Читать книгу Wind über der Prärie - Regan Holdridge - Страница 5
New York
ОглавлениеAm späten Vormittag des 12. März 1884 dampfte die „Elbe“ im Hafen von New York ein. Alle Passagiere, die Platz fanden, hatten sich schon vor fast einer Stunde auf dem Deck, den Aussichtsplattformen und an der Reling entlang versammelt, um zu erleben, wenn sie in die berühmte Stadt im Osten der Vereinigten Staaten einlaufen würden. Wie ein Lauffeuer sprach sich die Nachricht über die baldige Ankunft herum und alles eilte und rannte hinauf, unter den freien Himmel.
„Immer mit der Ruhe!“, entschied Friedrich energisch, als seine drei Kinder ebenfalls aufgeregt davonrennen wollten. „Wir kommen genauso schnell an, wenn ihr hier bleibt!“
„Aber...wenn wir nicht gleich gehen, bekommen wir keinen Platz mehr, an dem wir etwas sehen können!“, rief Juliane und trat nervös auf der Stelle.
„Also, wirklich!“, entrüstete sich Luise und schüttelte missbilligend den Kopf, während sie sich ihr Cape umlegte. „Wir kommen noch früh genug nach oben!“
Endlich, für Nikolaus und Juliane kaum abzuwartende, zehn Minuten später führte auch ihr Weg hinauf aufs Deck. Unten, in den Korridoren und den Kabinen herrschte erregte Aufbruchstimmung.
Sie hatten nicht den Schimmer einer Ahnung, dass sie nicht sofort in Castle Garden, an der Spitze von Manhattens Insel würden anlegen dürfen. Dort befand sich die Anlegestelle für alle Immigranten. Zuerst würde ein offizieller Gesundheitsinspektor erscheinen und alle Anwesenden an Bord kurz nach irgendwelchen Anzeichen von ansteckenden Krankheiten wie Pocken, Typhus oder Cholera untersuchen. Danach würde er sich die Unterlagen der Todesfälle an Bord zeigen lassen. Wenn alles in Ordnung wäre, würde er ihnen die Erlaubnis geben, zum Zielhafen weiterzufahren, andernfalls würde das komplette Schiff erst einmal unter Quarantäne gestellt.
All diese organisatorischen Vorgänge waren den meisten Einwanderern völlig unbekannt, während sie sich wild und aufgeregt an Deck drängten. Alle wollten sie nur endlich einen ersten Blick auf Amerika erhaschen. Es herrschte dichtes Gedränge und eine Art Festtagsstimmung schien ausgebrochen zu sein. Ein paar Flaschen Wein wurden herumgereicht, einige junge, wohl bereits angetrunkene Männer sangen deutsche Volkslieder und Hubert beschloss, an einem der Stützseile der Schornsteine ein Stück hinauf zu klettern.
„Was soll denn das?“, brüllte Friedrich gegen das Stimmengewirr und den Lärm zu ihm hinauf. „Komm sofort wieder herunter!“
„Aber wieso denn?“, schrie Hubert zurück. „Von hier oben sehe ich viel mehr!“
Und er blieb, wo er war. Er konnte nicht verhindern, dass sein Herz mit jeder Minute schneller und stärker in ihm zu schlagen begann. Seine Augen hingen an den Fluten des Meeres, durch das sich der Dampfer schob und zwischen denen in absehbarer Zeit Amerika vor ihnen auftauchen musste. Hubert bekam nicht mit, was unter ihm herum geschah. Er bemerkte weder, dass Nikolaus sich ein Stück weit nach oben zu ihm getraute, noch, wie Juliane sich sanft und doch bestimmt soweit bis zur Reling nach vorn drängte, dass sie etwas sehen konnte.
„Da!“, brüllte plötzlich jemand hinter ihm und er kniff die Augen zusammen. „Land in Sicht!“
Wildes Geschrei und Jubelstürme brachen los und jetzt entdeckte auch Hubert, wie sich vor ihnen dunkle Schatten zu erheben begannen. Sie waren am Ziel und auf einmal ging alles sehr schnell. In kürzester Zeit hatten sie das Festland erreicht und der Dampfer drosselte sein Tempo merklich.
Nachdem der Gesundheitsinspektor sie für einwanderungsfähig befunden hatte, fuhren sie zunächst in gemäßigtem Tempo weiter nach Castle Garden, wo die „Elbe“ endlich Anker legte. Ein letztes Mal stieß sie ihren dumpfen, langgezogenen Pfiff aus, der zum Ende hin schrill anschwoll, dann drängten sich die Passagiere zu den Ausgängen. Sie wollten hinaus, in die kühle, windige Frühjahrsluft, die über die Insel und die Hafenanlage strich. Hinaus in das fremde, unbekannte und unvorstellbar große Land, das sie von nun an ihr Zuhause nennen würden.
In Lastkähnen und Schleppern wurden die Einwanderer vom Dampfer zum Castle Garden Anlegesteg gebracht, wo erneut einige Sanitätsoffiziere auf sie warteten und sich vergewisserten, dass sich tatsächlich keine kranken Passagiere unter ihnen befanden. Nach dieser Untersuchung und der Prüfung ihres Gepäcks, das erneut in einem separaten Raum verstaut wurde, betraten sie das runde Gebäude mit dem mächtigen Glasdom auf der Kuppel durch einen langen Gang. Sie fanden sich im Zentrum des Rundbaus wieder, wo sie sich in Reih und Glied in unterschiedlichen Abteilungen anstellen mussten, je nachdem, ob jemand der englischen Sprache mächtig war oder nicht.
„Verflixt und zugenäht!“, fluchte Juliane unbeabsichtigt und verdrehte die Augen, bevor sie sich auf eine der Holzbänke fallen ließ. „Das kann ja Stunden dauern!“ Sie beobachtete die anderen Passagiere, die ebenfalls mit ihrem Schiff angekommen waren und sich kontinuierlich durch die Türe in das Gebäude schoben und drängten.
„Juliane!“ Der empörte Aufschrei ihrer Mutter ließ sie zusammenzucken. „Wirst du wohl aufhören, dich wie ein Zigeuner zu benehmen?!“
„Ja, Mutter!“ Mit einem leisen Ächzen folgte das Mädchen ihrer Familie hinunter zu den zirkelähnlich angeordneten Schreibtischen, wo ein ganzes Dutzend Männer damit beschäftigt war, die Registrierungen der Neuankömmlinge vorzunehmen.
„Das ist...einfach überwältigend“, bemerkte Hubert nach einer ganzen Weile, in der er nichts anderes tat, als die riesige Halle genau in Augenschein zu nehmen. Balkone waren rundherum an den Wänden errichtet worden und der majestätische Dom aus Glas über ihnen erhellte das komplette Innere des Gebäues.
„Wann gehen wir denn jetzt?“, wollte Nikolaus ungeduldig wissen, während er permanent herumhüpfte und ständig in irgendwelche anderen Menschen hinein rempelte. „Gehen wir jetzt auch bald raus?“
„Ja, gleich!“ Sein Vater legte ihm seine Hände auf die Schultern und hoffte inständig, der Junge würde jetzt endlich still sein, nachdem er ihm ohnehin keine Antwort auf seine ständige Fragerei geben konnte.
Hunderte von Personen hielten sich in dem Rundbau auf, warteten, genau wie sie und bei Einbruch der Dunkelheit waren sie zwar endlich registriert, allerdings immer noch ohne Erlaubnis, das Gebäude zu verlassen.
„Amerika“, grinste Hubert sarkastisch, während er auf eine der Holzbänke sank und hinter vorgehaltener Hand ein Gähnen versteckte. „Wir sind da!“
„Was sollen wir denn jetzt tun?“, jammerte Luise und setzte sich neben ihren Sohn. „Wir haben die letzten paar Tage auf diesem schrecklichen, schaukelnden Dampfer verbracht und ich würde mir wirklich nichts mehr wünschen, als ein Bett und ein warmes Bad. Einfach nur das, sonst nichts.“ Hoffnungsvoll blickte sie zu ihrem Ehemann hinauf. „Können wir es uns nicht leisten, zumindest für eine Nacht, in einer Pension oder etwas ähnlichem zu bleiben?“
Friedrich runzelte die Stirn. „Das können wir gerne machen, obwohl ich gehofft habe, wir könnten das Geld für unsere Reise westwärts sparen.“
„Du kannst doch nicht ernsthaft vorhaben, heute Nacht noch ein Ticket für die Eisenbahn zu kaufen?“ Seine Frau schnappte nach Luft.
„Nein, nein“, versicherte er hastig. „Ich habe nur laut nachgedacht...“
Einer der führenden Offiziere der Einwanderungsbehörde betrat nun den Rundbau und informierte die versammelten Menschen, dass sie die Nacht hierbleiben dürften, sollten sie nicht anderweitig schon von Verwandten erwartet werden oder bereits eine Unterkunft haben. Ebenso wäre es ihnen gestattet, gleich die Weiterreise anzutreten, ob nach Westen, Osten, Nord oder Süd, wie auch Geld zu wechseln oder sich mit Freunden und Verwandten in Verbindung zu setzen.
Juliane konnte nur müde lächeln – sie verstand nicht die Hälfte dessen, was der Mann ihnen gerade erklärt hatte und sie spürte noch nicht einmal mehr das Heimweh, das sie während der Reise gequält hatte. Osten oder Westen, Zuhause ist’s am besten, dachte sie und schloss ihre Lider für einige Sekunden.
„Ich habe Hunger“, verkündete Nikolaus.
„Ich auch!“, schloss Juliane sich an, was ihr einen strengen, rügenden Blick ihrer Mutter einbrachte. Eilig senkte das junge Mädchen den Blick. Weshalb konnte sie eigentlich nicht einmal den Mund halten, wenn sie doch schon vorher ahnte, dass es falsch war, was sie sagen wollte? Wieso konnte sie nicht einmal an der richtigen Stelle still sein, wenn es alles andere als damenhaft war, wie sie sich gab und wenn ihr das auch noch von vorn herein bewusst war?
Friedrich fand den Inhaber einer Pension, dem es gestattet war, in dem Rundbau der Einwanderungsbehörde Werbung für seine Unterkunft zu machen, was bedeutete, dass er von der Stadt lizenziert war und ein Zertifikat besaß, welches ihm Vertrauenswürdigkeit ausstellte. So gingen sie hinüber zur Gepäckabfertigung und erhielten endlich ihre Taschen und Koffer. Danach wurde ihnen gestattet, Castle Garden zu verlassen und sie traten ihren Weg an durch die nächtlichen, aber erleuchteten Straßen New Yorks. Juliane schlurfte müde und erschöpft hinter ihren Eltern und Brüdern her, entlang einer breiten Straße, als plötzlich eine Stimme hinter ihr erklang: „Ah, geh! Das kann ja jetzt nicht wahr sein!“
Ein lachender Mann, den sie nie zuvor gesehen hatte, klein gebaut und nicht viel größer als sie selbst, mit blondem Haar und unzähligen Lächfältchen um die Augen und Mundwinkel, trat zu ihnen.
„Was für eine Überraschung! Der Pastor und seine Familie! Sagen’s jetzt nicht, Sie steuern dieselbe Pension an wie ich!“
Friedrich starrte ihn für eine Minute verdutzt an, dann fiel es ihm wieder ein: „Ach, ja! Sie sind der Doktor, der sich um den verletzten Seemann gekümmert hat!“
„Retzner“, stellte der Österreicher sich mit breitem Akzent vor und lächelte in die Runde. „Doktor Burkhard Retzner, aber bitte, lassen wir die Förmlichkeiten! Daheim nennt mich jeder bloß Hardy, also, seien Sie so frei und reden Sie mich auch so an. Dieses ganze Doktor-Getue hilft einem hier nicht wirklich weiter, im Gegenteil! Andauernd kommen dann die Leute gerannt und wollen etwas von einem!“
Er zwinkerte verschmitzt, wobei seine grünen Augen auffallend lange an Juliane hängenblieben, die ihn unverhohlen und neugierig musterte. Er wirkte sehr sympathisch und vertrauenerweckend, auch wenn er gut doppelt so alt sein mochte wie sie selbst. Seine fröhliche, humorvolle Art gefiel ihr. Sein schmales Gesicht mit der etwas schiefen Nase verzog sich zu einem Lächeln, was ihn sehr charmant aussehen ließ und sie lächelte zurück.
Friedrich räusperte sich. „Nun, wo haben Sie denn vor, die Nacht zu verbringen?“
Burkhard Retzner warf einen kurzen Blick auf das Stück Papier in seiner Hand. „Sunnyside Boarding House“, las er vor.
„Oh, wenn das kein Zufall ist!“, mischte Hubert sich nun mit einem Zwinkern ein. „Wir hatten auch vor, dort zu übernachten!“
„Warum begleiten Sie uns nicht einfach?“, schlug Friedrich vor und gab dem Doktor einen Wink, sich ihnen anzuschließen. „Wohin soll die Reise für Sie denn gehen? Wissen Sie das schon?“
„Westwärts“, erwiderte der Österreicher geradeheraus.
„Westwärts?“, wiederholte Friedrich und seine braunen Augen begannen zu leuchten. „Eine großartige Idee! Genau dasselbe hatte ich auch schon im Kopf, gleich von Anfang an! Kommen Sie, kommen Sie! Wir müssen unsere Unterkunft finden und morgen früh werden wir über die weiteren Vorbereitungen sprechen, wir beide, meine ich.“
Es dauerte noch fast eine halbe Stunde, bis sie „Klein-Deutschland“ erreichten. Klein-Deutschland war nichts anderes, als ein Stadtgebiet inmitten des riesigen New York, mit dem Unterschied, dass dort ausschließlich deutsche und deutschsprachige Auswanderer lebten. Sie fanden in der besagten kleinen Pension ein Zimmer, wo sie vorerst bleiben konnten.
„Du lieber Himmel!“, sagte Luise und starrte mit offenem Mund auf den engen Raum und den überfüllten Flur im oberen Stockwerk. Dieselbe Idee hatten andere Einwanderer vor ihnen auch schon gehabt und tummelten sich nun bis zur völligen Auslastung unter dem Dach des geschäftstüchtigen Pensionsbetreibers. „Schon wieder so viele fremde Leute auf einem Haufen!“
„Keine Angst“, beruhigte Friedrich sie. „Ich bin sicher, wir werden nicht lange hier bleiben.“
Er ahnte nicht, wie recht er mit dieser Aussage behalten sollte, die er eigentlich nicht ernst gemeint, geschweige denn groß überdacht hatte! Das einzige, worauf er abzielte war, seine Frau davon zu überzeugen, dass sie sich keine Sorgen zu machen brauchte.
Nikolaus gähnte. „Wann krieg’ ich endlich was zu essen?“, wollte er wissen und rieb sich müde die Augen.
Juliane schwieg beharrlich, seitdem sie den Hafen verlassen hatten. Zum einen, weil ihr die Füße wehtaten und zum anderen, weil sie ihre Mutter nicht noch einmal verärgern wollte. Es war ihr auch alles zu viel im Augenblick. Ihr Kopf fühlte sich an, als habe ihr jemand wieder Alkohol zu trinken gegeben. Niemand durfte natürlich wissen, dass sie und ihre Freundin Annegret heimlich in deren Vaters Weinkeller eine Flasche gemopst hatten. Das war erst wenige Monate her. Sie hatten damals beschlossen, die Auswanderung zu begießen, wie Erwachsene es auch taten. Von dem säuerlichen Geschmack des Weins waren sie zum einen enttäuscht gewesen und konnten auch nicht nachvollziehen, weshalb die Erwachsenen so versessen darauf waren, das Zeug zu trinken. Zudem kam die ungewohnte Wirkung hinzu, die sie glauben ließ, nicht mehr Herr ihrer Sinne zu sein. Ganz abgesehen von den dumpfen Kopfschmerzen, der sie am anderen Tag auf Schritt und Tritt begleiteten. So in etwa fühlte Juliane sich in diesem Moment und sie konnte nicht sagen, ob sie das alles nur träumte oder ob es Wirklichkeit war.
In dem winzigen Raum, den sie sich teilen mussten, gab es nichts, außer durchgelegenen Matratzen auf dem Fußboden und einem kleinen Tisch. Luise ächzte. So hatte sie sich ihre Ankunft in dem hochgelobten Land weiß Gott nicht vorgestellt und sie schwor sich, keinen Tag länger als irgendnötig hierzubleiben.
Am anderen Morgen wachten sie zu später Morgenstunde völlig übernächtigt auf. Als Juliane und ihre Mutter den kleinen Saal betraten, in dem das Frühstück eingenommen werden konnte, waren Friedrich, Hubert und Nikolaus bereits mit ihrer ersten, amerikanischen Mahlzeit beschäftigt. Doktor Retzner hatte sich ebenfalls zu ihnen gesellt.
Jetzt, bei Tageslicht, konnte Juliane ihn genauer betrachten und sie musste zugeben, dass ihr erster Eindruck sie nicht betrogen hatte – er schien tatsächlich ein äußerst sympathischer, vertrauenswürdiger Mann zu sein.
„Nun, wie sehen Ihre Pläne für heute aus?“, wollte Friedrich nach einer Weile wissen, nachdem seine Frau und Tochter sich ebenfalls zu ihnen gesetzt hatten.
„Nun, ich werde nach dem schnellsten und günstigsten Weg suchen, um nach Westen zu kommen“, gab der österreichische Arzt zu und schmunzelte. „Denn ich habe nicht vor, unnötig Geld für teure Zugtickets auszugeben.“
Luise beäugte ihn, sichtlich irritiert. „Nein? Und wie wollen Sie dann von hier aus irgendwohin kommen?“
“Es gibt verschiedene Möglichkeiten.“ Burkhard Retzner wiegte bedächtig seinen Kopf. „Sehen Sie, ich habe gehört, dass es dort draußen irgendwo eine Stadt gibt, die sie das Tor zum Westen nennen und von dort kommen Sie überall hin, in jede Richtung dieses Landes!“
Friedrich hatte genau zugehört. „Darf ich fragen, ob es möglich wäre, dass Sie weitere Informationen über diesen Ort ausfindig machen und wie man dorthin käme?“
„Das ist genau das, was ich mir für diesen Vormittag vorgenommen habe!“
„Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn ich Sie begleite?“
„Ganz und gar nicht!“ Der österreichische Arzt lächelte einnehmend. „Vielleicht können wir sogar einen Weg finden, uns die weiteren Reisekosten zu teilen!“
Friedrich hob eine Augenbraue, gab jedoch nicht sofort eine Antwort. „Lassen Sie uns zuerst einmal sehen, was wir alles erfahren“, erwiderte er ausweichend. Er schien noch nicht völlig davon überzeugt zu sein, ob er dem anderen Mann trauen konnte oder nicht.
„Und was sollen wir den ganzen Tag so treiben?“, fragte Hubert, ein wenig eingeschnappt, wie ein kleines Kind behandelt zu werden. Zu gern wäre er auch mit auf Erkundungstour gegangen.
„Ihr?“ Friedrich überlegte einen Augenblick. „Ihr könnt euch ja ein bisschen die Stadt ansehen. Wir treffen uns hier wieder, irgendwann heute Nachmittag und dann werden wir euch mitteilen, was wir entschieden haben.“
Es war bereits Nacht, als Doktor Retzner und der Pastor zurück zur Pension kamen. Sie versammelten sich in ihrem Zimmer, wo Nikolaus und Hubert auf einer der Matratzen kauerten, während ihr Vater eine Karte auf dem Tisch ausgebreitet hatte.
„Wir haben Neuigkeiten“, verkündete er und die Aufregung war ihm anzumerken.
„Das heißt, wir verlassen diese Stadt?“ Es war mehr eine Feststellung denn eine Frage und augenblicklich fühlte Juliane die Hand ihrer Mutter, die ihr energisch auf den Arm klopfte. Es war das Zeichen, dass sie es unterlassen sollte, die Unterhaltung der Männer zu unterbrechen. Das gehörte sich nicht für eine anständige, junge Dame. Die Männer wussten, wovon sie sprachen und die Frauen hatten sich dem zu fügen, was sie entschieden. Wieder einmal regte sich in Juliane der Trotz. Sie war nicht dumm! Sie war in in vielen Bereichen besser gebildet als mancher Mann! Weshalb sollte sie darauf nicht stolz sein dürfen und zeigen, was sie konnte und wusste?
„Welche Neuigkeiten?“, fragte nun auch Hubert und stand auf, um die Karte näher inspizieren zu können. Das lummelige Licht der Deckenlampe reichte dafür gerade aus. Es handelte sich um einen ganz neuen Druck, der das komplette Gebiet der Vereinigten Staaten umriss.
„Ihr werdet es nicht erraten!“ Die grünen Augen des Österreichers funkelten triumphierend. „Übermorgen geht ein Wagentreck westwärts!“
„Ein Wagentreck?“, wiederholte Luise gedehnt, keinen Hehl aus ihrer Abneigung machens. „Und so bald schon?“
„Ja, und glauben Sie mir, das ist nur zu unserem Besten“, nickte Doktor Retzner. „Wir müssen vor dem Herbst und dem Wintereinbruch über die Rocky Mountains sein und jetzt, im Frühjahr, stehen die Chancen am besten, dass wir von St. Louis aus einen anderen Treck finden, dem wir uns anschließen können bis Oregon.“
„St. Louis?“, fragte Juliane. Es war ihr unmöglich, ihre aufsteigende Neugier bezüglich der bevorstehenden Ereignisse zu unterdrücken. „Wo ist das?“ Wieder fühlte sie die Hand ihrer Mutter, die auf ihre Schulter hämmerte, als Zeichen, endlich den Mund zu halten, dieses Mal jedoch wesentlich energischer.
„Gleich hier, Fräulein!“ Der Österreicher deutete auf einen Punkt auf der Karte, fast in der Mitte des riesigen Landes. „Und hier ist New York.“
Hubert betrachtete abschätzend die Distanz zwischen den beiden Orten und runzelte die Stirn. „Das ist eine verdammt lange Strecke mit einer Kutsche!“
„Hubert!“, wies sein Vater ihn zurecht. „Hier wird nicht geflucht!“
„Entschuldige“, murmelte sein Sohn und wich dem strengen Blick seines Vaters aus. „Aber es ist doch so, nicht wahr?“
„Natürlich“, stimmte der Österreicher zu. „Mehrere hundert Meile, schätze ich.“
„Warum nehmen wir dann nicht einfach den Zug?“, hakte Hubert verständnislos nach. „Wäre das nicht viel einfacher und sicherer und wir würden auf jeden Fall in St. Louis ankommen, völlig unabhängig von irgendewelchen Witterungseinflüssen?“
Friedrich legte seine Stirn in Falten. Ihm gefiel die direkte Art nicht, mit der sein Sohn hier redete, obwohl er nicht leugnen konnte, dass einige seiner erwähnten Punkte durchaus Sinn machten. „Der Grund ist ganz einfach – hast du dir einmal durchgerechnet, was so eine Zugfahrt von hier nach dort für uns alle kosten würde?“
„Nun, nein“, gab Hubert etwas kleinlaut zu.
„Wir sind fünf Köpfe“, fuhr sein Vater fort. „Und unsere Ersparnisse sind nicht endlos. Wir müssen ein wenig bedacht damit umgehen.“
„Ist St. Louis das Tor zum Westen, von dem ihr gesprochen habt?“, wollte Nikolaus nun wissen.
„Ja, mein Sohn, das ist es.“ Friedrich nickte, wobei er mit dem Zeigefinger eine Linie zwischen New York und der der genannten Stadt zog. „Und in einigen Wochen wirst du es selber sehen.“
„Was für Leute sind das, die uns auf diesem Wagentreck begleiten werden?“ Luise wirkte sehr erschrocken. „Und wird es für die Kinder sicher sein?“
„Nichts ist sicher in diesem Land“, erwiderte der Arzt mit einem vagen Lächeln. „Aber machen Sie sich wegen der anderen Reisenden keine Sorgen – die haben alle nur eins im Kopf: Nach Westen ziehen und ein neues Zuhause für sich finden!“
„Das ist korrekt“, unterstützte Friedrich ihn, um die Ängste seiner Frau zu zerstreuen. „Wir haben bereits mit einigen von ihnen gesprochen und es scheinen ordentliche Leute zu sein. Sie alle sind in derselben Ausgangslage wie wir und wir werden uns einen Wagen und Maultiere kaufen und...“
„Einen Wagen kaufen?“, echote Luise verwirrt. „Und Maultiere?“
„Natürlich, meine Liebe”, sagte ihr Mann, einen Arm um ihre Schulter legend. „Du wirst doch nicht etwa laufen wollen?“
„Nein, aber...“ Sie warf Burkhard Retzner einen finsteren Blick zu, ehe sie ihre Aufmerksamkeit wieder ihrem Mann schenkte. „Das hat offen gestanden wenig damit zu tun, wie ich es mir in diesem neuen Land vorgestellt hatte...“
„Ich auch nicht“, grummelte Juliane leise, mit finsterer Miene.
„Ich finde es großartig! Wir werden unsere eigenen Maultiere haben!“ Nikolaus schien der einzige, der sich freute, während er aufgeregt auf der Matratze herumhüpfte. „Darf ich sie dann auch striegeln?“
Grinsend zerraufte Hubert seinem Bruder das dunkelbraune Haar.
„Natürlich, Kleiner, du darfst sie jeden Tag saubermachen!“
„Sehen Sie”, versuchte Doktor Retzner ihnen zu verdeutlichen. „Es ist ja nicht so, dass Ihre Ausgaben zu Ende sind, wenn Sie mit dem Zug in St. Louis angekommen sind! Von dort kommen Sie ohne Pferd oder Kutsche nirgends mehr hin und ich vermute mal, keiner von Ihnen ist erpicht darauf, Monate im Sattel zu verbringen.“
„Ganz und gar nicht!“ Luise seufzte. Es schien keine Möglichkeit zu geben, dieser Sache noch einmal zu entkommen und ihr schwirrte der Kopf ob all der unerwarteten Wendungen. Ein Wagen mit Maultieren und sie sollte damit quer durch dieses riesige Land ziehen!
„Wir könnten den Winter auch in St. Louis verbringen, uns eine Arbeit suchen, ein bisschen Geld dazuverdienen und sobald der Schnee schmilzt, suchen wir uns einen Führer, der uns sicher über die Rocky Mountains bringt.“
„Was soll eigentlich die Endstation unserer Reise sein?“, Hubert gab es nicht zu, aber er spürte durchaus ein wenig Besorgnis, wenn er sich das bevorstehende Abenteuer ihrer Reise ausmalte. Er hatte genug in den Zeitungen gelesen, um von Indianermassakern und todbringenden Krankheiten zu wissen. Er konnte nicht behaupten, sonderlich erpicht darauf zu sein, mit irgendwelchen Indianern zu kämpfen.
Friedrich lächelte. „Ich bin mir sicher, dass sich alles zum Besten entwickeln wird.“ Bilder erschienen vor seinem inneren Auge, die seine eigene Kirche zeigten in einer neuen Stadt, die er mitbegründet hatte. „Wir ziehen von St. Louis über die Town Of Kansas zum Oregon Trail.“
„Wo ist Oregon?“ Huberts Augen glitten über die Karte, doch er konnte keinen Ort mit diesem Namen entdecken.
„Hier drüben.“ Doktor Retzner half ihm, wobei er auf den Teil der Karte tippte, der sich zuweitest an der Westküste des Kontinents befand. „Wie ich gehört habe, ist es das beste Grasland und der Boden so fruchtbar, dass alles darauf wächst. Dazu müssen riesige Wälder dort zu finden sein.“
„Wir sind keine Farmer“, wagte Hubert vorsichtig einzuwerfen. „Keiner von uns hat die leiseste Ahnung von solchen Dingen.“
Friedrich schmunzelte. „Zerbrich dir darüber nicht den Kopf, mein Junge. Die Wege des Herrn sind unergründlich, wie du weißt und wer kann schon sagen, was er sich für uns überlegt hat?“
Bei Morgengrauen des vierten Tages ihres Aufenthalts in New York war es soweit. Dicke Nebelschwaden hingen über den Dächern, wobei ein kühler Wind durch die Gassen blies. Hubert wachte als erster auf und öffnete den Vorhang, um hinab, auf die noch menschenleere Straße zu blicken. Er schob das Fenster nach oben, ließ die kühle Luft herein und atmete tief durch. Der letzte Morgen, den er in New York erwachte. Er lächelte. Gestern hatten Doktor Retzner und sein Vater ihr Geld zusammengelegt und einen Planwagen erstanden, zusammen mit zwei struppigen, großen Maultieren mit langen Ohren und einer gewissen Schläfrigkeit im Blick. Für Nikolaus war es Liebe auf den ersten Blick gewesen und er hatte sie bereits „Hans“ und „Otto“ getauft, völlig unbeeindruckt davon, dass es sich um zwei Stuten handelte.
Hubert verließ das Zimmer leise und schloss die Tür lautlos hinter sich, um seine Familie nicht zu wecken, die noch fest schlief. Im Korridor angelangt, bemerkte er eine vertraute Gestalt hinter sich und drehte sich um, nur um Juliane dabei zu ertappen, wie sie gemächlich den Flur entlang schlenderte, der überfüllt war mit Einwanderern, die mangels eines freien Zimmers hier nächtigten.
„Guten Morgen! Du bist ja schon unterwegs! Gut geschlafen?“
„Kann ich nicht behaupten!“ Sie reckte ihre Arme und unterdrückte ein Gähnen. „Hab’ von unserem Treck nach Oregon geträumt...schlimme Sache, kann ich dir sagen.“
„Warum?“ Hubert konnte nicht anders, sondern musste amüsiert grinsen. Er wusste, wie theatralisch seine Schwester sein konnte, besonders dann, wenn eine Sache gegen ihren Dickkopf ging.
„Wir sind nicht in Oregon gelandet, in meinem Traum“, rief seine Schwester sich ins Gedächtnis zurück und runzelte die Stirn. „Wir haben irgendwo, an einem sehr merkwürdigen Ort eine Stadt errichtet und ich erinnere mich, dass ich vorhatte zu heiraten...vollkommen abwegig!“
Hubert lachte leise und ließ seinen Blick kopfschütteln über sie gleiten. Sie trug nur eine Bluse und einen Rock, beides zerknittert und die Bluse noch nicht einmal in ihren Gürtel geschoben, noch dazu zwei offene Knöpfe am Kragen. „Du solltest dich lieber anständig anziehen, bevor Mutter dich in dieser Aufmachung mitten auf dem Flur einer öffentlichen Pension zu Gesicht bekommt!“
Juliane gähnte erneut und begann, ihre zerknitterte Bluse glatt zu streichen und ihren Rock zu ordnen.
„Für einen Siedlertreck ist das alles ganz schön unpraktisch“, erklärte sie in ihrer offenen, ehrlichen Art und seufzte. „Wenn doch bloß diese Unterröcke nicht wären!“
„Mutter wird dir kaum erlauben, dass du Hosen anziehst!“, meinte Hubert leise und grinste, einen Blick über seine Schultern zurückwerfend, hinaus zu dem Fenster des Flurs. Dort unten, hinter der Scheibe, konnte er die Straße erkennen, wo die Stadt allmählich begann, zu erwachen und sich zu regen.
„Das befürchte ich beinahe auch“, erwiderte seine kleine Schwester gequält, wobei sie fand, dass es an der Zeit war, sich ihr Haar zu kämmen. „Aber vielleicht darf ich irgendwann die Unterröcke weglassen.“
„Solange es so kalt ist? Ich würde nicht darauf hoffen. Es wäre vermutlich auch keine besonders gesunde Idee.“
„Hmm.“ Das Mädchen hob resigniert die Schultern. „Du hast recht. Trotzdem – mir gefällt diese ganze Sache mit dem Wagentreck und den Maultieren und allem sowieso nicht. Und mir gefällt noch weniger, wenn ich daran denke, dass ich ständig auf diesen Karren klettern muss, mit all den unpraktischen Röcken und diesem hässlichen Kopftuch.“
Eine Stunde später waren Friedrich und Luise Kleinfeld zusammen mit ihren Kindern und Doktor Burkhard Retzner so weit, dass sie sich zum Treffpunkt für den Siedlertreck aufmachen konnten. Jeder trug irgendein Gepäckstück die Treppe hinab zur Rezeption, hinter der ein älterer Herr saß, um sie zu verabschieden.
„Siedlertreck“, wiederholte er gedehnt, als Friedrich ihm auf Nachfrage von ihrem Vorhaben berichtete und runzelte die Stirn. „Sie wissen hoffentlich, auf was Sie sich da einlassen?“
„Natürlich“, versicherte Friedrich mit einem zuversichtlichen Lächeln, wie nur ein Geistlicher es fertigbrachte. „Wir möchten nach Oregon oder Kalifornien, jedenfalls nach Westen.“
„Schön, schön!“ Der Rezeptionist nickte besonnen. „Meine Familie lebt jetzt in der vierten Generation in diesem Land und ich habe weiß Gott eine Menge Trecks nach Westen ziehen sehen!“ Sein Blick glitt über die ihm fremden Menschen hinweg. „Ein Spaziergang wird das nicht, das ist Ihnen hoffentlich klar?“
„Wie charmant von Ihnen, uns darauf hinzuweisen“, erwiderte Doktor Retzner und entsann sich im selben Moment, dass er ja Englisch sprechen musste, damit der Mann ihn verstehen konnte. Da er sich jedoch außerstande sah, das eben Gesagte zu übersetzen, vollendete er: „Hier im Osten ist doch kein Platz für uns alle! Wo sollen wir denn hin? Und Amerika ist so groß und gerade weiter im Westen gibt es so viel Land, das noch ungenutzt ist und...“
Der Rezeptionist nickte und brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. „Nun, ich sehe, das wird für einige Leute ein echtes Abenteuer. Darf ich fragen, welchem Treck Sie sich anschließen wollen?“
„Oh, das ist einer mit nur etwa zwanzig Familien, die entweder mit demselben Dampfer wie wir hier angekommen sind oder ein paar Tage zuvor schon.“
„Aha!“, machte der Mann und verzog das Gesicht. „Also ein ganzer Haufen voller Grünschnäbel, die in ihrem Leben weder einen Grizzlybären, noch einen Wolf gesehen haben!“
„Grizzlybär?“ Luise schaute schockiert. „Was ist das, ein Grizzlybär?“
„Wie der Name schon sagt, Ma’am“, half der Rezeptionist ihr auf die Sprünge, „handelt es sich um eine große und nicht sehr freundliche Kreatur. Wenn Sie dort hinausgehen und ihre Route westwärts einschlagen, werden einige sehr interessante Überraschungen auf Sie warten, mit denen Sie vermutlich nicht gerechnet hätten! Und es gibt in der Tat eine Menge an wilden Tieren und anderen Dingen da draußen, mit denen nicht gespaßt werden sollte! Aber, bitte, Sie wissen ja vermutlich selbst, was Sie wollen!“
Nun wurde auch Doktor Retzner hellhörig. „Was wollen Sie damit sagen? Dass wir zu blöd sind, um in der Wildnis zu überleben?“
„Das haben Sie gesagt, Mister“, entgegnete der Mann mit einem Grinsen. „Ich kann Ihnen jedefalls nur sehr viel Glück wünschen!“
Ein Stück außerhalb der ersten Häuser New Yorks, auf einer großen, freien Wiese, hatte sich bereits eine gewaltige Anzahl von Menschen versammelt. Dazwischen standen Maultier- und Ochsenwagen und Handkarren herum, bereit für die Abfahrt. Es mussten mindestens siebzig bis achtzig, wenn nicht noch mehr Personen sein, die darauf warteten, sich dem Treck anschließen zu können, die Kinder nicht mitgezählt. Sie stammten aus den unterschiedlichsten Ländern und redeten in den verschiedensten Sprachen. Da waren Norweger, Schweden, Spanier, Holländer und Ungarn, dazwischen ein paar Engländer und Griechen.
„Es ist unglaublich!“, fand Friedrich und schüttelte den Kopf.
„Der Rezeptionist hatte womöglich nicht ganz Unrecht“, stellte Hubert gedehnt fest und vermied es, den Blick zu heben.
„Wie meinst du das?“ Sein Vater wirbelte herum. „Inwiefern? Willst du etwa lieber hierbleiben? In dieser...dieser Stadt?“
„Nun, es fängt doch schon damit an, dass wir den Maultieren nicht zumuten können, uns alle den ganzen Weg zu ziehen. Das würden sie vermutlich kaum überleben!“
„Oh nein!“, rief Nikolaus erschrocken. „Nicht Hans und Otto!“
„Und was, bitteschön, schlägst du dann vor? Ein zweites Gespann geben unsere finanziellen Ressourcen nicht mehr her!“ Friedrich kreuzte die Arme vor der Brust, seinem Ältesten einen strengen Blick zuwerfend. Etwas ging mit seinem Sohn vor sich, er widersprach so häufig wie nie, seit ihrer Ankunft in diesem sogenannten Land der großen Freiheit.
„Wir müssen uns abwechseln. Jeder von uns muss einige Meilen pro Tag laufen und damit die Belastung für die Maultiere so gering wie möglich halten.“
„Ich ganz bestimmt nicht!“, rief Juliane entrüstet und verschränkte ihre Arme trotzig vor der Brust. Luise versetzte ihr mit der flachen Hand einen unwirschen Schlag auf die Wange.
„Sei still, wenn Männer miteinander reden!“
„Ich werde laufen“, verkündete Nikolaus eifrig, allerdings nicht wirklich glücklich und runzelte die Stirn. „Ich will nicht, dass Hans und Otto sterben müssen!“
Mit gemischten Gefühlen fuhr Friedrich sich mit den Händen übers Gesicht. Schließlich räusperte sich Doktor Retzner hinter ihm. „Verzeihung, aber...“
„Haben Sie eine bessere Idee?“
„Nein und ich denke, dass Ihr Sohn völlig richtig liegt. Wir haben keine andere Möglichkeit und jeder von uns wird sein Pensum pro Tag zu Fuß zurücklegen. Allerdings sehe ich darin keine allzu großen Probleme. Ein bisschen Bewegung ist besser für den menschlichen Körper als ständig nur herumzusitzen.“
Friedrich seufzte gereizt. Er verabscheute die Vorstellung, neben dem Wagen herzustapfen, nachdem sie ihn schon für einen Haufen Geld erstanden hatten und offenbar nur dafür, dass er trotzdem seine Beine benutzen musste!
„In Ordnung“, raunzte er den Doktor an. „Lassen Sie uns bloß hoffen, dass dieses Tor zum Westen nicht ganz so weit entfernt ist, wie es auf der Landkarte ausgesehen hat!“
Tiefe Spuren von eisenbereiften Rädern zeichneten sich auf der Art Landstraße ab, die vom Regen der letzten Tage durchweicht war. Pferde schnaubten, Atemwölkchen vor den Nüstern bildend, und hin und wieder brüllte ein Ochse. Ein paar Kinder jammerten, weil ihnen kalt war und einige junge Frauen beschwerten sich, dass sie nicht mehr gehen konnten, weil sie entsetzliche Blasen an den Füßen hatten.
„Wenn ich mir vorstelle, welchen Luxus wir in einem Zugabteil nun genießen würden“, sagte Luise inbrünstig und ein bisschen wehmütig, während sie ihre Jacke fester vor ihrer Brust zuzog. Ihr fröstelte. „Wenn ich mir ausmale, dass es täglich so weitergeht, bis Oregon...“ Sie brachte den Satz mit einem Kopfschütteln zu Ende. Sie fuhren zwischen unzähligen anderen Karren in eine Dunst von Nieselregen. Ein paar einzelne Reiter waren dazwischen zu entdecken, meist junge Männer, voller Tatendrang und Sehnsucht nach Abenteuern. Mindestens genauso viele marschierten jedoch zu Fuß, weil ihr Geld nicht ausreichte, um sich ein Fortbewegungsmittel zu erwerben.
„Geh doch nach hinten, zu Nikolaus, und ruh dich ein bisschen aus“, schlug Juliane vor, ihre Mutter besorgt beobachtend. „Du bist ganz blass. Hardy und ich schaffen das hier oben auch alleine.“
Der österreichische Arzt nickte zustimmend. „Sie sehen wirklich nicht gut aus!“
„Ich fühle mich auch entsetzlich“, gab Luise zu und erhob sich. Ihren Rock und die Unterröcke raffend kletterte sie über die Lehne des Kutschbocks nach hinten, in den von der Plane überspannten Teil des Wagens. Dort schlief Nikolaus, müde und erschöpft von der nun bereits vier Wochen andauernden Reise.
Doktor Retzner seufzte. „Diese verflixte Kälte!“
Juliane schaute ihn an. Er hielt die Zügel der beiden Maultiere fest in der Hand. Der österreichische Arzt hatte sich nicht nur als hervorragender Kutscher, sondern auch als großartiger Kartenleser und Entfernungsberechner bewiesen. „Wann, glauben Sie, werden wir endlich in dieser Stadt zum Westen angelangt sein?“
Doktor Retzner hob die Achseln, wobei sein zu lang gewordenes, strohblondes Haar sanft mitwippte. „Es sollte nicht mehr sehr weit sein.“ Überlegend richtete er den Blick gen Himmel. „Meinen Berechnungen nach, dürfte es sich nur noch um Stunden handeln.“ Er nickte zuversichtlich.
Juliane seufzte tief und warf den geflochtenen Zopf ihres langen, rotblonden Haares zurück. „Wir sind jetzt beinahe vierzig Tage unterwegs und ich habe schon jetzt keine Lust mehr. Ich frage mich, ob es den anderen auch so geht...“
Doktor Retzner lächelte. Seine grünen Augen bedachten sie mit einem liebevollen Blick. „Keine Angst, kleine Julie, lass uns erstmal in St. Louis ankommen und all die anderen treffen, die gen Westen wollen.“
„Julie?“, wiederholte das junge Mädchen gedehnt und starrte ihn irritiert an. „Was ist das?“
Doktor Retzner lachte leise auf. „Das ist die englische Form deines Namens! Du glaubst doch nicht etwa, dass ihr eure Namen hier allzu lange in der deutschen Form behalten werdet, hier, wo alles Englisch spricht? Eure Namen sind so kompliziert, dass sich die meisten die Zunge brechen würden!“
Juliane lächelte. Wenn sie mit Doktor Retzner auf dem Kutschbock saß und ihr Vater und Bruder neben- oder hinterher marschierten, verging die Zeit immer schneller. Die Quelle seiner Geschichten und humorvollen Bemerkungen schien unerschöpflich und Juliane liebte es, ihm zuzuhören. Auch sein unglaubliches Wissen faszinierte sie. Er schien immer auf alles eine Antwort zu kennen, nichts schien ihm unbekannt. So fragte sie jetzt: „Wie würden die Leute uns dann auf Englisch nennen?“
Doktor Retzner musste schmunzeln. Wie unglaublich naiv sie doch war! „Du hast nicht den Schimmer einer Ahnung, nicht wahr?“
„Ahnung? Wovon?“
„Dass sich nicht nur eure Namen mit diesem Land verändern werden, sondern auch ihr selbst...du und deine Eltern und deine Brüder und ich natürlich auch. Wir alle werden mit diesem Land, das wir besiedeln, wachsen – oder scheitern. Das steht in unserer Macht, aber wir werden unsere Vornamen auch deshalb anders aussprechen, weil wir dazugehören wollen, weil wir uns als ein Teil dieses ungezähmten, weiten Landes betrachten werden. Verstehst du?“
Juliane starrte ihn lange an. Wenn er in solch ernste, philosophische Überlegungen ausbrach, bekam sein freundliches Gesicht immer einen eigenartigen Ausdruck, als befände er sich gar nicht mehr hier, sondern irgendwo weit fort, auf einer Wolke, die ihn von einem Gedanken zum nächsten trug.
„Doch“, sagte sie schließlich, „ich verstehe. Wir werden keine Deutschen mehr sein, sondern Amerikaner.“
Ein Lächeln bildete sich auf dem Gesicht des Österreichers, das von den zurückliegenden, anstrengenden Wochen eingefallen und müde wirkte.
„Ganz recht. Wir werden alle irgendwann amerikanische Ausweise bei uns tragen. Du wirst Julie heißen, dein Vater vielleicht Frederick, deine Brüder Hugh und Nicolas und deine Mutter...nun, da bin ich mir offen gestanden nicht ganz sicher, aber ich glaube, sie müsste dann mit einem ‚ou‘ in der Mitte geschrieben werden.“
„Julie“, sagte das junge Mädchen verträumt. „Mein Name ist Julie Kleinfeld. Klingt das nicht schon sehr amerikanisch?“
Doktor Retzner schmunzelte. „Sehr!“, versicherte er mit Nachdruck. „Nur der Nachname, an dem müssen wir noch ein bisschen feilen!“
„Wie übersetzt man Kleinfeld?“, wollte Juliane wissen. Sie unterhielten sich immer auf Deutsch, was ihrer Sprachförderung nicht gerade zugute kam.
Doktor Retzner zuckte die Schultern. „Ich weiß es nicht, wirklich nicht...Julie!“ Er grinste breit, als er den zufriedenen Ausdruck auf ihrem hübschen Gesicht bemerkte. „Weißt du was? Von jetzt an werde ich dich nur noch so nennen!“
Ein paar Meter neben dem Wagen, abseits von dem aufgeweichten Schlamm der Straße marschierten diejenigen, die sich entweder keinen Wagen hatten leisten können oder sich mit anderen beim Fußmarsch abwechseln mussten, weil die Tiere nur eine bestimmte Anzahl von Leuten ziehen konnten.
„Bald fängt es wieder zu dämmern an“, meinte Hubert und richtete seinen Blick nach oben, zu den grauen Aprilwolken. „Ich frage mich, wann wir endlich ankommen werden.“
Sein Vater schien ihm nicht richtig zugehört zu haben. „Ja“, erwiderte er nur. „Ja, ja.“
Erstaunt zog Hubert die Brauen hoch. „Was ist denn?“, wollte er wissen und folgte dem Blick seines Vaters, der an ihrem Wagen, genauer, am Kutschbock hing, wo sich seine einzige Tochter und der österreichische Arzt angeregt unterhielten.
Hubert musste ein Grinsen unterdrücken. „Sieht fast so aus, als würden Hardys Berechnungen nicht nur auf dem Interesse einer schnellen Ankunft beruhen“, gluckste er, nur mit Mühe die Beherrschung wahrend.
Friedrich warf ihm einen strengen Blick zu. „Solche Anschuldigungen verbitte ich mir! Ich halte Hardy für einen ausgesprochen höflichen, wohlerzogenen, jungen Mann!“
„Oh, ich habe nichts Gegenteiliges behauptet!“, wagte Hubert zu widersprechen. Niemandem konnte entgehen, mit welch ungewöhnlicher Aufmerksamkeit der österreichische Arzt seine kleine Schwester bedachte. „Aber ich bin der Ansicht, er passt nicht zu ihr.“
„Passen!“, stieß Friedrich verächtlich hervor. „Was heißt hier passen? Ob ein Ehemann zu einem Mädchen passt oder nicht, haben immer noch die Eltern zu entscheiden.“
Huberts braune Augen weiteten sich. Er biss sich auf die Lippen. „Du...du meinst, Hardy und Juliane sollten...ich meine...sie sollten...“
„Warum nicht?“, unterbrach Friedrich sein Gestammel. „Nicht sofort, natürlich! Erst, wenn wir am Ziel angekommen sind und uns eine Existenz aufgebaut haben. Vorher gebe ich sie ihm nicht, aber dann – was spricht dagegen?“
Hubert atmete tief durch. Er konnte sich nicht helfen. Sicher, die Argumente seines Vaters waren durchaus vernünftig. Bisher hatte Hardy sich nur von seiner besten Seite gezeigt und Hubert bezweifelte, dass es da eine andere, eine schlechte Eigenschaft an ihm gab, die sie noch nicht kannten. Doch es gab einen Punkt, den er ganz klar in Frage stellte und den er für die Eheschließung als absolut notwendig erachtete: „Juliane liebt ihn nicht.“
Friedrich starrte ihn perplex an. „Bitte?“, fragte er. „Was hast du gesagt?“
Hubert schluckte. Er wusste, was es bedeutete, sich mit seinem Vater auf eine Diskussion einzulassen. Friedrich war gebildet und schlagfertig und zudem noch mit einem gesunden Selbstbewusstsein ausgestattet, durch das er sich unangefochten als Oberhaupt innerhalb seiner Familie sah.
„Nun“, erwiderte der junge Mann gedehnt. „Ich denke, dass Juliane nicht die Gefühle für ihn hegt, die für eine Ehe wichtig wären.“
„Liebe“, sagte Friedrich und das Wort klang aus seinem Mund, als sei es ein Fremdwort. „Liebe innerhalb einer Ehe bringt meistens nur Ärger mit sich! Die Liebe kommt schon im Laufe der Jahre, wenn erst einmal Kinder da sind und die Frau weiß, wo sie hingehört! So war das auch bei eurer Mutter und mir! Unsere Eltern haben bestimmt, dass wir heiraten werden und wie du siehst, sind wir nach fast zwanzig Jahren immer noch glücklich. Was können zwei Menschen sich mehr wünschen?“
Hubert antwortete nichts darauf, sondern richtete seinen Blick stur auf den Boden vor seinen Füßen. Nun gut, es war offensichtlich, dass Doktor Retzner Interesse an Juliane zeigte. Kein Wunder, dachte er, sie ist eine reizende, junge Dame geworden, richtig erwachsen.
Dass sie ihn nicht liebte, höchstens bewunderte und verehrte, konnte Hubert allerdings nicht entgehen. Dazu war er zu sensibel und feinfühlig und dafür kannte er seine Schwester auch zu gut. Er bezweifelte nicht, dass sie sich erfolgreich weigern würde, sollte Friedrich auf den Gedanken kommen, sie – erstmal in Oregon, Kalifornien oder wo auch immer angelangt – mit dem Österreicher verheiraten zu wollen. Sie war doch noch so jung und Hardy Retzner fast doppelt so alt! Hubert seufzte leise. Nein, das Leben war weiß Gott nicht einfach, zumindest nicht für ein Mädchen. Ein Mann konnte sich aussuchen, welche Frau er haben wollte, zu ihren Eltern gehen und um ihre Hand anhalten und wenn die Eltern ihn als gut genug empfanden, gaben sie ihre Tochter frei. Wie ein Stück Vieh, schoss es Hubert durch den Kopf und ein Schauer jagte über seinen Rücken, genau wie eine Kuh oder ein Pferd. Dann wird sie an denjenigen weitergereicht, den ihre Eltern als den Besten betrachten, der sie haben möchte.
Noch am selben Abend, bei Dämmerung und einem kalten, schneidenden Frühjahrswind erreichten sie St. Louis, eine der westlichsten Städte, die noch als zivilisiert bezeichnet werden konnten. Sie überquerten den Mississippi an einer flachen Stelle und ohne, dass einer der Wagen umkippte, obwohl die Zugtiere erschöpft und müde waren und der Wasserpegel aufgrund der Schneeschmelze eine ordentliche Höhe aufwies.
„Jetzt, mein Junge“, sagte Friedrich und Stolz schwang in seiner Stimme mit. „Jetzt haben wir den Osten hinter uns gelassen und nur noch der endlose, weite Westen wartet auf uns!“
Ein Engländer mittleren Alters, der die Strecke schon einmal gefahren war, es sich dann anders überlegt hatte und wieder nach New York zurückgekehrt war, um es jetzt noch einmal zu versuchen, führte sie ein Stück außerhalb der ersten Häuser der stetig wachsenden, für die Verhältnisse ausgesprochen modernen Stadt, zu einer abgeschiedenen Wiese. Dort standen, wild durcheinander und scheinbar ohne Anordnung, bereits unzählige Planwagen von anderen Trecks und dazwischen erhoben sich mindestens ebenso viele Zelte. Das einzige Gebäude in der sichtbaren Umgebung war eine mächtige Scheune.
„Wie?“, sagte Luise fassungslos. „Sollen wir etwa die ganze Zeit über hierbleiben, bis es weitergeht? Nur in unseren Wagen oder den Zelten?“
„Scheint so“, entgegnete Hubert und griff in die Zügel des Gespanns, um es anzuhalten.
„Nun“, meinte Friedrich und schaute sich um. „Es kann sich ja hoffentlich nur um wenige Tage handeln, bis wir uns einem anderen Treck anschließen können!“
„Sprich, wir sitzen erst einmal hier fest“, murmelte Hubert leise und machte ein finsteres Gesicht. Hoffentlich würde es sich nicht allzu lange hinziehen – er war ungeduldig, er wollte nicht unnütz hier herumsitzen!
Sein Vater neben ihm seufzte tief. „Ja, es hat fast den Anschein, als müssten wir es uns hier vorerst gemütlich machen.“
Hubert blickte um sich, betrachtete die Gesichter, die ihm mittlerweile schon vertraut vorkamen und die müde und erschöpft aussahen.
„Ich glaube“, murmelte er, mehr zu sich selbst, „da sind wir nicht die einzigen.“
Die anderen Reisenden ihres Wagentrecks begannen, einen Kreis mit ihren Wagen zu formen und Hubert trieb die Maultiere vorwärts, um sich ihnen anzuschließen. Danach begannen sie alle, sich bestmöglich für die Nacht vorzubereiten und die Ochsen und Pferde zu versorgen. Sie versammelten die Tiere in der Mitte der Wagen, wo die ersten auch bereits begannen, offene Feuer zu entfachen.
„Lasst uns jetzt besser anfangen“, schlug Luise vor, „bevor wir überhaupt nichts mehr sehen.“
„Das dürfte bei den vielen Feuern kein Grund zur Sorge sein“, warf Julie vorsichtig ein, wobei sie das Cape um ihre Schultern enger zog. Ihr fröstelte.
„Wir brauchen auch so ein Ding.“ Friedrich deutete neben sich, wo ein kleines Zelt aus festem Stoff mit Heringen im Boden verankert war. „Im Sommer werden wir bestimmt auch einige Gewitter und Stürme miterleben.“
„Es wäre zumindest keine schlechte Idee“, sagte Hardy Retzner leise und schüttelte den Kopf. „Es sind sicherlich einige hundert Leute hier und alle wollen sie weiter, aber kaum einer ist auch nur vernünftig gerüstet.“
„Es ist ein wenig spät für diese Einsicht.“ Friedrich klopfte ihm sacht auf die Schulter. „Wir waren unerfahren und wir haben die Naturgewalten zu wenig berücksichtigt. Das hier ist eben doch ein wildes Land voller Abenteuer, nicht zu vergleichen mit Deutschland. Wir können nur versuchen, das Beste daraus zu machen.“
Die beiden Maultiere mussten abgeschirrt und gefüttert werden, was Nikolaus mit Hilfe von Doktor Retzner erledigte. Sie begannen, die Plane, die über den Wagen gespannt war, gut festzuzurren, damit möglichst kein Wind darunterfahren und sie anheben konnte. Nach vorn, in Richtung Kutschbock, verschnürten sie sie komplett. Hubert hängte zusätzlich noch eine Decke davor.
„So kann zumindest kein Wind rein“, meinte er und kroch nach hinten, wo Juliane sich bemühte, ihre viel zu knapp bemessenen Decken gerecht im Wageninneren zu verteilen. Auf einmal stieß sie einen leisen Ruf aus: „Seht mal! Dort!“
Verwundert hob ihr Bruder den Blick. Zwischen den Planwagen und Zelten hervor kam der Engländer geschritten, dessen Namen sie nicht kannten und der sie bis hierher gebracht hatte. Es schien, als wollte er genau zu ihnen. Ein weiterer Mann begleitete ihn. Er war groß und schlank, in eine Wildlederjacke gekleidet und einem Abzeichen in Form eines glänzenden, silbernen Sterns auf der Brust.
„Was tut er hier?“, wisperte Nikolaus, während er unablässig Ottos Fell striegelte. Luise trat beschützend zu ihrem Sohn, als befürchtete sie, etwas könnte ihm zustoßen. Sie war damit beschäftigt gewesen, die Pfannen, Teller, Becher und die Kaffeekanne auszupacken, um ihnen unter den gegebenen Umständen bestmöglich eine warme Mahlzeit zuzubereiten.
Friedrich war losgezogen, um Feuerholz zu sammeln und dabei in ein Gespräch mit anderen Siedlern ihres Trecks verwickelt worden. Er wollte mehr darüber erfahren, wie es die nächsten Tage weitergehen würde und er war noch nicht zurück und nirgends zu sehen, auch wenn Luise verzweifelt nach ihm Ausschau hielt.
„He! Sie da!“, sagte der Mann mit dem Abzeichen an der Jacke, als er bei ihnen angelangt war und deutete auf Doktor Retzner. „Der Typ hier meint, er sei so etwas wie euer Führer und behauptet, Sie seien Arzt!“
Der Österreicher starrte ihn lediglich fragend an. Der Mann sprach mit einem nuscheligen Akzent und er verstand keine Silbe davon.
„Er fragt, ob Sie ein Doktor sind“, wisperte Julie auf Deutsch und endlich nickte Hardy Retzner, ehe er ein wenig mühsam die Frage beantwortete: „Ja, das bin ich.“
„Der Sheriff hat angeordnet, dass sich Ärzte sofort bei ihm melden sollen, weil sie überall gebraucht werden. Am besten, Sie kommen gleich mit und wir sagen ihm Bescheid. Ich bin sein Gehilfe.“
Der Österreicher starrte ihn einen Moment fassungslos an, dann wandte er den Kopf zu Julie und Hubert um. „Ah, geh! Jetzt muss ich nur noch verstehen, was der Kerl von mir will!“ Er sprach wieder auf Deutsch. „Die Hälfte der Wörter kenn’ ich nicht!“
Julie gluckste, was ihr einen rüden Ellenbogenhieb Huberts einbrachte, der Doktor Retzner aufklärte, was von ihm erwartet wurde.
„Aha!“, machte dieser und nickte dem Hilfssheriff zu. „All right!“
„Gut, dann wäre das ja geklärt“, mischte sich der Engländer nun ein, sich am Kinn kratzend. „Nachher kommt er nochmal mit einer Liste, in der wir uns alle eintragen müssen, für das Gesetz, verstehen Sie?“
Doktor Retzner zuckte lediglich die Schultern und begann, nach seiner Tasche zu rumoren, die er im Wagen verstaut hatte.
„Sie haben’s gut“, meinte Hubert und lächelte. „Alles ist besser als hierbleiben zu müssen, auf diesem...diesem Sammelplatz.“
„Ja“, lautete die deutsche Erwiderung. „Aber ich tue das nur, weil ich einen Eid abgelegt habe, allen Menschen zu helfen die mich brauchen. Ich habe kein besonders gutes Gefühl, Sie hier zurückzulassen.“ Er warf Juliane einen langen Blick zu, die schweigend neben ihrer Mutter verharrte.
„Passen Sie auf sich auf.“ Hubert klopfte dem Österreicher auf die Schulter und konnte nicht verhindern, dass er sich dabei sehr erwachsen fühlte. Immerhin war er nun derjenige, der die Position seines Vaters einnahm, nachdem dieser nicht anwesend war. „Nicht, dass wir am Ende ohne Sie weiterreisen müssen!“
„Keine Sorge!“ Doktor Retzner lächelte. „Ich werde so bald als möglich von mir hören lassen! Und ich sehe zu, dass ich ein paar Decken oder andere Nützlichkeiten organisieren kann!“
Der Engländer gab ihm einen Wink, sich zu beeilen und sie marschierten in entgegengesetzter Richtung davon, aus der sie gekommen waren. Hardy Retzner folgte dem Hilfssheriff und gleich darauf waren sie zwischen den Wagen und Zelten verschwunden.
„Nun ja.“ Luise brach als erste das eingetretene Schweigen. Ihre Pläne mussten nun ganz andere Wege gehen, allerdings war zuallerst der Versuch an der Reihe, ein halbwegs genießbares Essen zu zaubern. „Dann brauche ich mir jetzt wenigstens keine Gedanken mehr zu machen, wie wir den Platz im Wagen einteilen. Ich habe mich jede Nacht gesorgt, dass er zu nahe bei Juliane schläft!“
Das Mädchen verdrehte die Augen. „Ach, Mutter!“
Hubert machte eine unwirsche Handbewegung. „Hört auf damit! Wir haben keine Zeit für solche Diskussionen! Wir sollten uns lieber um das Feuer kümmern und ich sehe nach, wo Vater steckt und was ihn so lange aufhält.“
Luise entzündete eine Petroleumlampe, während Juliane ihrem Bruder dabei zur Hand ging, Hans und Otto zu versorgen. Das dämmrige Licht reichte gerade dazu aus, um sie ein wenig besser etwas erkennen zu lassen, doch der nächste Windstoß bließ es bereits aus. Wenige Minuten später tauchten Friedrich und Hubert auf, beide die Arme voller Feuerholz. Sie bildeten einen Stapel und rahmten ihn mit einigen Steinen ein, ehe Friedrich das Feuer entfachte.
„Es wird eine verflixt kalte Nacht werden hier draußen“, mutmaßte Juliane, während sie ihre Hände über dem Feuer wärmte. „Können wir nicht einfach wieder in eine Pension gehen, wie in New York?“
„Aber nur für Geld“, warf ihr Bruder ein. „Und dafür reicht es nicht mehr!“
„Red’ nicht zu mir wie zu einem Kleinkind! Ich habe nur gefragt!“
„Und ich habe dir einfach nur eine Antwort gegeben!“
„Reißt euch zusammen, beide!“ Ihr Vater machte eine unwirsche Handbewegung. „Alles weitere werden wir morgen sehen und erfahren. Für heute sind wir nicht dazu bestimmt, die Lage zu ändern.“
„Bedauerlich!“ Juliane seufzte dramatisch und stützte ihren Kopf in die Hände. Sie fühlte sich verloren und da war eine Leere in ihr, die sie nie zuvor gekannt hatte. Nun schön, jetzt waren sie also hier, in diesem sogenannten Land der Verheißung, allerdings war hier nichts besser als es bei ihnen Zuhause gewesen war. Ganz im Gegenteil! Sie hatten noch nicht einmal mehr ein festes Dach über den Köpfen, sondern waren dazu gezwungen, die nächsten Wochen oder Monate in einem Planwagen zu verbringen! Sie glaubte, die Welt und das Schicksal hatten sich gegen sie verschworen, während eine Welle von Heimweh ihr Herz durchflutete.
Später, als sie zwischen ihrer Mutter und der Holzwand des Wagens lag, konnte sie unter der Plane hinausblinzeln, um in der klaren Nacht einen Blick auf die glänzenden Sterne zu erhaschen. Ihr Vater sprach ein Gute-Nacht-Gebet und gemeinsam beteten sie das Vaterunser, auch wenn Julie sich nicht auf die vertrauten Worte konzentrieren konnte. Sie dachte daran, wie sie dies Zuhause selbstständig zu tun gepflegt hatten. Als ich noch Zuhause gewesen bin, dachte sie und schämte sich, weil sie ihrem Vater nicht zuhörte. Als ich noch mein eigenes Zimmer hatte und ich wusste, dass ich meine Freunde am nächsten Tag wiedersehen werde, weil wir gemeinsam zur Schule gehen; als wir jeden Tag eine gute Mahlzeit bekamen und sicher sein konnten, was der nächste Tag für uns bereithält...nicht wie hier, wo keiner sagen kann, was die Zukunft bringen wird oder ob wir jemals in Oregon ankommen.
„Amen“, hörte sie aus den Mündern ihrer Familie und sie drehte den Kopf zur Seite.
„Und jetzt ‚Gute Nacht‘“, befahl Friedrich und wartete, bis er seine Familie rechts und links neben sich liegen und die Decken über sich gezogen sah. Dann drehte er den Docht der Lampe zurück, die er an einen Haken über seinen Kopf gehängt hatte. Es war dunkel im Wagen, dunkel und schrecklich kalt. Julie zog die Wolldecke bis an ihren Hals und drückte sie fester an die Holzwand, doch sie fror. Sie war furchtbar müde und doch viel zu aufgeregt, um gleich einschlafen zu können. Außerdem drangen die ungewohnten Geräusche des großen Lagers durch die Plane und hielten sie wach.
Morgen, dachte sie und malte sich aus, was sie da wohl erwarten würde. Vermutlich Holz sammeln, damit sie Kaffee kochen oder sonst etwas Warmes zubereiten konnten. Und dann werden wir gezwungen sein, Arbeit zu finden, wenn wir länger hierbleiben müssen, schoss es ihr durch den Kopf und sie betrachtete den sternenklaren Himmel, den sie durch den schmalen Schlitz in der Plane erkennen konnte. Irgendwo erklang der leise Schrei einer Eule und sie wunderte sich, dass es diese Vögel hier, in diesem Erdteil ebenfalls zu geben schien. Sie wurden in diesem Land so vieler Dinge beraubt, doch je länger sie darüber nachdachte, desto mehr überkam sie ein eigenartiges Vertrauen. Vielleicht würde morgen schon alles ganz anders sein! Morgen wartete vielleicht eine Überraschung auf sie oder vielleicht würde alles doch noch gut werden und sie konnten sofort glücklich und gesund weiter, Richtung Westen, ziehen.
Der Schein von Licht, der durch die Plane fiel, weckte sie am nächsten Morgen. Von draußen waren viele hundert, völlig unterschiedliche Stimmen zu vernehmen und dazwischen andere, ihr fremde Geräusche, die sie nicht einzuschätzen vermochte.
„Gütiger Himmel!“, entfuhr es Friedrich und er richtete sich auf, nach seiner Taschenuhr suchend. „Wir haben schon viertel nach sieben! Los, los! Alles aufstehen!“
Müde und verschlafen räkelten sich seine drei Kinder und rieben sich die Augen.
„Luise?“, fragte Friedrich als er ihren Platz leer und die Decke säuberlich zusammengelegt neben sich fand. Sie musste irgendwann, unbemerkt von ihnen allen, aufgestanden und über sie hinweggestiegen sein. Er schob seinen ältesten Sohn beiseite, der sich noch immer verschlafen die Hand über die Augen legte und wollte aus dem Wagen klettern. Dabei brach das hintere Holzbrett von den Seitenwänden ab, über das sie ständig zu klettern hatten. Friedrich verlor den Halt und stürzte mitsamt dem Brett in die Tiefe, auf den vom Raureif überzogenen Boden. Ein leiser Fluch entfuhr ihm.
„Vater!“ Erschrocken zog Hubert die Plane beiseite. Draußen herrschte noch Dämmerung und er stellte fest, dass jede Menge Leute sie beobachteten. „Bist du verletzt?“
„Nein!“, rief Friedrich mit Verärgerung. „Aber du wirst dich heute als erstes daran machen und diese Konstruktion hier reparieren und ordentlich festnageln! Das ist ja lebensgefährlich!“
„Ja, Vater“, entgegnete sein ältester Sohn und ließ den Stoff zurückfallen. Nur mühsam konnte er sich aufrappeln. Er fühlte sich wie erschlagen.
„Tut euch auch alles weh?“, fragte Nikolaus und rieb sich den Rücken.
„Allerdings!“, beklagte Julie sich mürrisch und schlug ihre Decke zurück. „Mehr als ein paar Tage halte ich das nicht mehr durch!“
„Da wird dir nicht viel anderes übrigbleiben!“ Hubert kämpfte sich auf die Beine und sprang hinab, auf den gefrorenen Boden. „Ich sehe mal nach unseren Mulis!“
„Ja!“, rief Julie ihm hinterher. „Und komm bloß nicht so schnell zurück mit deiner schlechten Laune!“
„Schlechte Laune“, murmelte Hubert ungehalten. „Wenn das so weitergeht, werde ich eine gewisse, verzogene Schwester von mir übers Knie legen!“
„Was war das?“, fragte Friedrich, der sich auf dem Weg befand, Feuerholz zu suchen. Diese Aufgabe stellte sich als nicht ganz einfach heraus, denn alle Siedler des Trecks waren darauf angewiesen und strömten hinaus in die angrenzenden Wälder, um dort alles zu zerkleinern, was sie finden konnten.
„Nichts“, murmelte Hubert und seufzte. „Überhaupt nichts!“
Seine Mutter hatte bereits begonnen, ein Feuer zu entfachen und lächelte zärtlich zu ihm hinüber. „Warum schnappst du dir nicht Nikolaus und ihr seht zu, ob ihr drüben bei den Tieren gebraucht werdet?“, schlug sie vor.
„Das ist das erste vernünftige Wort, das ich heute höre“, warf Friedrich mit einem strengen Blick auf seinen ältesten Sohn ein. „Nimm deinen kleinen Bruder und sieh zu, was du zustandebringst!“
„Jawohl, Sir!“ Hubert nickte, während er seinem Vater nachblickte, der zwischen den anderen Wagen und Zelten verschwand. „Was auch immer du sagst!“
„Hubert Kleinfeld!“, entrüstete sich Luise mit Nachruck. „Ist das eine Art, mit deinem Vater zu sprechen?“
„Nein, ist es nicht“, pflichtete ihr Sohn bei, ehe er seinen Kopf in den Wagen streckte. „Auf geht’s, Kleiner! Komm in die Gänge, damit wir vor dem Frühstück zurück sind!“
„Das ist eine gute Idee! Juliane ist heute so blöd!“ Nikolaus streckte ihr die Zunge heraus und kroch schnell an den Rand des Wagens, um seinem großen Bruder zu folgen.
„Selber blöd!“, rief das Mädchen und zog eine Grimasse.
„Na, na!“, machte Hubert beschwichtigend und hob seinen kleinen Bruder vom Wagen herab. „Anstatt zu streiten, solltet ihr euch lieber ein bisschen herrichten! Du siehst aus, als hättest du einen ganzen Heuschober umgegraben!“ Lächelnd zerraufte er Nikolaus das Haar. „Und so wie du im Moment aussiehst“, er deutete auf Julie, „findest du nicht mal hier in Amerika einen Ehemann!“
„Ich will überhaupt keinen Ehemann!“, rief seine Schwester entrüstet, tastete jedoch prompt nach ihren zerzausten, rotblonden Haaren.
„Komm, lass uns mal schauen, wo wir helfen können“, erklärte Hubert, um dem Zank ein Ende zu setzen und betrachtete das weggebrochene Brett, an dessen Stelle jetzt ein Loch unter der Plane des Wagens klaffte. Er musste seinem Vater recht geben – diese Bauweise war alles andere als sonderlich brauchbar, wenn sie ständig darüber hinwegklettern mussten und sobald er Zeit fand, würde er in die Stadt hinüber laufen und sich ein paar Nägel und einen Hammer besorgen. Während er im kühlen Morgen durch das Lager lief, dachte er, dass es am besten sei, wenn er sich während ihres Aufenthalts hier eine Arbeit suchte. Wer wusste schon, wie lange sie wirklich auf eine Weiterreise warten mussten?
Nikolaus folgte ihm, so gut es seine kurzen Beine vermochten und schließlich packte der Junge ihn bei der Hand. „Mach’ doch nicht so schnell! Ich bin noch nicht so groß wie du!“
Jetzt, bei Tageslicht, konnten sie die Ansammlung von Zelten und Wagen erst richtig erkennen. Es war nichts weiter als ein Lagerplatz, übervölkert mit Einwanderern. Nun wollte er aber nach ihren beiden Mulis sehen. Sie waren abhängig von den beiden Tieren. Ohne sie wären sie nie dazu in der Lage, die Rocky Mountains zu überqueren und weiter dem Oregon Trail zu folgen.
Friedrich streifte zwischen den eng beieinanderliegenden Zelten und Wagen umher. Er lächelte und nickte den anderen Siedlern zu, die ihn an seiner schwarzen Kutte erkannten und von denen er nur teilweise wusste, dass sie mit ihnen zogen. Die meisten sah er zum ersten Mal in seinem Leben. Dennoch grüßten sie ihn, denn jeder erkannte ihn als Geistlichen. Ein paar Kinder rannten im taufeuchten Gras umher, der sich über Nacht gebildet hatte. Sie lachten und freuten sich und Friedrich musste schmunzeln. Wie unbeschwert und herrlich zufrieden Kinder sein mussten! Sie lebten von einem Tag zum anderen, ohne Ängste und Überlegungen, was die nächste Woche, der nächste Monat ihnen bringen würde.
Zwischen ihrem Lager und den ersten Häusern von St. Louis bahnte ein schmaler, flacher Fluss sich seinen Weg, über den eine einfache Holzbrücke führte. Friedrich schlug diese Richtung ein. Von irgendwoher hörte er leises, helles Glockengeläut und sein Herz schlug schneller. Irgendwo musste es hier also auch eine Kirche geben! Er beschleunigte seinen Schritt und nachdem er die Seitengasse hinter sich gelassen hatte, gelangte er zur Hauptstraße – die erste Hauptstraße einer Stadt im mittleren Westen Amerikas, die er je zu Gesicht bekam: Ein Geschäft reihte sich ans andere, manche kleiner, andere größer, die meisten besaßen die sogenannten „falschen Fassaden“, die sie größer und mächtiger erscheinen ließen, als sie in Wahrheit waren. Seine Augen glitten die belebte, schmutzige Straße hinab, auf der Reiter, Kutschen und Fußgänger entlang eilten. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite entdeckte er drei junge Burschen, die den Gehsteig aus Holzbohlen hinauf marschierten. Sie trugen die typische Kleidung von Cowboys, wie er es von Zuhause aus den Illustrierten kannte und ihre Sporen klirrten bei jedem ihrer Schritte. Friedrich wusste nicht weshalb, aber mit einem Mal fühlte er sich diesem Land zugetan. Alles war neu und völlig anders als in der Heimat, aber es gefiel ihm. Seine Ohren vernahmen wieder das melodische Geläut der Kirchenglocke und er folgte ihm, die Straße nach rechts hinab, wo sie leicht anstieg und schließlich abrupt hinter einem Haus endete. Linkerhand, durch eine separate Auffahrt abgetrennt, stand eine weiße Kirche mit einem kleinen Türmchen. Friedrich lächelte. Wie hatte er das vermisst! Er wollte schon den unebenen und durch die Nässe der letzten Tage durchweichten Weg hinauf einschlagen, als eine Stimme ihn zurückhielt. Eine Stimme, die Deutsch sprach!
„Hochwürden! Warten Sie einen Moment!“
Erstaunt drehte Friedrich sich um. Ein kleiner, dünner Mann mit Brille und spärlichem Haarkranz trat freundlich lächelnd auf ihn zu.
„Entschuldigen Sie, wenn ich Sie aufhalte!“ Sein Deutsch wies einen auffallenden Akzent auf und der Mann merkte es selbst. „Ich habe vom Sheriff gehört, dass unter den neu eingetroffenen Siedlern ein Pastor aus Deutschland ist. Und als ich Sie die Straße hinabgehen sah, wusste ich, dass nur Sie das sein können. Hochwürden, lassen Sie mich...“
„Kleinfeld“, unterbrach Friedrich ihn. „Pastor Friedrich Kleinfeld.“
„Entschuldigen Sie!“ Der fremde Herr lächelte. „Ich bin Joshua Hammerstein, der zweite Bürgermeister dieser...hmm, also...für gewöhnlich nenne ich sie meine persönlich allerliebste Stadt.“
„Freut mich sehr“, versicherte Friedrich, auch wenn er nicht recht erraten konnte, was der Mann von ihm wollen könnte.
„Sie ahnen gar nicht, wie sehr mich das erst freut!“, lächelte Joshua Hammerstein, dessen Name verriet, welcher Abstammung er war. „Würden Sie sich von mir zu einer Tasse Kaffee einladen lassen?“
Ein wenig verwundert schüttelte Friedrich den Kopf. „Sehr gerne, aber im Augenblick bin ich ehrlich gesagt ein wenig in Eile und...“
„Bitte, nur für fünf Minuten!“ bohrte der Bürgermeister und lächelte. „Bitte!“
Friedrich seufzte innerlich. Eigentlich war er darauf erpicht, zu seiner Familie zurückzukehren, denn er wusste, dass sie ihn erwarteten.
„Na, schön“, gab er dennoch nach, denn alles andere hätte nicht seinem Pflichtbewusstsein entsprochen. Es war seine Aufgabe, für seine Mitmenschen an erster Stelle da zu sein und erst dann sich um sich selbst zu kümmern. So folgte er der einladenden Handbewegung Joshua Hammersteins und ging mit ihm den Anstieg wieder hinab und die Straße entlang, bis zu einem kleinen Kaffeehaus.
„Nun halt doch still!“befahl Julie ungeduldig, während sie Nikolaus das dunkelbraune Haar bürstete.
„Aber das tut weh!“, rief ihr kleiner Bruder und verzog vorwurfsvoll das Gesicht, bevor er erneut versuchte, ihre Hand wegzustoßen.
„Gib mir eine Minute und dann kannst du wieder davonrennen“, vertröstete Julie ihn und tauchte die Bürste in die Schüssel kaltes Wasser, die sie extra vom Bach geholt hatte. Damit ließen sich die wilden Strähnen, die in alle Himmelsrichtungen abstanden, ein wenig besser bändigen.
„Ich möchte wirklich wissen, wo die alle stecken!“, sagte sie nun, mehr zu sich selbst und ließ von Nikolaus ab, der erleichtert vom Wagen sprang.
„Ich gehe sie suchen!“, rief der Junge mit der glockenhellen Stimme und wollte davonrennen, doch seine Schwester war schneller, sie erwischte ihn am Arm.
„Nichts da!“, entschied Julie und deutete auf die Wasserschüssel. „Du wirst Mutter jetzt um einen anderen Lappen bitten und mir helfen, hier sauberzumachen.“
Nikolaus verzog das Gesicht. „Oh, nein! Das ist Mädchenarbeit! Und Hubert wollte nur schnell Holz suchen gehen! Er hat gesagt, er kommt bald wieder und...“
„Ruhe!“, unterbrach Julie ihn energisch und raffte ihre Röcke. Nun sprang sie ebenfalls hinten vom Wagen herab. „Du hilfst mir!“
Ihre Mutter, die noch immer damit kämpfte, das Feuer am Brennen zu halten, runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. „Bitte, Juliane, zügle deine Ausdrucksweise und deine Lautstärke! Es ist nicht sehr vorteilhaft für ein junges Mädchen in der Weltgeschichte herumzuschreien wie ein Fischhändler!“
Ihre Tochter seufzte verzweifelt, ehe sie sich umdrehte. Immer diese Standpauken! Sie konnte doch auch nichts dafür, dass sie nicht dem Bild eines braven, zurückhaltenden Mädchens entsprach. Es lag ihr nunmal nicht, ihren Mund zu halten, wenn sie das dringende Verlangen spürte, ihre Mitmenschen wissen zu lassen, dass sie von vielen Dingen mehr Ahnung hatte als viele ihrer männlichen Genossen. Das ziemte sich nicht und obwohl sie es innerlich sich immer und immer wieder vorsagte, konnte sie in entscheidenen Augenblicken doch nicht ruhig sein. Dann brodelte etwas in ihr und es gab keine Vernunft mehr, die ihr den Mund verbieten konnte.
Als Friedrich fast zwei Stunden später den Weg über die Holzbrücke zurückging, waren zwar weder der Tau verschwunden, noch die Temperatur gestiegen, aber es schien heller geworden zu sein. Heller, was das Tageslicht anbetraf und heller, ihre nahe Zukunft betreffend. Er summte einen Choral vor sich hin, grüßte wieder alle Siedler, die ihm begegneten und merkte kaum, dass ihm der Magen knurrte. Er hatte seit dem vergangenen Mittagessen nichts mehr zu sich genommen und als er jetzt ihren Wagen erreichte, erblickte er ein kleines Feuer daneben, über dem ein Topf stand. Luise lief umher, gab ihren Kindern Anweisungen, während sie alle paar Minuten mit einem Löffel in dem Topf rührte. Friedrich stieß einen zufriedenen Seufzer aus.
„Luise, meine Perle! Wie das duftet!“ Seine Frau trug eine Schürze um ihre üppige Taille gebunden und lachte. „Du warst aber sehr lange fort! Zwischenzeitlich hatte ich Hubert hinabgeschickt zu diesem Geschäft, das sie ‚General Store’ nennen, um wenigstens die wichtigsten Dinge zu kaufen, ein paar Bohnen und Milch und Konserven!“
Julie und Nikolaus waren noch immer damit beschäftigt, den Boden des Wagens zu schrubben auf dem sie schliefen, während Hubert einen lauten Krach damit veranstaltete, das Brett wieder festzunageln.
„Keine Sorge!“, sagte Friedrich und zog einen Schemel heran, um sich darauf zu setzen. „Bald werden wir von hier fort sein, solange wir in dieser Stadt festsitzen. Der Herrgott ist sehr gütig mit uns, er hat mir heute einen sehr netten Herrn über den Weg geschickt und dafür gesorgt, dass wir in ein anständiges Haus einziehen können.“
Seine Familie unterbrach, wie auf Kommando, sämtliche Tätigkeiten, um ihn fragend und verständnislos anzustarren.
„Was für einen Herrn?“, hakte Luise nach, unschlüssig, was sie davon halten sollte. Nur ihr Arm rührte weiterhin in der gestreckten Gulaschsuppe. „Wovon sprichst du?“
Friedrich lächelte sie triumphierend an, während seine linke Hand nach dem großen, silbernen Kreuz griff, dass er immer um seinen Hals trug. „Mir wurde heute die Stelle des Pfarrers angeboten, solange wir hier sind! Der neue kommt erst irgendwann in den nächsten Wochen und der bisherige hatte einen tödlichen Unfall mit seiner Kutsche.“
„Ach, du liebe Güte!“, entfuhr es Luise entsetzt und sie fasste sich an die Brust. „Und jetzt sollst du...“
„Ganz richtig!“, bestätigte Friedrich und nickte. „Jetzt bin ich vorübergehend der Pfarrer in dieser Stadt und nicht nur das! Wir dürfen solange im Pfarrhaus neben der Kirche wohnen! Es steht nämlich derzeit leer und ich habe sogar für Hubert Arbeit gefunden!“
„Für mich?!“, echote sein Sohn stockend und schluckte. Irgendwie ahnte er, dass er die Entscheidung seines Vaters bereuen würde. Zuhause, in Deutschland, hatte er in einem Büro der Stadtverwaltung in Bremerhaven gearbeitet. Er hatte mit körperlicher Arbeit keine Erfahrung, er fürchtete jedoch, dass es genau das war, was seinem Vater vorschwebte.
„Ich habe auch einen Job!“, jubelte Nikolaus, ehe er vom Wagen herabhüpfte, glücklich darüber, dem strengen Regiment seiner Schwester zu entkommen.
„Du?! Aber...“ Luises Blick wanderte zu ihrem jüngsten Sohn, der sie zufrieden und stolz anlächelte, den tropfenden Lappen noch in der Hand. „Nikolaus ist doch noch viel zu klein und auch viel zu zart, um zu arbeiten! Es wäre völlig unverantwortlich...“
Hubert räusperte sich. „Tut mir leid, Mutter“, mischte er sich ein, den Hammer zwischen seinen Händen drehend. „Aber das war die Bedingung, damit uns gestattet wurde, die Maultiere in der Scheune unterzubringen.“
„Ich bin nicht klein!“, rief der Junge protestierend. Er hasste es, immer von seiner Mutter beschützt und zurückgestellt zu werden, als wäre er aus Porzellan und zu nichts zu gebrauchen. „Ich kann genauso hart arbeiten wie Hubert! Weißt du denn nicht, dass ich ein Meister bin im Ausmisten von Ställen und Füttern der Tiere?“
„Es ist nur morgens und abends“, warf sein großer Bruder hastig ein, als er die Sorgenfalten auf der Stirn ihrer Mutter entdeckte. „Sie brauchen dringend ein paar helfende Hände! So viele Pferde und Mulis und Ochsen, die jeden Tag kommen und gehen. Außerdem können wir so gleich ein bisschen Geld für unser neues Zuhause sparen.“
„Ich muss zugeben, damit hat der Junge nicht unrecht!“ Friedrich sprach als erster nach einer langen Minute Stille. „Jeder von uns muss seinen Teil dazu leisten. Du solltest lieber dankbar dafür sein, dass wir unsere Mulis somit in besten Händen wissen, solange wir sie nicht benötigen.“
Luise starrte hinab in ihren Kochtopf. Sie wusste aus Erfahrung, dass es sinnlos wäre, mit ihrem Mann einen Streit vom Zaun zu brechen, wenn er einmal eine Entscheidung getroffen hatte.
„Und was ist nun mit mir?“, wollte Hubert wissen. Das waren Neuigkeiten, mit denen er nie im Leben gerechnet hatte! Kaum, dass sein Vater kurz in die Stadt verschwand, kam er mit Möglichkeiten zurück, die ihr Leben einmal um hundertachtzig Grad drehten. Woher das wohl kommt, fragte er sich und betrachtete das silberne Kreuz um den Hals seines Vaters, das sich deutlich von seiner schwarzen Kutte abhob. Ob es an seinem festen Glauben und an Gott liegt?
„Du kannst bei der Eisenbahn arbeiten“, eröffnete Friedrich seinem ältesten Sohn. „Dort brauchen sie immer junge, kräftige Burschen, die zupacken können.“
„Bei...der...Eisenbahn“, wiederholte Hubert gedehnt. Die Vorstellung, von früh bis abends Kohlen zu schippen, konnte bei ihm nicht wirklich Begeisterungsstürme auslösen, doch er fügte sich. Was blieb ihm auch anderes übrig? „Gut. Wann soll ich anfangen?“
„Morgen früh wirst du dich im Bahnhofsgebäude melden“, erläuterte sein Vater geduldig und nickte zufrieden. Alles schien gut zu werden und sich positiv für sie zu entwickeln und das sogar schneller und einfacher, als er es sich je erträumt hätte.
„Morgen schon?“ Hubert unterdrückte einen Seufzer.
„Und was hast du dich für mich überlegt?“ Juliane stand beim Planwagen und starrte ihren Vater mit einem eigensinnigen Ausdruck im Gesicht an.
Friedrich hob die Augenbrauen. „Wir werden sehen“, antwortete er ausweichend. „Erst einmal wirst du deiner Mutter mit den Arbeiten hier im Lager helfen. Insbesondere beim Kochen gibt es genügend Aufgaben, von denen dir noch immer jedes Wissen fehlt und das ist eine wahre Schande für mich, für deine Mutter und insbesondere für dich selbst. In deinem Alter sollte ein Mädchen zumindest über die Grundkenntnisse verfügen und wie sie ihren Ehemann zu versorgen hat.“
Das Mädchen ächzte, schwieg jedoch, da sie nicht wild darauf war, eine entsprechende Bestrafung für freche Bemerkungen zu erfahren. Zuhause bleiben mit ihrer Mutter! Es gab ganz sicher einer Schule in dieser Stadt, die sie St. Louis nannten, vielleicht sogar eine für Mädchen und ihr war nicht gestattet, dort am Unterricht teilzunehmen! Sie fühlte den Blick ihrer Mutter auf sich ruhen, zog es jedoch vor, zornig auf ihre Fußspitzen zu starren. Sie war nicht gewillt, so einfach nachzugeben! Sie war ebenso ein individueller Mensch wie ihr Vater und ihre Brüder und sie wusste ganz genau, was sie wollte und was nicht!
Luise beobachtete den Gesichtsausdruck ihrer Tochter und erkannte augenblicklich, dass das letzte Wort noch nicht gesprochen war bezüglich dieses Themas. Es würde noch mehr Zank geben zwischen ihrer einzigen Tochter und Friedrich, sie fühlte es in ihren Knochen. Dieses Land, dachte sie, mit all seinen Sorgen und dem harten Leben, wird dazu führen, dass ich wieder genauso dünn werde, wie vor den Kindern.