Читать книгу Wind über der Prärie - Regan Holdridge - Страница 8

Die Siedlung

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„Ruhe!“, brüllte Hugh aus Leibeskräften und schlug mit dem langen Zeigestock auf den einfachen Holztisch, der sein Pult darstellte. „Ruhe, habe ich gesagt! Verdammt nochmal! Ihr macht alle die doppelten Hausaufgaben, wenn ihr nicht auf der Stelle euren Mund haltet!“

Schlagartig war es mucksmäuschenstill in der winzigen Hütte, die lediglich deshalb als die hiesige Schule erkannt wurde, weil ein großes Schild über dem Eingang darauf hinwies. Ansonsten unterschied sie sich nicht von der einfachen Bauweise aller anderen Gebäude. Hugh atmete auf. Die mehr als fünfzig Kinder überforderten ihn bisweilen, denn sie merkten, dass er viel zu gutmütig war, als dass er je dazu fähig gewesen wäre, seinen Stock zur Prügelstrafe einzusetzen. Er ließ einen strengen Blick über seine Schüler gleiten, ehe er sie aufforderte: „Schlagt das Englischbuch auf! Wir machen auf Seite zweiundzwanzig weiter!“

Es gab längst nicht genug Bücher für alle und es mussten sich mindestens immer zwei Kinder ein Buch teilen. Hugh seufzte innerlich. Er war kein guter Lehrer. Er hatte nur versuchen können, das Beste aus der Situation zu machen. So hatte er die Kinder in etwa drei gleich starke Gruppen eingeteilt: Die, die noch gar nichts konnten – weder schreiben, noch lesen oder rechnen; diejenigen, die in ihrer Heimat zumindest schon einmal eine Schule besucht hatten und die größeren, die ohnehin bald zur Arbeit gehen würden, anstatt hier herumzusitzen und sich von ihm etwas sagen zu lassen.

Der Reihe nach ließ Hugh jedes von ihnen einen Satz des Textes lesen, denn es lag ihm viel daran, dass sie alle in kurzer Zeit ein perfektes Englisch beherrschten. Das war in seinen Augen das Wichtigste, wenn sie in diesem Land überleben oder es gar zu etwas bringen wollten. Sein Blick fiel auf die Turmuhr der Kirche, die schräg gegenüber auf der anderen Straßenseite stand. Die ersten Gräber waren auf der Wiese dahinter hinzugekommen. Einer der älteren Männer war an Herzversagen gestorben und zwei der Kleinkinder einer Darminfektion erlegen. Langsam schlug Hugh das Buch zu. Er würde heute fünf Minuten früher aufhören, er war heute weder in Stimmung, noch besaß er die Motivation, die unruhigen Kinder zurückzuhalten, denn die wussten natürlich instinktiv, dass es jeden Augenblick für diesmal überstanden war.

„In Ordnung!“, sagte Hugh und hob die rechte Hand. „Ihr kennt eure Hausaufgaben! Wir sehen uns morgen und seid bitte pünktlich! Bei ein paar steht der dritte Strafpunkt wegen Zuspätkommens an und ihr wisst, was das bedeutet!“

Er brach ab. Von überall her ertönten die „Auf Wiedersehen!“-Rufe und mit lautem Geschrei stürzten die Kinder nach draußen. Hugh seufzte und verdrehte die Augen. Ja, seine lieben Schüler wussten ganz genau, was ein dritter Strafpunkt wegen Zuspätkommen bedeutete – nachsitzen. Ihm allerdings graute bei dieser Vorstellung noch viel mehr als den Kindern vermutlich. Er hasste es, sich mit ein paar einzelnen herumzuärgern, die ihm dann auch noch grollten und sowieso nichts anderes wollten als nach draußen, um mit ihren Freunden zu spielen. Selbst Nikolaus war heute gleich hinausgerannt, ohne auf ihn zu warten. Hugh schmunzelte. Nun, auch Nikolaus wurde im nächsten Jahr bereits dreizehn und er begann ganz allmählich, sich auf eigene Beine zu stellen und sich von seiner Familie abzunabeln.

Hugh packte seine Bücher und die Arbeitsblätter zusammen. Draußen pfiff ein eisiger Wind um die Häuser. Es war mittlerweile November und der erste Schnee lag, zwar dünn aber immerhin, auf der Prärie und den Bäumen.

„Grüß dich, grießgrämiges Brüderchen!“, sagte eine lachende Stimme vom Eingang her und Hugh musste nicht den Blick heben, um zu wissen, wer es war.

„Was für eine Begrüßung ist das denn? Du hörst dich schon an, wie einer dieser Herumtreiber!“ Er grinste sie überlegen an. „Heute gar nicht unterwegs?“, fragte er scheinheilig, wusste er doch, dass seine Schwester keine Gelegenheit entgehen ließ, sich in den Sattel des Fuchshengstes zu schwingen – zum Leidwesen ihrer Mutter.

„Ich war schon längst“, erwiderte Julie und kam zu ihm geschlendert, um sich auf sein Pult zu setzen. „Zuerst war ich bei den Stromsons, dann bin ich zu Miklós und seiner Frau, beide hat die Grippe erwischt und danach waren wir draußen, bei dem Siedlertreck, der vor der Stadt lagert. Hardy meint, ein paar hätten Typhus.“

„Typhus?“, wiederholte Hugh alarmiert und starrte sie an. „Pass bloß auf, dass du dich nicht ansteckst!“

„Ja, ja!“, machte Julie ungeduldig. „Wusstest du, dass sie sich bei uns niederlassen wollen?“

„Nein“, gab Hugh zurück und schloss seine Tasche. „Das einzige, was ich weiß ist, dass vorher ein paar Soldaten vom Fort aufgekreuzt sind und sich gleich mit Vater und Sheriff O’Connor zusammengesetzt haben.“

Burt O’Connor war Ire und gleich nach ihrer Ankunft zum Sheriff ernannt worden. In seiner Heimat hatte er bei der Gendarmerie gedient und schien somit prädestiniert für den Posten als Ordnungshüter. Zu tun gab es ohnehin nicht viel für ihn, abgesehen von den regelmäßigen Samstagabend-Schlägereien. Wenn im Saloon große Tanzabende veranstaltet wurden, bekamen sich immer wieder junge Männer in die Haare oder brachen mit ein paar Soldaten vom Fort einen Streit vom Zaun, die sich eingeschlichen hatten – verbotenerweise natürlich.

„Das bedeutet nichts Gutes“, entfuhr es Julie und ihre Stirn legte sich in viele kleine Falten.

Neckend zwickte Hugh sie in die Rippen. „Du kannst dich ja im Ernstfall bei Hardy verstecken! Der passt bestimmt sehr gern auf dich auf!“

„Bei Hardy?“ Verständnislos schaute Julie ihn an. „Wie kommst du ausgerechnet auf Hardy?“

„Jetzt tu’ doch nicht so unschuldig“, grinste Hugh. „Glaubst du, es wüsste nicht längst jeder in der Stadt, dass ihr ineinander verliebt seid?“

Julie lachte laut auf. Endlich begriff sie. „Verliebt? Ich und Hardy? Ha, das ist das Lustigste, was ich seit langem gehört habe! Verliebt! Ich in Hardy! So ein Unfug!“

Verdutzt hielt Hugh in seiner Bewegung inne. „Du meinst, ihr habt nicht die Absicht, irgendwann zu heiraten?“

„Heiraten?“, stieß Julie prustend hervor. „Ich will Hardy doch nicht heiraten! Er ist nett, sehr nett sogar, aber doch kein Mann, den ich heiraten würde!“

Hugh schluckte und kratzte sich verlegen an der Schläfe. Er kannte den österreichischen Arzt mittlerweile gut genug, um zu merken, dass dieser ganz andere Gefühle für seine kleine Schwester hegte, als diese offensichtlich für ihn.

„Hardy ich doch kein Mann für mich“, erklärte Julie jetzt, sehr ernst. „Er ist ein guter Freund, aber verliebt? Nein! Wieso sollte ich ihn also heiraten wollen?“

Hugh unterdrückte ein Schmunzeln. „Weißt du überhaupt, wie sich das anfühlt? Wenn man verliebt ist, meine ich?“

Ein verträumter Ausdruck legte sich auf das runde Gesicht seiner Schwester. „Ja, ich glaube schon und dabei weiß ich nicht einmal, wie er heißt. Ich bin ihm nur ein einziges Mal begegnet, aber als ich angesehen habe... Hugh, noch nie hat ein Mensch solche Gefühle in mir ausgelöst. Ganz plötzlich habe ich gewusst, dass ich mich in ihn verliebt habe. Ist das nicht eigenartig?“

„Nein“, erwiderte ihr großer Bruder. „Nein, ich glaube nicht. Es ist etwas ganz Natürliches, was jeder irgendwann einmal erfährt!“

„Ach, spielt ja keine Rolle. Wahrscheinlich werde ich ihn sowieso nie wiedersehen.“ Julie seufzte, ein wenig betrübt. Sie hatte immer wieder an ihn denken müssen in den zurückliegenden Monaten, seitdem sie hier angekommen waren. Jedesmal, wenn Soldaten vom Fort herübergekommen waren, hatte sie Ausschau gehalten, ob er mit dabei wäre, doch kein einziges Mal hatte sie ihn entdecken können. „Wahrscheinlich ist er längst woandershin versetzt worden.“

Hugh hielt verdutzt inne. „Einer der Soldaten vom Fort?“

Julie lächelte weggetreten. „Er war an dem Tag mit Captain Harbach am Tor gestanden, als wir angekommen sind.“

„Da waren ein paar Männer“, erinnerte sich Hugh sehr vage.

„Er war groß und blond und er hatte die blausten Augen, die ich jemals gesehen habe.“

Hugh lachte, ein wenig belustigt und kratzte sich am Kopf. „Du bist schon ein wenig zurückgeblieben, Schwesterchen. Du hast kein Wort mit ihm gewechselt und glaubst, in ihn verliebt zu sein! Sieh lieber zu, dass du dich in Hardy verliebst! Damit wäre uns allen geholfen!“

Julie schwieg. Sie wollte doch gar nicht Hardy lieben! Sie schreckte bei der Vorstellung zurück, mit einem Mann verheiratet zu werden, den ihr Vater als gut befand und für den sie aber nicht die nötigen Gefühle empfand. Sie wollte nicht heiraten, weil es praktisch war! Das Leben musste doch noch mehr zu bieten haben, als jemanden zu ehelichen, den ihre Eltern als recht und anständig empfanden, um danach als Hausfrau und Mutter zu enden. Es musste einfach noch mehr geben! Es konnte nicht alles im Leben einer Frau sein, bloß Mutter und Misses Sowieso zu werden!

„Lass uns nach Hause gehen“, meinte Hugh und schob sie zur Tür hinaus, wobei er sie aus ihren trostlosen Überlegungen bezüglich ihrer Zukunft riss. „Dann ziehst du dir erstmal diesen verdammten Reitrock und die Stiefel aus und kleidest dich, wie es sich für eine anständige Frau unserer Gesellschaft gehört! Und dann bekommst du Tanzstunden von mir, damit du dich unter die anderen jungen Leute mischen kannst und nicht ständig nur über irgendwelchen Büchern sitzt! Vielleicht ist ja unter den neuen Siedlern einer dabei, der dir als Ehemann taugt!“

Er hielt sie am Ellenbogen fest, als fürchtete er, sie könnte ihm entwischen. Nur widerwillig ließ Julie sich von ihm hinterdrein zerren. Ihr rebellisches Wesen schrie in ihr, dass sie sich das nicht gefallen lassen dürfe, dass sie anständig gekleidet war – jedenfalls für ihren Geschmack – und dass sie überhaupt nicht tanzen können wollte! Doch eher hätte sie sich die Zunge abgebissen als jetzt, hier auf der Straße und in aller Öffentlichkeit, einen Streit mit Hugh vom Zaun zu brechen. Sie wusste aus Erfahrung, dass er den größere Dickschädel von ihnen beiden besaß und nicht locker ließ, ehe er seinen Willen nicht durchgesetzt hatte.

Vor der Arztpraxis standen drei Pferde angebunden und an der Art ihrer Sättel und Zaumzeuge war zu erkennen, dass sie vom Fort sein mussten. Also war die Besprechung noch immer nicht beendet. Weder Hugh, noch Julie sprachen ein weiteres Wort, ehe sie bei ihrem Haus angelangt waren.

„Nein!“, schrie Doktor Retzner und schlug so heftig mit der Hand auf den Tisch, dass alle, die rundherum versammelt standen, erschrocken zurückfuhren. „Nein, nein, nein!“

„Aber Hardy!“, versuchte Friedrich ihn zu besänftigen. „Captain Harbach will doch nur unsere Sicherheit und...“

„Was Captain Harbach will“, fiel Doktor Retzner ihm wutentbrannt ins Wort, „ist, gegen ein Volk sein Gewehr erheben, das alle Rechte auf seiner Seite hat, uns von hier zu vertreiben!“

„Diese roten Teufel haben überhaupt keine Rechte, nach unserem Gesetz!“, rief Sheriff O’Connor.

Ein scharfer Blick Doktor Retzners traf ihn. „Nach dem Gesetzbuch vielleicht nicht, aber es gibt noch ein anderes Gesetz und zwar das des Christentums und der Menschlichkeit und das zählt in meinen Augen mehr als jedes andere! Selbst, wenn wir uns auf die Paragraphen der Vereinigten Staaten von Amerika berufen, befinden wir uns auf Grund und Boden den diese Regierung den Indianern zugesprochen hat!“

„Die Verhandlungen zwischen Washington und den oberen Häuptlingen wurden bereits wieder aufgenommen!“, mischte Captain Harbach sich jetzt ein. „Es gibt mehrere Anträge im Kongress, um das Land für die Besiedlung freizugeben. Im Moment ist alles jedoch in der Schwebe, obwohl ich fest davon überzeugt bin, dass es früher oder später passieren wird. Es ist nur eine Frage von Tagen, bis der große Run auf das Land beginnt. Wir können die ganzen Trecks jetzt schon nicht mehr kontrollieren, die über sämtliche Grenzen in das Territorium strömen. Im Übrigen, mein lieber Doktor: Wenn Sie solche Bedenken haben, weshalb sind Sie dann überhaupt hierher gekommen?“

„Offen gestanden frage ich mich das allmählich auch!“, stieß Hardy zornig hervor. „Dieser unselige Mensch, von dem wir hergebracht worden sind, hat uns hier sozusagen abgeliefert und sich dann mitsamt unserem Geld aus dem Staub gemacht! Wertvolle Dollars, die wir ihm nur dafür bezahlt haben, dass er uns in eine Gegend bringt, die uns nicht zusteht! Das einzige, was wir tun könnten wäre, wieder abzuziehen und diesen Raub rückgängig machen!“

„Dieses Land ist viel zu fruchtbar und wertvoll, als dass wir es einfach diesen Wilden überlassen können!“, rief Sheriff O’Connor aufgebracht.

„Ah, machen Sie sich nicht lächerlich!“, brüllte Doktor Retzner und fuhr ruckartig herum. „Macht doch alle, was ihr wollt!“

„Na, na!“ Beschwichtigend hob Captain Harbach den Arm. „Immer mit der Ruhe! Bisher haben wir nicht allzu viele Opfer der Indianerüberfälle zu beklagen. Ein paar einzelne Siedlertrecks und Farmen, aber ich kann Ihnen nicht versprechen, ob nicht Ihr Ort der nächste sein wird! Morgen früh werden ich und ein paar Männer hinausreiten, um mit dem Häuptling der Cherokees zu verhandeln. Vielleicht können wir sie davon überzeugen, ihr Kriegsbeil zu begraben und mit diesen verdammten Überfällen solange aufzuhören, bis es zu einer Einigung mit der Regierung kommt.“

„Nur verhandeln?“, fragte Friedrich und runzelte bedenklich die Stirn. „Meinen Sie, die hören auf Sie?“

Captain Harbach hängte seine Daumen am Revolvergürtel ein. „Verehrter Pastor! Die Strategie, mit der ich gegen die Indianer und ihre Überfälle vorgehe, müssen Sie schon mir überlassen! Die Regierung sieht es nunmal nicht besonders gern, wenn in unserem Gebiet ständig irgendwelche Trecks oder Kutschenkolonnen überfallen werden, denn das nächste könnte unsere Eisenbahn sein, die das Holz Richtung Norden liefert und das wollen wir keinesfalls riskieren!“ Er gab seinen beiden Soldaten einen Wink. „Und jetzt entschuldigen Sie mich, ich muss zurück zum Fort. Es gibt noch eine Menge Vorbereitungen zu treffen, bevor ich morgen aufbreche. Ich werde Ihnen ein paar meiner Männer dalassen, für alle Fälle. Ich traue dem Frieden der letzten Tage nicht. Sie wissen jetzt über alles Nötige Bescheid. Geben Sie es an die restlichen Bewohner weiter und sagen Sie diesen Greenhorns vor den ersten Häusern, sie sollen ihre Wagen gefälligst in einem Kreis aufstellen und ihre Tiere in die Mitte nehmen!“

„Ist gut! Mache ich sofort!“, versprach Sheriff O’Connor und schickte sich an, hinter dem Captain und den beiden Soldaten die Praxis zu verlassen. Nur Friedrich blieb zurück und beobachtete, wie Doktor Retzner die vier Männer mit einem finsteren Blick bedachte, als sie die Türe hinter sich zuschlugen.

Müde räkelte Nikolaus sich in seinem Bett. Die Nacht brach um diese späte Jahreszeit früh herein und ein anstrengender Nachmittag lag hinter ihm, denn er hatte Miklós im Stall geholfen, nachdem dieser mit seiner Grippe kaum aufzustehen vermochte.

„Schneit es draußen?“, fragte er seine Mutter, die die beiden Wolldecken über ihm ausbreitete.

Luise lächelte sanft und strich ihm das braune, widerspenstige Haar aus der Stirn. „Ja, es schneit ganz große, schwere Flocken!“

„Ich will hinausschauen!“, rief der Junge und wollte aufspringen, doch seine Mutter hielt ihn zurück.

„Oh nein! Du bleibst im Bett und schläfst!“ Sie lächelte und drückte ihm einen Kuss auf die Stirn. „Und wenn du morgen früh aufstehst, ist die ganze Welt weiß und sagt dir, dass der erste Advent bald vor der Tür steht!“

„Und dann kommt bald Weihnachten“, sagte Nikolaus glücklich lächelnd und gähnte laut. „Nicht wahr, Mutti? Dann ist auch bald Weihnachten?“

„Ja, mein Liebling!“ Sie drückte die Decken an allen Seiten fest, damit keine kalte Luft darunter konnte und ihr jüngster Sohn sich womöglich erkältete. „Dann ist bald Weihnachten!“

Sie nahm die Petroleumlampe vom Nachttisch und ging zur Tür. Mit einem letzten, zärtlichen Blick raunte sie ein leises „Gute Nacht!“, ehe sie das Zimmer verließ.

Der Wohnraum war mit mehreren Lampen und dem offenen Kamin hell erleuchtet. Hugh saß am Tisch, noch immer damit beschäftigt, den Unterricht für die nächsten Tage vorzubereiten und Friedrich arbeitete an seinem nächsten Gottesdienst. Luise lächelte und stellte die Lampe beiseite, auf die Kommode. Nur Julie war noch immer nicht Zuhause, sondern half wieder einmal Doktor Retzner bis spät abends in der Praxis.

Alles schien so friedlich. Sie besaßen ein eigenes Haus, das sie nach und nach mit allem würden ausstatten können, was ein Haushalt brauchte. Was wollten sie mehr? Die Auswanderung und der Entschluss, Deutschland den Rücken zu kehren, waren gut gewesen, die richtige Entscheidung. Zufrieden griff Luise nach ihrer Strickarbeit und setzte sich in den Schaukelstuhl neben dem Kamin, in dem knisternd das Feuer brannte und eine angenehme Wärme verbreitete. Heute, vor dem Schlafengehen, würde sie zweimal das Vaterunser sprechen, denn es gab wirklich nichts, worüber sie sich beschweren könnte – außer vielleicht über ihre einzige Tochter, die immer mehr zum Mann mutierte, was ihre Art, sich zu bewegen und zu kleiden anbelangte. Aber gut, auch dafür würde sich eine Lösung finden und Luise war davon überzeugt, dass der Tag nicht mehr fern sein würde, an dem Hardy Retzner und Juliane von Friedrich getraut werden würden und dann hatte sich sowieso jede unnötige Auseinandersetzung mit einem Schlag erledigt.

Der Sturm pfiff eisig und unerbittlich über das Land und um die Hausecken. Er wirbelte die Schneeflocken im teuflischen Spiel umher und ließ die Bäume gefährlich nach allen Himmelsrichtungen wippen.

„Was für ein scheußliches Wetter“, meinte Hardy, während er Holz im kleinen Bullerofen seiner Praxis nachlegte. „Sieht fast so aus, als würde es immer schlimmer!“

„Bloß gut, dass ich gleich heute Morgen zu der kleinen Farm hinter der Eisenbahnlinie geritten bin“, bemerkte Julie, während sie das nächste Medikamentenfläschchen aus der Kiste nahm, die am Vormittag mit dem Frachtzug bei der Wagoner Kreuzung angekommen war. Sorgfältig notierte sie den Namen, der auf der Flasche stand, auf einer Liste, die Doktor Retzner penibel genau führte, um zu wissen, welche Medikamente er nachbestellen musste und welche er noch auf Vorrat hatte.

„Sie sollten lieber nach Hause gehen, bevor es noch schlimmer wird“, schlug Hardy vor und trat lächelnd zu ihr. Er fand, dass sie an diesem Tag, mit den zu einem Dutt hochgesteckten Haaren, ganz besonders hübsch und bezaubernd aussah.

„Das macht nichts“, erwiderte Julie, völlig auf ihre Arbeit konzentriert. „Ich mache das hier fertig und dann gehe ich. Meine Eltern wissen ja, wo sie mich finden.“

„Ich werde Sie begleiten“, versicherte Hardy eilig.

„Oh, das ist nicht nötig“, meinte Julie, ihn kurz ansehend. „Die Indianer sind bisher ja nicht aufgetaucht.“

„Hmm“, machte Hardy nachdenklich. „Mit dem Captain schon seit zwei Tage da draußen und noch immer keine Nachricht von ihm...“

„Wahrscheinlich ist es nicht so einfach, wie er es sich vorgestellt hat“, mutmaßte Julie mit einer Schärfe, die Hardy eine Sekunde den Atem verschlug. Er betrachtete ihr Profil lange, dann überkam ihn das plötzliche, unstillbare Verlangen, sie zu berühren. Er streckte seine Hand aus und strich mit den Fingerspitzen sacht über ihren unbedeckten Hals. Sie zuckte zurück. Verwirrt starrten ihre bernsteinfarbenen Augen ihn an.

„Ist...ich meine, stimmt etwas nicht?“, fragte sie schließlich zaghaft. Dieser eigenartige Ausdruck auf Hardys kantigem Gesicht jagte ihr ein wenig Angst ein. Sie hatte ihn noch nie zuvor an ihm bemerkt und sie wusste nicht, was er zu bedeuten hatte.

„Julie...“ Hardy gab sich einen Ruck. Es war endlich an der Zeit, dass er ihr die entscheidende Frage stellte. Er besaß nun eine eigene Praxis und eine gesicherte Existenz und es gab keinen Grund mehr, weshalb er nicht um ihre Hand anhalten sollte.

„Julie“, sagte er noch einmal und ergriff ihre Hände. „Seitdem ich Sie in New York, am Hafen, zum ersten Mal gesehen habe, war mir klar, dass Sie eines Tages meine Frau werden.“

Sie schaute ihn fassungslos, überrumpelt an, schwieg jedoch, was er als Zeichen wertete, fortzufahren. „Ich glaube, die Zeit ist jetzt gekommen, da ich bei Ihrem Vater um Ihre Hand anhalte, Julie-Mädchen...natürlich nur, wenn Sie das auch möchten!“ Er lächelte und wartete auf eine Erwiderung ihrerseits. Als diese nicht kam, holte er tief Luft und stieß feierlich hervor: „Juliane Kleinfeld, möchten Sie meine Frau werden?“

Endlich brachte Julie es fertig, den Mund aufzumachen. Sie konnte einfach nicht glauben, was hier vor soeben passierte! Er wollte sie heiraten!

„Frau?“, erwiderte sie gedehnt.

„Ja, natürlich!“ Enthusiastisch schlang Hardy seine Arme um ihre Taille und zog sie fest an sich. „Spürst du das denn nicht? Merkst du denn dieses gewisse Gefühl nicht, wenn ich dich berühre, so wie jetzt?“

Er beugte sich zu ihr hinab und küsste sie stürmisch. Seine feuchten Lippen pressten sich auf die ihren. Mit aller Kraft wollte Julie sich von ihm freimachen. Sie wollte ihn nicht küssen und sie wollte auch nicht seine Frau werden! Doch die Leidenschaft, die Hardy überkommen hatte, schien ihn alles vergessen zu lassen. Er küsste und küsste sie, während seine Hände ihre Taille beinahe schmerzhaft umklammerten. Endlich ließ er atemlos von ihr ab.

„Sag“, raunte er heiser und keuchend. „Spürst du das nicht?“

Julie zögerte einen Moment. Sie wollte ihn nicht anlügen, sie war immer ehrlich zu ihm gewesen und so schüttelte sie langsam den Kopf. „Nein, ich fühle überhaupt nichts.“

Sie machte sich von ihm frei. Ihr entging die Veränderung auf seinem Gesicht nicht und es tat ihr entsetzlich leid, dass sie ihn irgendwie enttäuscht haben musste, aber es war besser, als ihn zu belügen und falsche Hoffnungen in ihm zu wecken. Niemals würde sie seine Frau werden und wenn er der letzte Mann auf Erden wäre. Sie mochte ihn sehr, er war ihr ein guter und teurer Freund geworden, aber doch kein Mann, den sie heiraten, mit dem sie Kinder haben wollte!

„Bitte...“, begann sie, doch Doktor Retzners Hand, die er hastig nach oben riss, ließ sie abbrechen.

„Sei ruhig, Julie!“, sagte er, ohne sie anzusehen. „Sei ruhig, ja? Das, was ich gehört habe, genügt.“

Mit klopfendem, schmerzendem Herzen senkte Julie den Kopf. Sie hatte ihn nicht verletzten wollen! Sie hatte ihn doch gern! Allerdings nicht auf die Art, wie er es sich gewünscht hätte. Dafür konnte sie aber doch nichts! Mit scheuem Blick beobachtete sie, wie er an seinen Schreibtisch trat, sich dahinter setzte und nach einem Heft griff. Sie wollte ihn nicht als Freund verlieren und spürte doch, dass genau dies jetzt geschehen war.

Vielleicht, dachte sie, ist eine Lüge manchmal doch besser, als die Wahrheit.

Ächzend streckte Hugh die Beine unter dem Tisch aus und schob den Weltaltlas beiseite.

„Fertig?“, fragte Friedrich, kaum von der Wochenzeitung aufsehend, die aus der Town of Kansas stammte und schon fast einen Monat alt war.

„Ja“, antwortete sein ältester Sohn und begann, die Schulunterlagen zusammenzupacken. „Jetzt kann ich ihnen morgen wieder etwas Neues erzählen!“

„Dieser Sturm!“, entfuhr es Friedrich und er horchte nach draußen. „Morgen kommen wir nicht mehr von hier raus, wenn es weiterhin so tut!“

„Sitzen wir dann im Schnee fest?“, fragte Luise mit ängstlichen Augen.

„Und wenn schon, wir müssen ja nirgendwohin“, erwiderte ihr Mann und lächelte.

„Ich glaube nicht, dass es hier so viel Schnee gibt“, warf Hugh ein und erhob sich. „Gute Nacht.“

„Gute Nacht!“, erklang es gleichzeitig aus den Mündern seiner Eltern. Hugh betrat das winzige Schlafzimmer, das er sich mit seinem kleinen Bruder teilte und schloss die Türe leise hinter sich. Es war finster und kalt. Hugh suchte nach Streichhölzern in seiner Hosentasche, damit er die Lampe neben der Tür anzünden konnte. Verblüfft hielt er inne: Nikolaus stand am Fenster und versuchte, nach draußen zu schauen.

„Was treibst du denn da? Ich denke, du schläfst schon lange!“

„Ich will die Schneeflocken beobachten“, erläuterte der Junge. „Es schneit doch, nicht wahr?“

Hugh musste grinsen. „Es ist viel zu dunkel, als dass du irgendetwas erkennen könntest und außerdem solltest du längst schlafen!“

Nikolaus seufzte betrübt. „So ein Mist! Warum muss es auch ausgerechnet immer in der Nacht schneien? Liest du mir wenigstens noch eine Geschichte vor?“

Hugh nickte. „Klar, aber erst, wenn du brav im Bett liegst!“

Nikolaus reagierte nicht. Angestrengt horchte er in die Nacht hinein.

„Was ist?“, wollte Hugh ungeduldig wissen. „Los, los! Steh hier nicht herum! Wir gehen heut nicht mehr raus, vergiss es! Und du wirst höchstens noch krank, wenn du noch länger hier Löcher in die Luft starrst“

„Hörst du das denn nicht?“, wisperte sein kleiner Bruder mit weit aufgerissenen Augen. „Und spürst du das nicht, dieses Trommeln?“

Verständnislos starrte Hugh ihn an. „Nein“, gab er zu. „Ich höre nichts und ich spüre auch nichts.“

„Pferde!“, stieß Nikolaus hervor und fuhr zu ihm herum. „Schnell galoppierende Pferde! Sie müssen ganz in der Nähe sein!“

Besorgt trat Hugh zu ihm und legte ihm die Hand auf die Stirn. „Hast du Fieber? Bist du krank? Was fantasierst du denn da? Wieso sollten mitten in der Nacht irgendwelche Pferde herumgaloppieren?“

Die Scheibe ihres einzigen Fensters zersplitterte laut und berstend und nun hörte es auch Hugh: Das Trommeln von unbeschlagenen Hufen auf dem gefrorenen Boden, begleitet von wüstem, markerschütterndem Kriegsgeschrei.

Schweigend arbeiteten Julie und Hardy nebeneinander her. Als sie die Kiste schließlich geleert und alle Medikamente in den dafür vorgesehenen Schrank einsortiert hatte, war es bereits finsterste Nacht.

„Es...es wird Zeit, dass ich nach Hause gehe“, brachte Julie zaghaft hervor und starrte auf ihre Hände. „Meine Eltern machen sich sonst noch Sorgen.“

„Natürlich!“, erwiderte Doktor Retzner geschäftig und trat an die Garderobe, um ihr in den Mantel zu helfen. „Wir sehen uns morgen?“

Ein wenig erstaunt über diese Frage hob Julie den Kopf. Sie nickte. „Natürlich!“

Ein melancholisches Lächeln bildetet sich um Hardys schmale Lippen. „Natürlich. Soll ich Sie nicht doch nach Hause begleiten, Julie-Mädchen?“

„Nein“, versicherte sie. „Wirklich nicht! Die paar Meter schaffe ich schon alleine und so hoch wird der Schnee wohl kaum liegen!“

Das Splittern von Glas erklang irgendwo von draußen und laute, gellende Schreie mischten sich beinahe gleichzeitg darunter. Alarmiert wechselten Julie und Hardy einen Blick. Gleich darauf fielen Schüsse.

„Was ist denn da los?“ Er schob den Vorhang hinter dem einzigen Fenster zur Straße beiseite und fuhr entsetzt zurück. „Die Cherokees! Ganz viele! Mindestens zwanzig, dreißig an der Zahl! Nein, noch mehr!“

Julie schnappte nach Luft. „Um Gottes Willen! Ich muss sofort nach Hause!“

„Sie müssen überhaupt nichts!“ Unsanft packte Doktor Retzner sie an den Armen und drückte sie gegen die Wand neben dem Medikamentenschrank. „Sie bleiben hier, verdammt nochmal und wenn ich Sie festbinden muss! Ich schaue raus und sehe, ob ich irgendwie helfen kann! Aber ich warne Sie, wenn Sie es wagen, Ihre Nase nach draußen zu strecken, lege ich Sie über’s Knie!“

In dem Hinterzimmer, das er bewohnte, lag immer ein geladenes Gewehr bereit, nach dem er jetzt rannte und das er fest in seiner rechten Hand hielt, als er zur Eingangstür eilte.

„Bleiben Sie hier!“, schärfte er Julie noch einmal ein. „Ich bin bald zurück!“

Ihre großen, bernsteinfarbenen Augen spiegelten ihre Angst und das Entsetzen, doch sie nickte tapfer.

„Passen Sie auf sich auf, Hardy!“, rief sie ihm nach, als er nach einer kurzen Sekunde des Zögerns hinaushuschte in die kalte, verschneite Nacht.

In den nächsten Minuten, die Julie wie Stunden erschienen, hörte sie das wütende Geheul der Indianer von draußen und ihre Rufe in einer Sprache, die sie nicht verstand. Dann wiederum vernahm sie laute Schüsse aus Gewehren und Revolvern und sie glaubte, die Befehle eines der Soldaten aus dem Fort aus dem ganzen Lärm herauszuhören. Von irgendwoher brüllte jemand „Feuer! Feuer!“ und im nächsten Augenblick fiel ein weiterer Schuss, ganz in der Nähe.

Ein kalter Schauer jagte Julie über den Rücken. Was ging dort draußen nur vor sich? Wie sinnlos sie hier herumstand! Längst hatten die Angst und der Schrecken von ihr Besitz ergriffen. Wo blieb bloß Hardy? Sie musste nach ihm sehen!

Kurz entschlossen zog Julie den hinderlichen, bodenlangen Mantel wieder aus, warf ihn achtlos beiseite, ehe sie ihre Röcke raffte und zur Eingangstür eilte. Sie horchte mit angehaltenem Atem. Noch immer erklangen von draußen Schreie und Schüsse und ihr Verstand wusste, in was für eine Gefahr sie sich begab, aber sie konnte nicht länger nutzlos hier herumstehen! Hastig riss sie die Türe auf und mit einem Satz sprang sie hinaus, ins Freie. Unter dem Vordach der Praxis war es dunkel. Mit einem Blick erfasste sie die Situation, die sich fast am anderen Ende der Straße abspielte, denn der Schein des brennenden Saloons leuchtete weit über die Siedlung hinweg. Menschen mit Eimern rannten umher und versuchten zu retten, was noch zu retten war. Dazwischen ritten Cherokees auf ihren Pferden und Männer versuchten, sie aufzuhalten. Sie hörte das Surren von Pfeilen und Schreie von Verwundeten, doch genau erkennen konnte sie nichts. Alles schien gleichzeitig zu passieren und immer wieder krachten Schüsse, die ihr durch Mark und Bein gingen. Der Rauch der Flammen und der abgefeuerten Munition mischte sich mit dem herabfallenden Schnee und nebelte ihre Sicht ein. Sie musste husten.

Auf der Straße lagen Menschen, von denen sie nicht abschätzen konnte, ob sie noch lebten oder schon tot waren. Ihr Herz schlug laut und rasend und pochte in ihren Halsschlagadern. Was sollte sie tun? Einige Meter vor ihr kamen zwei Reiter in wildem Galopp entlang gejagt und sie erkannte, dass es Cherokees waren. Mit einem leisen Aufschrei wollte Julie sich abwenden und in die Praxis zurückstürmen, doch sie stolperte über einen Gegenstand. Hart schlugen ihre Ellenbogen auf den Holzbohlen auf. Sie achtete kaum auf den Schmerz, sondern wandte sich um. Ihr stockte der Atem.

„Hardy!“ Sie merkte nicht, dass es ihr eigener Aufschrei war, der über den Platz hallte. Auf allen Vieren krabbelte sie zu ihm hinüber. „Hardy!“

Schluchzend suchten ihre zitternden Finger nach seinem Handgelenk, nach einem Puls, einem Lebenszeichen. Er hatte die Augen geschlossen, doch als sie den langen, dünnen Pfeil entdeckte, der in seiner Brust steckte, wusste sie, dass es vergebens war. Zu oft hatte sie die Anatomiebücher durchgearbeitet. Der Pfeil hatte ihn direkt ins Herz getroffen. Am ganzen Leib zitternd wollte sie sich aufrappeln, doch da war plötzlich ein Schatten über ihr, der den Feuerschein des Saloons versperrte und sie an den Oberarmen packte und durch die Tür ins Innere der Praxis schleifte.

Völlig außer sich und nun in grenzenloser Panik, kreischte Julie auf. Sie versuchte, sich zu wehren, doch die beiden Arme waren stärker und warfen sie unsanft neben der Tür zu Boden. Schützend schlug sie die Hände über ihrem Kopf zusammen.

„Du hierbleiben!“, befahl eine tiefe Stimme in gebrochenem Englisch. Langsam wagte Julie es, den Blick zu heben. Ihr Herzschlag setzte einen Moment aus. Obwohl auf seinen Wangen die beiden weißen Striche aufgemalt waren, erkannte sie ihn. Seine schwarzen Augen blickten eindringlich zu ihr hinab und mit einem Mal hatte sie sich wieder unter Kontrolle. Er würde ihr nichts tun, das spürte sie.

„Du hierbleiben“, sagte er noch einmal und deutete auf den Boden. „Sonst du tot!“

Julie wagte kaum zu atmen und starrte ihn an. Es war dasselbe Gesicht, derselbe junge Mann, doch mit einem Mal gab es da keine bedauernswerten Gefühle mehr, die sich bei ihrer ersten Begegnung in ihr Bewusstsein gestohlen hatten. Das da, dieser junge Mann da vor ihr, war ein Wilder, ein unberechenbares Individuum, dem sie nicht länger trauen konnte. Julie biss sich auf die Lippen. Er würde sie nicht umbringen, weil sie ihm damals geholfen hatte, nur aus diesem einen Grund würde er sie verschonen.

„Du verstanden?“, fragte er jetzt, deutlich sanfter, als ihre großen, verängstigten Augen ihn noch immer sprachlos beäugten.

Julie nickte zaghaft. Sein schwarzes Haar glänzte im Licht der Lampen, die überall brannten und die Federn, die hineingebunden waren, ließen es noch dicker erscheinen, als es ohnehin bereits war. Doch ehe sie dazu kam, sich zu fragen, weshalb er immer noch regungslos dort stand und auf sie hinabstarrte, wandte er sich um und verließ die Praxis. Er schlug die Tür hinter sich ins Schloss und ließ sie alleine zurück. Schutzsuchend zog Julie ihre Knie an den Körper, legte ihren Kopf darauf und begann, haltlos zu schluchzen. Gedämpft drangen die Rufe und die Schreie, Wiehern von Pferden und weitere Schüsse zu ihr hindurch, bis schließlich eine bedrückende Stille folgte. Irgendwann hörte sie auf zu weinen. Sie lauschte und glaubte, vertraute Stimmen zu vernehmen. Ruhe schien eingekehrt zu sein, was wohl bedeutete, dass die Cherokees fort waren. Julie wusste nicht, wie lange sie dort auf dem kalten Fußboden neben der Eingangstür gekauert hatte. Ihr fröstelte, doch sie wagte nicht, aufzustehen und ihren Mantel zu holen, der halb auf dem Behandlungstisch hing, halb unten auf der Erde lag.

Schnelle Schritte erklangen auf den Holzbohlen vor dem Eingang. Sie hielten kurz inne, ehe sie näher kamen. Es waren laute, klopfende Schritte von schweren Stiefeln und Julie musste lächeln. Es war vorüber. Jemand kam, um sie zu retten. Die Tür wurde aufgestoßen.

„Julie!“ Eine ihr wohlbekannte Gestalt beugte sich über sie. „Julie! Bist du verletzt? Ist dir etwas passiert?“

Ihre rotgeweinten Augen schauten ihn an. Sie brachte ein kaum merkliches Kopfschütteln zustande.

„Mir...geht’s gut“, kam es leise über ihre Lippen. „Aber Hardy...“

„Ich weiß.“ Behutsam legte Hugh seinen linken Arm um ihre Schultern und schob den rechten unter ihre Kniekehlen. „Ich habe ihn gesehen.“

Er nahm sie hoch und sie ließ es geschehen. Er trug sie hinaus, in das Schneegestöber und die Kälte, über Hardy Retzers Leichnam hinweg und marschierte mit ihr die Straße hinab. Sie schien unter Schock zu stehen, denn sie reagierte nicht auf die besorgten Fragen ihrer Freunde und Nachbarn, an denen sie vorüber kamen.

Hugh sagte nur immer wieder: „Sie ist in Ordnung! Ihr ist nichts passiert!“ und war doch selbst kaum fähig, seine Fassung zu wahren. Immer wieder verschwamm die Straße vor seinen Augen, als er versuchte, die Tränen zurückzudrängen und sich nichts anmerken zu lassen.

Die Kälte und der Schnee, der unaufhörlich auf sie herabfiel, brachten Julie aus ihrer Lethargie in die Gegenwart zurück.

„Was...was ist passiert?“, fragte sie leise und fuhr sich mit der Hand über das blasse Gesicht.

„Die Cherokees haben uns überfallen“, antwortete Hugh leise und warf einen langen Blick zurück auf die glühenden Überreste des Saloons.

„Ich weiß“, entgegnete Julie. „Deshalb habe ich überlebt...weil es die Cherokees gewesen sind.“

Hugh verstand sie nicht, doch er hatte jetzt keinen Nerv, sie danach zu fragen, was ihre geheimnisvolle Aussage zu bedeuten hatte.

„Lass mich runter“, bat Julie, doch Hugh achtete nicht darauf. Er würde kein Risiko eingehen. Es war besser, wenn er sie jetzt nicht auf ihre eigenen Beine stellte. Vor ihrem Wohnhaus standen Miklós und seine Frau. Beide weinten leise und als sie Hugh mit Julie jetzt erblickten, bekreuzigten sie sich.

„Mädchen! Oh, Gott sei Dank!“, rief der Ungar und wischte sich die feuchten Wangen trocken. „Du lebst!“

Julie versuchte ein Lächeln, das nicht recht gelingen wollte. „Ja, ich bin in Ordnung!“

„Hardy nicht.“ Hugh deutete die Straße hinab und Miklós nickte begreifend.

Äußerlich war ihr nichts geschehen, sie war unverletzt, doch der Schock und die entsetzlichen Geschehnisse pressten ihr Herz zusammen. Nur ganz allmählich fühlte sie sich ein wenig besser. Der Nebel lichtete sich. Jetzt trug Hugh sie zur Tür hinein, in den schwach beleuchteten Wohnraum. Sie hörte ihr Mutter weinen, von irgendwoher weinen und konnte sie doch nicht entdecken.

Sehr vorsichtig setzte Hugh seine kleine Schwester ab, fasste sie jedoch sogleich an den Oberarmen. Das Schluchzen kam aus der angelehnten Tür zum Jungenschlafzimmer.

„Ihr seid nicht verletzt?“, fragte Julie hastig. „Euch ist doch nichts geschehen?“

Zu ihrem Entsetzen antwortete ihr großer Bruder nicht. Seine braunen Augen starrten sie leer an und auf einmal spiegelten sich Tränen darin. Ein Schauer jagte Julie über den Rücken. „Nein!“

Mit einem Ruck machte sie sich aus Hughs Umklammerung frei. Sie lief zur Schlafzimmertür, stieß sie auf. Dort standen ihre Eltern, neben dem Bett von Nikolaus. Stützend krallte Julie sich am Türrahmen fest. Ihre Knie drohten, unter ihr nachzugeben.

„Nein“, flüsterte sie und biss sich auf die Lippen. Tränen schossen ihr in die Augen und da fühlte sie, wie Hugh seinen Arm um ihre Taille legte und sie langsam bis ans Bett geleitete. Durch den Schleier nahm Julie kaum wahr, was sie dort vor sich erblickte. Nikolaus, ihr kleiner Bruder, der ihr so unendlich viel bedeutete! Es schien, als schliefe er nur. Seine Augen waren geschlossen und seine Hände über seinem Körper gefaltet. Julie blinzelte. Die Farbe seines Gesichts war blass und Julie wusste, dass sie ihm nicht mehr helfen konnte, niemand konnte das.

„Ein Indianerpfeil“, flüsterte Hugh ihr von hinten leise ins Ohr, sodass nur sie es hören konnte. „Er ist durch die Fensterscheibe gedrungen und hat ihn genau getroffen. Er hat nicht gelitten.“

Seine Stimme brach ab und ein leises Schluchzen drang aus seiner Kehle. Julie fand keine Worte, sie fühlte sich entsetzlich hilflos und geschunden. Ihr kleiner Bruder war tot! Noch nach dem Abendessen hatte sie sich von ihm verabschiedet und er hatte gelacht und ihr versprochen, etwas vom Nachtisch für sie übrigzulassen. Bei der Erinnerung war Julie nicht länger fähig, sich unter Kontrolle zu halten. Sie warf sich herum, klammerte sich an ihren großen Bruder, der sie um einen ganzen Kopf überragte und weinte unkontrolliert. Sie merkte kaum, wie Hughs Arme sich um sie schlangen und fest an sich pressten, wie er sein Gesicht in ihrem Haar vergrub und seine Tränen hineintropften und es feucht werden ließen. Sie standen und hielten sich und wussten doch beide, dass ihr Leben nie mehr so sein würde wie zuvor.

Sie beerdigten die Toten am anderen Morgen auf dem Friedhof neben der Kirche. Friedrich war kaum fähig, die Gebete zu sprechen, doch er tat es mit mühevoller Würde und leisen, wenigen Worten. Zuerst kam Miss Tryon, eine junge Engländerin an der Reihe, die ein Zimmer in der zerstörten Pension gemietet hatte und nicht mehr rechtzeitig aus dem brennenden Gebäude herausgekommen war. Danach musste er zwei junge Männer begraben, die zu dem Siedlertreck gehört hatten, der noch immer vor der Stadt kampierte und dort auch den Winter verbringen wollte, um im Frühjahr Häuser zu bauen. Sie hatten versucht, ihre Wagen zu verteidigen und dabei unvorsichtig gehandelt. Das nächste Opfer war Penny, ein sechzehnjähriges Mädchen. Daneben stand der Sarg von Doktor Hardy Retzner und schließlich der von Nikolaus Kleinfeld, dem jüngsten Opfer des Überfalls.

Die komplette Stadt, einschließlich des Trecks, war zur Trauerfeier erschienen und füllte den Friedhof. Sie hatten Glück im Unglück gehabt und die meisten ihrer Wagen zeigten keine Beschädigungen. Die Männer, die die Löcher für die Gräber hatten ausheben müssen, standen einige Meter daneben und es war ihnen anzusehen, welche Schwerstarbeit sie verrichtet hatten. Der Boden war gefroren und jede Schaufel Erde eine Qual. Später war es ihre Aufgabe, die Gräber wieder zuzuschütten und sie mit einfachen Holzkreuzen zu versehen.

Nach der Trauerfeier wurde von allen Seiten großes Beileid bekundet, was Luise kaum zu ertragen vermochte. Friedrich stützte sie an den Oberarmen und gab sich alle Mühe, die Fassung zu wahren. Noch während sie herumstanden, begannen die Männer, die Gräber wieder zuzuschütten, denn der Himmel versprach neuen Schnee und deshalb mussten sie sich beeilen. Die gefrorenen, harten Erdklumpen schlugen auf den einfachen Holzsärgen auf und erzeugten ein dumpfes, gespenstisches Klopfen.

Die Trauergemeinde löste sich auf, jeder ging zurück zu seinem Haus oder zu den Wagen vor der Stadt. Friedrich hielt seinen Arm schützend um seine Frau gelegt, während sie die Straße hinab, nach Hause gingen.

Julie half ihrer Mutter schweigend bei der Zubereitung des Trauerschmauses und sie war froh, dass es hier nicht mehr üblich war, alle Nachbarn dazu einzuladen. So konnte jeder von ihnen still seinen Gedanken nachhängen und sich seiner Trostlosigkeit hingeben.

Julie war sich nicht schlüssig, für wen der Schmerz des Verlustes größer war: Für ihren kleinen Bruder oder für Hardy Retzner. Sie fehlten ihr beide entsetzlich und die Erkenntnis, dass sie beide niemals wiedersehen würde, zerriss ihr das Herz. Genauso schlimm empfand sie jedoch diese bedrückende Stille, die über ihrem Haus lastete. Friedrich saß im Schaukelstuhl vor dem Kamin, in dem das Feuer knisterte und las in der Bibel. Hugh hatte sich in sein Schlafzimmer zurückgezogen und sie stand mit ihrer Mutter in der angrenzenden Küche und versuchte so zu tun, als würde alles wieder irgendwie in Ordnung kommen.

Julie verspürte den starken Drang, darüber zu sprechen, was geschehen war. Sie wollte, dass sie sich alle gemeinsam an die schönen Zeiten erinnerten, die sie miteinander gehabt hatten. Nikolaus’ vorlauten und doch häufig so weisen Sprüche, sein Temperament und seine wilden Phantasien. Sie erinnerte sich, wie er einmal im Frühjahr, als Kleinkind, in den Bach hinter dem Häuschen gesprungen war, das sie in Deutschland bewohnt hatten. Er hatte „Ente“ spielen wollen, wie er ihnen später erklärte und dabei war er stundenlang unbemerkt in dem niedrigen Rinnsal hin und her gepaddelt. Im Winter desselben Jahres hatte er sich auch die Lungenentzündung zugezogen, die seine Gesundheit auf ewig geschwächt und anfällig gemacht hatte.

Julie schluckte. Sie konnte nicht daran zurückdenken. Es war zu früh, für sie alle. Sie konnten noch nicht darüber sprechen, wie dankbar sie dafür sein mussten, dass Nikolaus sie – wenn auch für eine viel zu kurze Zeit – ein Stück des Weges begleitet hatte. Irgendwann würde es wieder in Ordnung kommen, denn sie mussten ihr Leben weiterführen, auch ohne ihn. Sie würden so tun, als ginge es weiter wie bisher, auch wenn es niemals wieder so sein würde und ganz gleich, wie sehr ihr Herz sich danach sehnte, dass die Vergangenheit zurückkehrte. Sie würden sich ablenken mit neuen Aufgaben und Zielen, um den Schmerz weit fernhalten zu können und wenn sie es lange genug durchhielten, dann würden sie es irgendwann akzeptieren können.

Wind über der Prärie

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