Gedanken: „Er hat doch dasselbe Recht hier zu sein, wie wir, oder etwa nicht? Eigentlich hat er sogar noch viel mehr Rechte als wir, denn das ist doch immer noch sein Land! Ihr wart doch diejenigen, die immer gesagt haben, wir hätten es uns geraubt! Hat er dann nicht jede Rechtfertigung dafür, uns fortjagen zu wollen?“

Hugh und Hardy wechselten einen langen, kritischen Blick. Sie kannten die Antwort darauf. Sie alle kannten die Wahrheit und wollten sie doch nicht aussprechen – nicht aussprechen und sie sich auch nicht eingestehen.

Wind über der Prärie

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