Читать книгу Wind über der Prärie - Regan Holdridge - Страница 6
St. Louis
ОглавлениеDer Regen hatte nachgelassen als Julie den Weg vom General Store die Straße hinab antrat, in Richtung der protestantischen Kirche der ihr riesig erscheinenden Stadt. Sie war froh, dass sie in diesem Pfarrhaus leben konnten, auch wenn es sehr klein und beengend dort war. Immerhin konnten sie einen Ofen beheizen und ihre nasse Kleidung darüber trocknen und der kalte Wind konnte ihnen nichts anhaben. Sie empfand großes Mitleid für all die Familien, die während dieser Regenperiode, bis der Treck weiterziehen konnte, in ihren Wagen und Zelten verbringen mussten, weil sie es sich nicht leisten konnten, sich in einer Pension einzumieten.
Julie marschierte den Weg alleine, ohne Nikolaus. Obwohl sie gemeinsam losgeschickt worden waren von ihrer Mutter, um Einkäufe zu erledigen, hatte ihr kleiner Bruder auf halber Strecke andere Ideen verfolgt. Längst hatte er Freunde gefunden, mit denen er herumtobte und seine wenige Freizeit beim Spielen genoss und ein ganzer Haufen davon war ihnen auf dem Weg zum General Store vor die Füße gelaufen. Julie verschränkte die Arme vor der Brust. Ihr fröstelte. Gerade einmal fünf Tage hielten sie sich jetzt in St. Louis auf oder besser gesagt, ein Stück daneben, denn die Kirche stand auf einem Hügel, auf einer Wiese hinter den ersten Häusern. Ihr kam es jedoch viel länger vor. Nur wenige Menschen kamen ihr bei diesem Wetter entgegen, doch als sie um das Eck des nächsten Hauses auf die Hauptstraße bog, stieß sie fast mit einem kleinen Mann mit strohblonden Haaren zusammen.
„Ah, geh!“, rief dieser erfreut. „Ist das aber eine Überraschung!“
„Hardy!“ Sie lächelte. „Dass ich Sie hier treffe! Ich dachte ja eigentlich, Sie würden uns mal besuchen kommen!“
„Tja, das hatte ich auch wirklich vor“, versicherte der österreichische Arzt und hob bedauernd die Schultern. „Ich habe schon von eurem Glück erfahren, dass Ihr Vater vorübergehend als Pastor angestellt wurde. Ich wäre schon längst mal vorbeigekommen, aber ich habe so viel zu tun, dass ich gar nicht weiß, wo mir der Kopf steht!“
„Gibt es denn so viele kranke Menschen hier?“, fragte Julie und konnte den Schreck darüber nicht ganz verbergen.
Doktor Retzner lächelte. „Das Problem ist, dass es in der ganzen Gegend nur einen einzigen Arzt gibt und der ist hier in St. Louis. Im Umkreis von dreißig Meilen gibt es keinen anderen!“
„Oh!“, machte Julie ungläubig. Sie konnte kein Verständnis für diese Tatsache aufbringen, da sie gar nicht wusste, was ein Umkreis von dreißig Meilen an Fläche und Bevölkerung bedeutete.
„Ja, leider, so sieht es aus!“ Der Österreicher runzelte die Stirn. „Es gab wohl noch einen anderen Arzt, aber er starb an...wie nennen sie es hier doch gleich? Schwindsucht, glaube ich.“
„Was soll das sein?“
„Was ich herausgefunden habe, ist das der gebräuchliche Ausdruck für pulmonale Tuberkulose.“
„Oh!“, sagte Julie noch einmal mit großen Augen. Sie begriff auch das nicht, weil ihr die lateinischen Wörter fremd waren und gleichzeitig ärgerte sie diese Tatsache. Am liebsten hätte sie mit dem Fuß wütend auf den Boden gestampft, weil sie sich vorkam, wie eine dumme, törichte Gans. Natürlich, ja, sie war nur ein Mädchen und Mädchen brauchten keinen Verstand, sie mussten nur kochen können. Jetzt konnte sie den Drang nicht länger unterdrücken – ihr Fuß erzeugte auf den Holzbohlen des Gehsteigs vor den Häusern ein dumpfes Poltern.
„Und Doktor Stankovski ist auch nicht mehr der Jüngste“, fuhr der Österreicher unbeirrt fort. Er schien ihren inneren Aufruhr nicht zu bemerken. „Er leidet an Rheuma und meistens muss ich zu den Patienten auf die Farmen hinaus und zu den außerhalb gelegenen Siedlungen alleine reiten. Ach ja...“
„Wo wohnen Sie denn?“, wollte Julie wissen. „Ich habe seit dem Abend, als wir hier angekommen sind, nichts mehr von Ihnen gehört.“
„Ich weiß und es tut mir auch wirklich ungeheuer leid.“ Er fasste sie rechts und links an den Oberarmen und lächelte liebevoll. „Ich wohne bei Doktor Stankovski und seiner Frau im Haus, aber der Gute lebt schon in der zweiten Generation hier und ich verstehe so gut wie kein Wort von dem, was er sagt! Er könnte genauso gut russisch mit mir sprechen! Wir verständigen uns immer bloß durch Handzeichen und das ist nicht gerade besonders sinnvoll.“ Bedauernd hob er die Schultern. „Mein Englisch ist nicht unbedingt besser geworden. Ich hatte noch nie Talent für Sprachen.“
„Vielleicht...vielleicht kann ich es Ihnen beibringen“, schlug Julie eifrig vor. „Das ist nicht so schwer! Zu Anfang hab’ ich mir auch nicht leicht getan, aber man gewöhnt sich ganz schnell daran! Englisch ist viel einfacher als Deutsch!“
„Julie-Mädchen, wann soll ich mich um Grammatik und Vokabeln kümmern?“ Er ließ sie los und warf einen Blick auf seine Taschenuhr. „Ich bin eigentlich schon wieder spät dran.“
„Hardy, kann ich Ihnen nicht irgendwie helfen, solange wir hier sind?“ Julie schaute ihn flehend an. Zum einen fühlte sie sich verpflichtet, ihm ihre Unterstützung anzubieten, denn er war immerhin mit ihrem Vater geschäftlich verbunden. Schließlich gehörte ihm eins ihrer Maultiere und die Hälfte des Planwagens. Zum anderen mochte sie den österreichischen Arzt und ihr entging nicht, wie müde und erschöpft er aussah.
Seine grünen Augen starrten sie regungslos an, als hätte ihn soeben in dieser Sekunde eine Idee durchzuckt. „Ja“, sagte er dann leise. „Ja, Julie-Mädchen, es gibt sogar jede Menge für Sie zu tun!“
„Ja?“ Ihr Herz machte einen Satz. Seit ihrer Ankunft tat sie nichts anderes, als in dem kleinen Pfarrhaus zu sitzen und ihrer Mutter zur Hand zu gehen. Es ging ihr mächtig auf die Nerven, denn sie musste sich ständig von ihr vorwerfen lassen, nicht zur Hausfrau zu taugen! Und sie hasste diese eintönige Hausarbeit! Sie wollte sich genauso nützlichen machen, wie Hubert und Nikolaus! „Kann ich das wirklich?“
„Allerdings!“ Aufgeregt fasste Doktor Retzner sie am Handgelenk und zog sie in einen Hauseingang, damit sie nicht noch mehr durchnässten, weil der Regen erneut begonnen hatte, wie aus Eimern auf sie herabzuprasseln. „Passen Sie auf!“ Beschwörend hob er die Hand. „Sie sprechen inzwischen beinahe genauso gut Englisch wie jeder Amerikaner und Sie sind jung und geschickt! Ich könnte Sie mit zu den Hausbesuchen nehmen, damit Sie mir übersetzen! Und nach einer Weile könnte ich Sie auch alleine zu Patienten schicken, wo es nur einfache Verbände zu wechseln gibt oder ähnliches! Dann wären ich und Doktor Stankovski entlastet und könnten uns für die komplizierteren Patienten mehr Zeit nehmen! Würde Ihnen das gefallen?“
„Oh, natürlich!“, hauchte Julie freudestrahlend. Er traute ihr zu, solch wichtige Aufgaben zu übernehmen, Patienten zu verarzten und ihnen zu helfen und... Ein Schleier legte sich auf ihre jungen, weichen Gesichtszüge. „Mein Vater wird das nie erlauben!“
„Ah, geh!“ Eine abweisende Handbewegung war die Antwort, die keine Widerrede duldete. „Das lassen Sie mal meine Sorge sein! Ich komme heute Abend bei Euch vorbei und schildere ihm die Situation. Er kann überhaupt nicht ablehnen! Außerdem ist es bestimmt sinnvoll, wenn Sie sich ein bisschen mit Medizin auskennen, bevor wir weiter auf den großen Treck gehen!“
„Sie kennen meinen Vater nicht!“ Unsicher wich Julie seinem Blick aus. „Außerdem kann er ausgesprochen ungehalten werden! Er hält nichts davon, wenn Frauen einer Arbeit nachgehen.“
„Papperlapapp!“, rief Doktor Retzner entschlossen. „Ach ja, können Sie eigentlich reiten, Julie?“
„Reiten? Sie meinen, auf einem Pferd?“ Sie schüttelte den Kopf. „Nein, warum?“
Er lächelte über ihre unschuldige, ahnungslose Art, mit der sie ihn betrachtete. „Na, weil Sie sonst doch nicht hinaus kommen, zu den Patienten, die auf dem Farmen rundherum leben! Oder lassen Sie sich Flügel wachsen?“
„Ach...so“, machte Julie und ihre Freude trübte sich immer mehr.
„Ah, was soll’s“, entschied Doktor Retzner mit seinem österreichischen Akzent und lächelte zuversichtlich. „Das bringe ich Ihnen bei! Sie werden sehen, bald reiten Sie besser als jeder Mann!“
Julie kicherte, die Vorstellung gefiel ihr. „Das würde mein Vater Ihnen nie verzeihen!“
Doktor Retzner lächelte und fasste sie kurz mit Daumen und Zeigefinger am Kinn. „Er muss mit der Zeit und den Umständen gehen, Julie-Mädchen. Es wird ihm nichts anderes übrigbleiben als einzusehen, dass die europäischen Werte einer Frau hier, im Wilden Westen, nicht aufrechterhalten werden können. Ganz einfach.“
„Hoffentlich“, entgegnete sie seufzend und trat einen Schritt beiseite. „Ich muss nach Hause, meine Mutter wartet. Auf Wiedersehen.“
„Bis heute Abend!“, rief Doktor Retzner ihr nach und seine Augen verfolgten sie, während ihre langen Röcke und Unterröcke über die Holzbohlen des Gehsteiges glitten.
Hubert blickte der letzten Lok nach, die heute den Bahnhof verließ. Er hörte, wie sich die Türe des Büros hinter ihm schloss, wo er heute den ganzen Tag damit beschäftigt gewesen war, neue Regale für die Dokumente einzubauen. Seit er seine Arbeit bei der Eisenbahn begonnen hatte, war er dem Zimmerertrupp zugeteilt worden, was ihn ein wenig erleichterte. Das war zwar nicht unbedingt sein Fachgebiet, aber immerhin eine Aufgabe, der er sich mit etwas Menschenverstand und logischem Denken gewachsen sah.
Die Dunkelheit brach bereits über St. Louis herein. Er war hungrig und erschöpft und trotz des klammen, feuchten Wetters spürte er, wie seine Wangen glühten. Seine Finger schmerzten, er hatte sich mehrfach Nägel in die Haut gestochen und mit dem Hammer seine Glieder malträtiert. Er konnte wahrlich nicht behaupten, der geschickteste Handwerker zu sein, soviel er sich auch bemühte.
„Hier, Junge!“ Der Zahlmeister reichte ihm ein paar Dollarscheine. „Das ist für die Überstunden und die hervorragende Arbeit! Mach’ was Schönes damit!“
„Oh, danke!“ Hubert konnte es noch nicht recht glauben. Gut, er hatte in den zurückliegenden Tagen mehr als nur gerackert, aber dass er dafür einen extra Lohn erhalten würde... Er zählte die Dollarscheine, einmal, zweimal und überlegte. Das war sein eigenes Geld, mit dem er tun und lassen konnte, was er wollte, dass er nicht nach Hause bringen musste, zu seinem Vater, wie seinen regulären Lohn. Hubert überlegte eine ganze Weile. Musik drang an seine Ohren und er wusste, dass sie aus dem Saloon kam. Der Saloon. Er lächelte. Schon seit sie hier angekommen waren, wollte er dort hinein, wie die Cowboys und die anderen jungen Männer. Niemand würde ihn vorerst zu Hause vermissen, denn sein Dienst endete immer unterschiedlich und nie zu einer bestimmten Zeit, je nachdem, was an Arbeit anfiel. Sein Herz schlug schneller. Nun gut, sein Vater hatte ihm streng verboten, in den Saloon zu gehen, in diesen „Sündenpfuhl“, wie er ihn bezeichnete, doch Hubert konnte beim besten Willen keine Sünde daran entdecken, einfach hineinzuspazieren und ein Bier zu trinken. Das war nichts anderes, als wenn er in Deutschland eine Gastwirtschaft betreten hätte. Außerdem war er kein kleiner Junge mehr und allmählich konnte er wahrhaftig für sich selbst entscheiden, was er wollte.
Entschlossen marschierte Hubert die dunkle Hauptstraße hinab. Sein Hunger und die Erschöpfung waren vergessen. Viel zu aufgeregt und neugierig beschäftigte ihn jetzt das Unbekannte. Es hatte wieder wie aus Eimern zu gießen begonnen und er stieß die verschlossene Tür eilig auf. Verrauchte, stickige Luft schlug ihm entgegen. Der Saloon war voll mit Männern, die sich dicht um Tische und die Bar drängten. Eine Kapelle, die auf einem erhöhten Podest saß, spielte Melodien mit einem flotten Rhythmus, die er nicht kannte, doch sie gefielen ihm. Eine Sekunde stand Hubert unschlüssig da und beobachtete, was vor sich ging. Die meisten Männer saßen an Tischen, tranken und spielten mit Karten. Andere hatten junge, stark geschminkte Mädchen auf dem Schoß. Sie lachten und gröhlten und übertönten dabei die Musik. Hubert gab sich einen Ruck und trat an die brusthohe Theke. Der Rest, der keinen Platz fand, stand in Gruppen daneben, sie lachten und unterhielten sich in breitem, genuschelten Englisch, das er bisweilen immer noch schwer nur verstand.
„Ein Bier“, sagte er und fand, dass er sich bereits sehr amerikanisch anhörte.
Wortlos schob der Barkeeper ihm ein großes Glas entgegen und Hubert reichte ihm im Gegenzug einen seiner Scheine, woraufhin er ein paar Münzen zurückerhielt.
„Hallo!“, sagte eine tiefe, rauchige Frauenstimme neben ihm unerwartet und berührte ihn sanft am Arm. Hubert fuhr herum. Er schluckte. Neben ihm stand eine kleine, üppige Blondine, mindestens zehn Jahre älter als er und lächelte zu ihm hinauf. „Dich kenn’ ich ja noch gar nicht! Neu hier?“
„Ja...nur vorübergehend“, brachte Hubert überrumpelt hervor. Seine Augen glitten hastig ihren Körper hinab, der in einem engen Corsagenkleid steckte, das jedoch ihre Knie gerade noch bedeckte. Darunter trug sie Netzstrümpfe und Schnürstiefeletten mit hohem Absatz. Noch nie zuvor hatte er eine Frau gesehen, die sich in der Öffentlichkeit derart freizügig kleidete und er spürte, wie sein Puls schneller zu schlagen begann. Ihr Anblick löste unbekannte Gefühlswallungen in ihm aus, irgendetwas in ihm verlangte geradezu unwiderstehlich danach, sie zu berühren und sein Verstand sagte ihm gleichzeitig, dass er sich derartige Frechheiten nicht erlauben durfte. Sie arbeitete vermutlich hier und obwohl sie es sicherlich gewohnt war, von Männern betatscht zu werden, wollte er nicht riskieren, gleich bei seinem ersten Besuch in einem Saloon unangenehm aufzufallen. „Ich...ich gehöre zu einem der Siedlertrecks vor der Stadt.“
„Ah!“, machte die Blondine und ihr Lächeln wurde breiter. „Ich hab’ schon gehört, dass wieder ein paar angekommen sind. Ist ja nichts Neues, passiert ständig. Die einen kommen, die anderen gehen... Trotzdem immer schön, wenn fremde Gesichter sich hier rein verirren – vor allem, wenn sie so sympathisch sind, wie das deine!“
Geschmeichelt wiegte Hubert den Kopf. „Na ja, ich gebe mir Mühe, nicht zu abschreckend zu wirken.“
„Das tust du nicht“, versicherte die Lady, während sie ihn eingehend betrachtete, was Hubert nicht entging. „Ich heiße übrigens Suzie.“
„Freut mich. Mein Name ist Hubert Kleinfeld.“
„Deutscher, was?“, erkannte sie sofort. Sie streckte den Arm aus und berührte seinen Oberarm, wo sie unter seinem Hemd starke Muskeln fand. Das schien ihr zu gefallen. „Hmm, nicht übel!“
Er gab sich gleichgültig. „Das kommt vom vielen Bretter durch die Gegend wuchten. Die Eisenbahn scheint nur damit beschäftigt zu sein, irgendwo irgendetwas anbauen zu müssen.“
„Sag mal, Hugh...“ Sie sprach seinen Namen ganz automatisch und ohne nachzudenken in seiner englischen Form aus, doch es gefiel ihm. Überhaupt, nicht nur, wie sie seinen Namen sprach, auch sie selbst wirkte ungeheuer anziehend auf ihn, je länger er sich mit ihr unterhielt. „Es macht dir doch nichts, dass ich Hugh sage, oder? Das ist viel einfacher für mich, ich kann nämlich nur Englisch und Ungarisch.“
„Nein“, erwiderte er und lächelte zu ihr hinab. „Im Gegenteil! Es gefällt mir!“
„Schön!“ Sie beugte sich zu ihm hinüber und gewährte ihm einen tiefen Einblick in ihr üppiges Dekolleté. „Hast du nicht Lust, ein bisschen mit mir nach oben zu kommen?“
Hubert schluckte. Sein Herzschlag setzte einen Moment aus. Er begriff. Mit einem Mal erkannte er, was sie war und dass es keine Rolle spielte, wenn er sie anfasste. Sein Vater hatte es ihm erklärt, ihn in seiner sachlichen, nüchternen Art eines Morgens darüber unterrichtet, wie Kinder zustandekamen und dass dieses „Geschehen“ außerhalb der Ehegemeinschaft absolut verboten und sündhaft sei. Vermutlich hätte Friedrich nie ein Wort darüber gegenüber seinem Sohn verloren, wenn...ja, wenn er nicht an einem Morgen aufgewacht wäre und festgestellt hätte, dass etwas anders war, ganz anders, dass sein Körper etwas mit ihm gemacht hatte, das er nicht begriff und von dem er nicht wusste, warum es geschah. Friedrich hatte ihn darüber aufgeklärt, dass er nun „ein richtiger Mann“ sei, der die Pflicht hätte, „sich zusammenzureißen und der Fleischeslust niemals die Überhand gewinnen zu lassen“. Lange hatte Hubert darüber nachgedacht, was sein Vater damit wohl meinte, mit dem Wort Fleischeslust. Dann hatte er ihn gefragt und Friedrich hatte ihm streng und sehr entschieden erklärt, dass jegliche Tätigkeit dieser Art außerhalb einer ehelichen Beziehung nicht vor Gott und der Kirche vertretbar sei, ja, dass es sich geradezu um eine Sünde handele, die bestraft werden müsste. Allerdings hatte Hubert diese Erläuterung auch nicht viel geholfen. Erst dank einem seiner Kumpel in Deutschland, der da wesentlich erfahrener schon war, hatte er alles darüber erfahren, was sich zwischen Mann und Frau so abspielte und dass es Damen gab, die damit ihren Lebensunterhalt verdienten.
Hubert atmete tief durch. Er war jetzt achtzehn und durchaus fähig, eigene Entscheidungen zu treffen. Sein Vater würde ihn vermutlich erschlagen, wenn er wüsste, was er hier trieb, dass er im Saloon stand, ein Bier trank und sich mit einer Frau namens Suzie unterhielt, die für Geld ihren Körper an Männer verkaufte, die sich nach weiblicher Begleitung sehnten.
Hubert fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. Der Reiz, die Vorstellung und vor allen Dingen das brennende Verlangen, endlich zu wissen, wie es sich anfühlte, sich dieser Lust hinzugeben, die er bislang nur aus seiner Fantasie kannte, drängten ihn dazu, sein Geld in ihren Ausschnitt zu stecken, doch da war auch seine strenge, christliche Erziehung, die ihn anschrie, ihn zurückhalten wollte. Er kämpfte mit sich. Noch nie hatte ein Mädchen ihm gegenüber Interesse gezeigt und er war auch noch nie wirklich in Versuchung geraten, sich einer von ihnen unsittlich zu nähern, aber jetzt, da diese Suzie vor ihm stand und er wusste, dass er sie haben konnte, für ein bisschen Geld, ohne weitere Verpflichtungen...
„Ja“, hörte er sich leise sagen. „Ich komme gern mit...sehr gern!“
Der Duft von frischer Gulaschsuppe lag in der Luft. Der kleine Herd verbreitete eine erstaunliche Wärme und das Feuer darin knisterte laut und heimelig. Friedrich saß aufrecht am Tisch, die Bibel vor sich aufgeschlagen und las leise darin. Die Predigt für den kommenden Sonntag musste vorbereitet werden.
„Deck den Tisch, Juliane“, sagte Luise in ihrem eigenen, strengen Tonfall und ihre Tochter, die eben noch über ihren Englischunterlagen gesessen hatte, sprang hastig auf. Sie räumte das Vokabelbuch beiseite, auf die Kommode im Eck und holte die Zinnteller und das Besteck aus dem Schrank. Sie hatte es sich zur Aufgabe gemacht, in jeder freien Minute an ihren Sprachkenntnissen zu arbeiten.
„Die Tassen auch!“ Kopfschüttelnd betrachtete ihre Mutter ihr tun. „Kannst du noch nicht einmal einen Tisch decken?“
„Doch!“, versicherte Julie hastig. „Natürlich!“
Es lag nur daran, weil sie mit ihren Gedanken nicht bei der Sache war. Bei jedem kleinen Geräusch zuckte sie zusammen, weil sie glaubte, Hardy Retzner würde vor der Tür stehen. Es war keine gute Idee, dass er hierher kam. Je länger sie darüber grübeln konnte, desto überzeugter war sie davon. Ihre Eltern würden ihr nie erlauben, ihm zu assistieren und am Ende zerstritten sie sich womöglich noch alle und dabei wollten sie doch gemeinsam weiterziehen, sobald sich ein größerer Treck nach Westen aufmachte! Nur die schlechten Wetterprognosen und die anhaltenden Regenfälle verhinderten derzeit, dass irgendjemand es wagte, die lange, beschwerliche Reise fortzusetzen.
Luise seufzte. „Nikolaus müsste jeden Moment kommen und bei Hubert weiß man ja nie! Wir werden nicht auf ihn warten, sondern ihm das Essen auf den Herd stellen, dann kann er sich selbst nehmen, wenn er nach Hause kommt.“
„Die beiden Jungen sind unglaublich fleißig“, bemerkte Friedrich voller Stolz und schlug die Bibel zu. „Mit Huberts Lohn und dem, was ich bekomme, können wir uns in Oregon einen schönen Neuanfang leisten!“
„Trotzdem finde ich es nicht richtig, dass Nikolaus immer bis spät in die Nacht die Pferdeställe ausmisten muss“, warf Luise besorgt ein und trug den Topf hinüber an den Tisch. Sie setzte sich an ihren Platz, neben ihren Mann, als die Tür aufgerissen wurde.
„Ich bin da! Hat etwas länger gedauert!“, schrie Nikolaus. Ein Schlag ließ das Haus erzittern, als er die Tür hinter sich ins Schloss knallte.
„Mein Sohn!“ Friedrich warf ihm einen bösen Blick zu. „Was soll dieser unnötige Krach?“
„Entschuldige“, murmelte der Junge schuldbewusst und rutschte lautlos auf seinen Stuhl neben seiner Schwester, um die Hände zu falten und das gemeinsame Tischgebet zu sprechen.
Nach dem Essen begann Luise, das Geschirr zu spülen, wobei ihre Tochter ihr half, obwohl sie lieber ihre Englischkenntnisse erweitert hätte. Nikolaus verabschiedete sich ins Bett, er war sehr müde von der schweren, körperlichen Arbeit und Friedrich holte wieder seine Bibel hervor. Julie atmete auf. Es war schon so spät, da würde Doktor Retzner bestimmt nicht mehr kommen!
„Oh, es regnet schon wieder“, sagte Luise, als sie die Schüssel mit schmutzigen Wasser nach draußen, vor die Tür kippte. Das Pfarrhaus stand abgeschieden und geschützt unter Bäumen, doch die Lichter von St. Louis waren in der Dunkelheit wie unwirkliche Punkte zu erkennen.
„Und gleich wie aus Kübeln! Wenn das so weitergeht, haben wir bald Hochwasser!“ Luise blieb in der Tür stehen und schaute weiter hinaus in die Dunkelheit. Es zog kalt herein.
Julie lächelte kurz. Sehr gut, das kam ihr gerade recht. Doch der nächste Satz ihrer Mutter ließ sie zusammenzucken: „Ja, Hardy, sowas! Ja, kommen Sie doch herein! Welche eine Überraschung! Wir dachten schon, wir sehen Sie vor der Abreise gar nicht wieder!“
„Ah, geh!“, erwiderte der Österreicher und schüttelte sich die Regentropfen von der Jacke und dem Hut, ehe er eintrat. „Wer weiß, wie lange wir noch hier warten müssen, bis es endlich weiter Richtung Westen geht!“
„Kommen Sie, kommen Sie!“, bat nun auch Friedrich. Er schob die Heilige Schrift beiseite. Sein tiefer Bariton verriet, wie ehrlich er sich über den unerwarteten Besuch freute. „Setzen Sie sich! Luise, schenk’ unserem Gast Tee ein!“
„Bitte keine Umstände!“ Lächelnd nahm Doktor Retzner am Tisch Platz. Sein Blick traf Julie, die ihn ängstlich betrachtete. Ihre Hände umkrampften das Vokabelbuch, als wollten sie es zerreißen, doch er zwinkerte zuversichtlich und ihre Hoffnung auf einen friedlichen Verlauf des Abends schwand. Er würde wahrhaftig davon anfangen! Wie konnte sie es nur verhindern? Während sie noch verzweifelt nach einem Ausweg suchte, war es bereits zu spät.
„Ganz grundlos bin ich ja nicht da“, begann der österreichische Arzt jetzt und bedankte sich bei Luise, die ihm einen Zinnbecher reichte.
„Nein?“, fragte Friedrich erwartungsvoll und blickte dabei seine Tochter an, die jedoch schnell den Blick auf die Tischplatte richtete. Er glaubte, zu begreifen und unterdrückte ein Schmunzeln.
„Nein“, erwiderte Doktor Retzner und schluckte. „Wissen Sie, ich habe Arbeit und das nicht zu knapp, aber gewisse Verständigungsprobleme mit der hier ansässigen Bevölkerung.“
Begriffsstutzig starrte Friedrich ihn an. „Wie bitte?“
„Leider, ja.“ Hardy fuhr sich durch das strohblonde Haar. „Es ist zwar eine Schande für einen Arzt, aber ich bin der englischen Sprache alles andere als mächtig.“
„Oh!“, machte Friedrich verständnisvoll. „Das gleiche Problem hatte ich auch, aber seitdem ich für die Kirche tätig bin, bleibt mir nichts anderes übrig, als die Bibel auf Englisch zu lesen und jeden Tag ein paar neue Wörter dazuzulernen!“
„Natürlich“, versicherte Doktor Retzner eilig. „Nur habe ich diese Zeit leider nicht, weil es mehr Patienten gibt als zwei Ärzte bewältigen können. Mein Kollege Stankovski ist nicht mehr der Jüngste und sein Rheuma, nun ja, das erleichtert es ihm auch nicht gerade!“
„Ich habe davon gehört“, warf Luise ein und schaute von ihrer Strickarbeit auf, in die sie mittlerweile vertieft war. Sie hatte sich ihren Stuhl nahe an den Ofen gezogen, denn ihr war kalt, wie so häufig. Auch hatte sie durch die Strapazen an Gewicht verloren, was ihr deutlich anzusehen war. Sie lächelte bescheiden. „Der Doktor sah auch sehr blass aus, als er mir vorgestellt wurde.“
Hardy Retzner räusperte sich. „Aus diesem Grund bin ich hier.“
Friedrich verstand nicht, doch er nickte freundlich. „Wie können wir Ihnen helfen, Hardy? Wir tun es gern, keine Frage, aber ich sehe keinen Weg, wie...“
„Oh doch!“, warf Doktor Retzner schnell ein. Sein Blick wanderte zu Julie, deren große, bernsteinfarbene Augen ihm flehend zu verstehen gaben, nicht weiterzusprechen, doch es war nicht mehr aufzuhalten.
„Ich brauche eine fähige Krankenschwester, die mir zur Hand gehen kann und die gleichermaßen gut Englisch und Deutsch spricht, um mir zu übersetzen! Und sie muss natürlich auch ein gewisses Geschick mitbringen und den Mut, sich dieser Aufgabe zu stellen!“
Friedrich verstand augenblicklich. Er betrachtete seine einzige Tochter lange, die ihren Blick stur und regungslos wieder auf die Tischplatte gerichtet hielt.
„Juliane?“, fragte ihre Mutter jetzt und ließ keinen Zweifel daran, wie sehr sie dieser Idee abgeneigt war. „Sie wirft ja sogar beim Tisch decken mit den Tellern um sich, das ungeschickte Ding! Wie soll Sie Ihnen da eine große Hilfe sein?“
„Meine Frau hat recht“, stimmte Friedrich ihr sofort zu. Er schüttelte den Kopf und seufzte. „Juliane ist wirklich nicht das Geschick in Person und von Medizin versteht sie überhaupt nichts! Ich glaube nicht, dass Sie mit ihr sehr glücklich bedient wären!“
„Oh, lieber Pastor Kleinfeld!“ Doktor Retzner hob die Hände. „Es tut mir leid, aber ich kann Ihre Meinung ganz und gar nicht teilen! Ihre Tochter ist ausgesprochen lernfähig und soweit ich sie bisher kennengelernt habe, besitzt sie durchaus die nötigen Voraussetzungen, die eine gute Krankenschwester mitbringen muss. Was natürlich für mich ganz entscheidend zu meiner Wahl beigetragen hat, ist, dass sie beide Sprachen mittlerweile beinahe fließend beherrscht!“
„Da ist allerdings was dran“, entgegnete Friedrich nach kurzem Zögern und ein wenig Stolz schwang in seiner Stimme mit. „Englisch spricht sie besser als wir alle zusammen!“
„Trotzdem bin ich dagegen“, warf Luise energisch ein. „Sie ist ein Mädchen, das noch nicht einmal einen Haushalt führen könnte, wenn sie erst einmal ins heiratsfähige Alter kommt!“
„Ich bin bereits im heiratsfähigen Alter!“, stieß Julie trotzig hervor. Wieder passierte das, was sie am meisten an sich selbst fürchtete – sie konnte ihr vorlautes Mundwerk nicht beherrschen. „Auch wenn ich nicht vorhabe, mich an einen Mann zu ketten!“
„Juliane!“ Friedrichs Faust krachte auf den Tisch. „Was sind denn das für Reden? Nie wieder will ich etwas Derartiges von dir hören, haben wir uns verstanden? Jede Frau hat irgendwann zu heiraten und dafür zu sorgen, dass viele, gesunde Kinder das Licht dieser Welt erblicken!“
„Ja, Vater“, murmelte das junge Mädchen demütig und biss sich auf die Lippen. Sie war wütend auf sich selbst, aber noch wütender auf die Tatsache, nur ein Mädchen zu sein, dem so viele Grenzen aufgezeigt wurden.
Eine lange Pause trat ein. Schließlich wagte Doktor Retzner es, sich als erster weiter zu dem angesprochenen Thema zu äußern: „Vielleicht täte es Ihrer Tochter einmal ganz gut, wenn sie eine verantwortungsvolle Aufgabe übertragen bekäme und eine Arbeit, bei der sie gefordert wird.“
„Hmm“, knurrte Friedrich missmutig und fixierte seine Tochter scharf. „Sie meinen, sie bräuchte einmal jemanden, der ihr zeigt, dass es für eine Frau besser ist, Zuhause zu bleiben?“
„So in etwa“, erwiderte Doktor Retzner eilig. Er warf Julie einen kurzen, mahnenden Blick zu. „Es wäre mir allerdings ganz recht, wenn Sie sich möglichst schnell entscheiden könnten, denn sonst werde ich mich auf die Suche nach einer anderen Dame machen, auch wenn ich weiß, dass keine so gut geeignet wäre, wie Ihre Tochter.“
„Und was ist mit der Hausarbeit?“, wollte Luise wissen, korrigierte sich jedoch sofort: „Nein, das ist jetzt allerdings unwichtig. Viel entscheidender ist, dass Juliane Ihnen eine Hilfe sein kann, wenn Sie so dringlich eine benötigen!“
„Der Ansicht bin ich allerdings auch!“ Friedrich seufzte tief. „Also, schön!“ Er nickte und reichte Doktor Retzner die Hand. „Ab morgen wird Juliane Ihnen in der Praxis helfen, bis wir uns einem Treck nach Westen anschließen können! Wann soll sie dort sein?“
Überrumpelt starrte der österreichische Arzt ihn für eine Sekunde an. Er hatte nicht mit einer solch schnellen Einigung gerechnet, doch offensichtlich schien der Pastor ihm nicht nur zu vertrauen, sondern ihm seine Tochter sogar sehr gerne in Obhut zu geben.
„Es freut mich sehr!“ Er erhob sich. „Vielen Dank! Und vielen Dank auch für den Tee.“ Dann wandte er sich dem jungen Mädchen zu. „Morgen früh um sieben in der Praxis, damit ich Ihnen schon einmal alles zeigen kann!“
„Natürlich!“, sagte Julie leise und nickte ihm lächelnd zu. Sie konnte es kaum glauben! Ab morgen durfte sie ihm zur Hand gehen und was das Beste war: Sie würde eine Menge neuer Menschen kennenlernen und dazu noch jeden Tag von früh bis spät unterwegs sein – ohne ihre Mutter, die ständig an ihr herumnörgelte und sie schimpfte und herumkommandierte – ohne all die lästige Hausarbeit, die sie sowieso verabscheute!
Kaum, dass Friedrich die Haustür hinter Doktor Retzner geschlossen hatte, legte Luise ihre Strickarbeit beiseite. Sie fixierte ihre Tochter mit strengem, unerbittlichem Blick.
„Ich hoffe“, stieß sie leise hervor, „du wirst uns keine Schande bereiten!“
„Nein, Mutter“, antwortete Julie, ohne sie anzusehen. „Natürlich nicht!“
„Ich möchte keine Beschwerden von Hardy hören, dass du dich daneben benimmst und ständig dein Mundwerk aufreißt!“, grummelte ihr Vater leise, während er sich wieder zu ihnen an den Tisch setzte. Es war ihm nicht recht, dass seine Tochter dem Arzt assistieren würde und er sie somit aus seiner führenden Obhut geben musste. Er hoffte im Stillen, aus ihr eines Tages doch noch eine anständige, wohlerzogene junge Dame machen zu können, die einen geeigneten Ehemann für sich finden konnte. Nur Hardy zuliebe hatte er eingewilligt, das war der einzige Grund. Er seufzte. Nein, es war ihm ganz und gar nicht recht.
Jeden Tag, außer Sonntag, ging Julie von nun an zu Doktor Retzner in die Praxis. Sie half ihm bei all seinen Tätigkeiten, lernte Krankheiten zu erkennen und Verbände anzulegen, fuhr mit ihm und der kleinen Kutsche hinaus zu den umliegenden Farmen und da der Boden so matschig war, kamen sie häufig nur langsam voran.
„Lassen wir es gut sein“, entschied der Österreicher an diesem Tag resigniert. Er sprach mit Julie immer Deutsch, wenn sie allein waren, obwohl sie ihn darum bat, es nicht zu tun, denn so würden seine Englischkenntnisse nie besser werden!
„Aber...wir müssen doch hinaus und nach Mrs. O’Sullivan sehen!“, rief Julie verzweifelt, während sie sich an der überdachten Kutsche festhielt, als die beide Pferde stapfend und keuchend umdrehten und die Räder aus dem schmierigen Morast zerrten. Der Wagen schaukelte gefährlich.
„Mit dem Wagen schaffen wir es nicht!“ Doktor Retzner war damit beschäftigt, die Pferde unter Kontrolle zu halten, die – als sie merkten, dass es zurück in Richtung Stadt ging – durchgehen wollten. „Der Boden weicht immer mehr auf mit dem Regen und wenn es so weitergeht, bleiben wir noch irgendwo stecken! Wir müssen reiten!“
„Aber...ich kann doch gar nicht reiten!“, entgegnete Julie wahrheitsgemäß. Sie war ihr Lebtag noch nie auf einem Pferderücken gesessen – ihr Vater hätte es niemals zugelassen. Eine Tracht Prügel hätte sie sich damit eingehandelt, nichts weiter.
Doktor Retzner antwortete nicht sofort, sondern beruhigte zuerst die Pferde. Als diese wieder in gleichmäßigem Trab vorwärtsgingen, wandte er sich dem jungen Mädchen zu. Er atmete tief durch, wobei sich weiße Atemwölkchen vor seinem Gesicht bildeten. Es hatte sich dramatisch abgekühlt.
„Dann müssen wir das ändern. Hier draußen haben Sie sonst keine Überlebenschancen, wenn Sie sich noch nicht einmal im Sattel halten können!“
„Ja, aber...“, wollte Julie protestieren. „Meine Eltern!“
Der junge Arzt winkte ab. „Ah, geh! Die brauchen doch gar nichts davon zu erfahren! Ich gebe Ihnen heimlich Reitstunden und ich hoffe, Sie lernen schnell, denn wir haben nicht ewig Zeit!“ Er überlegte kurz. „Besser gesagt, in einer halben Stunde sollten Sie mit mir hinaus zur Farm der O’Sullivans reiten können!“
Julie wurde blass. Sie schluckte. Du gütiger Himmel, worauf hatte sie sich da bloß eingelassen? Sie konnte doch unmöglich mit ihm einfach hinausreiten, quer über die aufgeweichte Ebene, um Patienten zu besuchen! Was, wenn sie herunterfiel? So ein Pferd war schließlich hoch!
Ihr blieb jedoch keine Wahl. Kaum zurück in St. Louis angelangt, brachte der Österreicher das Gespann und den Wagen zurück in den Mietstall.
„War wohl nichts, was?“, lachte der Eigentümer leise. „Hätte ich Ihnen gleich sagen können, Doktor! Bei dem Morast kommen Sie nur im Sattel durch und das dürfte schon schwierig genug werden!“
„Ja, das sehe ich allerdings auch so“, erwiderte er in erstaunlich gutem Englisch. „Hätten Sie zwei Reitpferde für uns?“
„Selbstverständlich!“, versicherte der Mietstallbesitzer eifrig. „Ich sattle Ihnen gleich zwei meiner Besten!“
„Sie brauchen sich nicht zu beeilen“, sagte Doktor Retzner und fasste Julie am Arm. „Zuerst müssen wir meine Assistentin noch mit praktischerer Kleidung ausstatten!“
„Praktischerer Kleidung?“, wiederholte Julie verständnislos, ließ sich jedoch mit ihm die Straße hinabführen, in Richtung des Damenmodengeschäfts.
„Natürlich! Sie können doch nicht mit diesen fünfzig Unterröcken auf ein Pferd sitzen! Wir sind nicht am kaiserlichen Hof in Wien, wo die Damen in schicken Kleidchen durch den Park promenieren! Das hier ist Amerika!“
„Ja, aber...“ Julie wusste zwar nicht, wovon er sprach, doch sie spürte, dass es nichts sein konnte, mit dem ihre Eltern einverstanden wären.
„Ruhe!“, entschied Doktor Retzner. „Ich habe das bereits entschieden!“ Und er zog sie durch die Eingangstür des Damenmodengeschäfts.
Als sie dieses keine zehn Minuten später wieder verließen, musste zuerst der Österreicher durch die Türe und nachsehen, ob jemand unterwegs war, den sie kannten.
„Alles klar“, sagte er. „Die Luft ist rein, niemand da!“
Vorsichtig lugte Julie durch die Tür, sich selbst noch vergewissernd, dann erst trat sie hinaus ins Freie. Sie kam sich schrecklich unangezogen und nackt vor. Mit mulmigem Gefühl in der Magengegend blickte sie an sich hinunter. Der knöchellange Reitrock und die hohen Stiefel dazu waren ihr fremd und es fühlte sich eigenartig an, den dicken Webstoff bei jedem Schritt zwischen den Beinen zu haben.
„Das steht Ihnen, Julie-Mädchen“, fand Doktor Retzner lächelnd und bot ihr galant den Arm. „Aber jetzt sollten wir uns ein wenig sputen! Wir haben noch einen weiten Weg vor uns!“
Julie hatte damit gerechnet, dass es nicht ganz einfach sein würde, sich im Sattel eines Pferdes zu halten, doch dass es so holprig und unsanft sein würde, versetzte sie nun doch in Angst und Schrecken. Der Erdboden schien entsetzlich weit entfernt zu sein. Tapfer stapfte ihr Pferd hinter dem von Doktor Retzner her, den schmierigen Fahrrillen folgend, die viele Kutschen auf dem Weg hinterlassen hatten. Julie fragte sich, woher er wissen wollte, dass sie sich nicht schon verirrt hatten, während sie mit einer Hand die Zügel festhielt und mit der anderen das Sattelhorn umklammerte. Das gab ihr ein vermeintlich sicheres Gefühl, sich zumindest im Notfall irgendwo halten zu können.
„Na, alles in Ordnung?“, rief er von Zeit zu Zeit nach hinten und jedesmal antwortete Julie mit einem „Ja, ja!“, was zwar nicht ganz stimmte, aber immerhin dazu führte, dass er weiter ritt. Ihr Hintern schmerzte und sie verspürte große Sehnsucht nach festem Boden unter den Füßen. Sie betete zu Gott, er möge nicht zulassen, dass ihre Eltern sie in diesem Aufzug zu sehen bekamen und dazu noch auf einem Pferd sitzend wie ein Mann – mit einem Bein rechts und dem anderen links. Eine Sünde wäre das wohl in den Augen ihres Vaters auf jeden Fall und sie wollte sich die Konsequenzen für ihr Handeln lieber gar nicht ausmalen.
Der April verging und Julie hatte ausschließlich in den Sattel eines Pferdes zu steigen, wenn sie nach einem Patienten sehen musste, nachdem Doktor Retzner herausgefunden hatte, wieviel praktischer und schneller das ging, anstatt mit einer Kutsche zu fahren. Zu Anfang hatte sie mit dem Gedanken gespielt, deswegen nicht mehr in der Praxis zu helfen, doch mit jedem Mal fühlte sie sich dabei sicherer. Sie fand bald heraus, wie sie das Pferd am einfachsten schneller und langsamer werden ließ, es nach rechts oder links lenken konnte. Es dauerte nicht lange, bis sie nicht nur keine Angst mehr davor hatte, in den Sattel zu steigen, sondern es sogar gerne tat, sehr gerne! Sie ließ ihren Reitrock und die Stiefel in einem Hinterzimmer der Praxis, wo sie sich umziehen konnte, damit ihre Eltern keinen Verdacht schöpften. Jeden Morgen verließ sie das Pfarrhaus in ihren Röcken und einer Bluse und bisher schienen sie wirklich nichts von dem zu bemerken, was sie so alles anstellte.
„Ich muss sagen“, bemerkte Doktor Retzner an einem Donnerstag, Anfang Mai. „Diese Reitsachen stehen Ihnen wirklich ausgezeichnet, Julie-Mädchen!“
Sie lächelte und spürte, wie sie errötete. Es war das erste Mal, dass sie von einem Mann ein Kompliment wegen ihres Aussehens erhielt.
„Danke sehr“, erwiderte sie leise und starrte auf ihre Stiefelspitzen hinab. „Ich werde Ihnen das Geld dafür geben, sobald ich es habe und...“
„Nein!“, fiel der Arzt ihr entschieden ins Wort. „Das ist mein Dank für Ihre Hilfe! Ich schenke sie Ihnen! Ich will kein Geld dafür!“ Er lächelte über ihr verblüfftes Gesicht. „Ich habe Ihrem Vater übrigens nach dem Gottesdienst am vergangenen Sonntag erzählt, wieviel Sie gelernt haben und welch ungeheure Hilfe Sie mir sind. Ich glaube, er war sehr stolz.“
„Oh“, machte Julie und fühlte sich ausgesprochen geschmeichelt. „Aber er ist bestimmt nicht mehr stolz, wenn er mich auf einem Pferd reiten sieht, wie einer der Cowboys!“
„Ach was!“ Doktor Retzner winkte ab. „Das findet er doch nie heraus! Wie denn auch?“
Unsicher hob Julie die Schultern. Sie musste sich eingestehen, wirklich sehr viel neues Wissen aufgenommen zu haben in den vergangenen Wochen – mehr Nützliches, als in der Schule. Sie konnte Verbände wechseln, anlegen und einfache Diagnosen wie Mandelentzündung oder Grippe stellen. Sie kannte die Begriffe der einzelnen Instrumente und konnte sie Doktor Retzner reichen, wenn er eines davon benötigte. Oft nahm sie auch eines seiner medizinischen Bücher mit nach Hause, in denen sie dann las – auch, wenn ihre Mutter das nicht gerne sah.
„Da stehen Dinge drin, die nicht gut sind für ein junges Mädchen“, hatte sie ihr erklärt, doch Julie begriff nicht, was sie damit meinte und sie hatte es bisher auch nicht gewagt, ihre Mutter danach zu fragen. Es hätte vermutlich auch wenig Sinn gemacht. Ihre Mutter sprach immer nur dann über Dinge, die ihr unangenehm waren, wenn es keinen anderen Ausweg gab.
„Heute habe ich mir überlegt, dass es Zeit ist, Sie in die Dinge einzuweisen, für die ich Sie am meisten gebrauchen kann, Julie!“ Die warme Stimme mit dem österreichischen Akzent riss sie aus ihren Gedanken.
„Ja?“, fragte Julie vorsichtig und legte abwartend den Kopf schief.
„Ja“, bestätigte Doktor Retzner und lehnte sich an den Behandlungstisch. Es würde nicht ganz einfach für ihn werden und er überlegte schon seit Tagen, welche Worte wohl die richtigen wären. „Und zwar deshalb, weil Sie eine Frau sind und Frauen fühlen sich unter gewissen Umständen bei einer Frau besser aufgehoben, als bei einem Mann.“
„Unter...gewissen Umständen?“
Doktor Retzner schmunzelte. „Ganz recht! Haben Sie sich das Buch angesehen, dass ich Ihnen mitgegeben hatte?“
Julie blickte auf ihre kleine Ledertasche hinab, die sie immer bei sich trug. Er hatte sie ihr gegeben und alles darin untergebracht, was sie gebrauchen konnte und was er in der Praxis bereits liegen hatte und somit entbehren konnte.
„Ich...ich bin nicht sehr weit gekommen“, gab sie gedehnt zu. „Dann hat meine Mutter mir verboten, weiterzulesen.“
„Hmm“, machte Doktor Retzner und kratzte sich nachdenklich am Hals. Er hatte befürchtet, dass ihre Eltern auf diese Art reagieren würden oder womöglich noch schlimmer, wenn sie den Inhalt des Buches genauer betrachteten, aber es half nichts. Wenn sie über die natürlichsten Vorgänge in ihrem Leben nicht Bescheid wusste und keine Ahnung hatte, was in ihrem Körper vor sich ging, konnte er sie auch nicht zu einer Gebährenden schicken.
„Also gut“, meinte er schließlich. „Dann lassen Sie uns das gemeinsam ansehen. Ich verstehe die Bedenken Ihrer Eltern. Unter normalen Umständen dürften Sie dieses Buch tatsächlich nur dann lesen, wenn Sie bereits verheiratet wären und ein Kind bekommen hätten. So jedenfalls ist es bei uns geregelt: Keine Frau darf eine Ausbildung zur Hebamme machen, wenn sie nicht weiß, wovon sie spricht und das, nun...“ Er hüstelte und rang um die richtigen Worte. Es wäre tatsächlich einfacher gewesen, wenn sie zumindest im Ansatz wüsste, was zwischen Männern und Frauen alles vor sich ging. „Nun ja“, fuhr er schließlich fort. „Dies hier sind besondere Umstände, in diesem Land ist alles ein wenig anders und die medizinische Versorgung ist längst nicht so gut gewährleistet, wie in der alten Heimat. Da kann man nicht immer darauf Rücksicht nehmen, was eine junge, unverheiratete Frau wissen darf und was nicht.“
Bereitwillig und neugierig zugleich öffnete Julie die Tasche und holte das dünne Buch heraus. Das schien ja ein ganz schwieriges Thema zu sein, wenn sogar er ihr eine derartige Rede hielt! Sie reichte es Doktor Retzner, der kurz darin blätterte und die entsprechende Seite aufschlug.
„Hier“, sagte er und schob es ihr auf dem Behandlungstisch zu. „Das hier müssen Sie wissen.“
Julie betrachtete die beiden, auf der Doppelseite abgebildeten Zeichnungen und schluckte, peinlich berührt – sie stellten eine nackte Frau und einen nackten Mann dar, doch in ihrem Bäuchen waren seltsame Kringel und Kreise und Linien eingezeichnet.
„Das da“, fuhr Doktor Retzner im sachlichen Tonfall eines strengen Schulmeisters fort, „ist das, was diese Menschheit nicht aussterben lässt – die männlichen und weiblichen Geschlechtsorgane.“
Regungslos starrte Julie auf die Abbildungen. Sie wagte weder, den Blick zu heben, noch richtig zu atmen. Sie kaute auf ihrer Unterlippe und wartete. Hier öffneten sich ihr ganz neue Ansichten über das Leben und die Dinge, die darin geschahen. Sie spürte, wie nervös Hardy Retzner mit jedem weiteren Satz wurde und hoffte, er würde nicht doch von seiner Idee abkommen, sie in die tiefsten Geheimnisse der Menschheit einzuweihen.
Der Doktor griff zu einem Bleistift und deutete auf jedes einzelne Organ, das in den beiden Körpern eingezeichnet war. Er benannte sie beim Namen und erläuterte ihre Funktion und mit jeder Minute, die verstrich, glaubte Julie, verschlimmerte sich ihr Schwindel. Sie tastete nach dem Behandlungstisch, um sich daran festzuhalten. Ihr Herz schlug laut und deutlich unter ihren Rippen, während Doktor Retzners Worte mehr und mehr Licht in den unerfindlichen Vorgang des Kinderkriegens brachte.
„Waren Sie je dabei, wenn Ihre Mutter eines ihrer Geschwister zur Welt gebracht hat?“, fragte er plötzlich.
Irritiert hob Julie den Kopf. Seine sanften, grünen Augen betrachteten sie mit einem verständnisvollen Lächeln.
„N...nein“, stotterte sie zerstreut und räusperte sich. „Wir sind immer zu Nachbarn geschickt worden, bis...bis sie gesagt haben, der Klapperstorch wäre da gewesen.“
„Der Klapperstorch!“ Doktor Retzner lachte leise auf.
Julie atmete tief durch. Sie wusste beim besten Willen nicht, wie sie auf dieses neue Wissen reagieren sollte. Nun wurde ihr auch endlich klar, weshalb ihre Mutter zuerst immer einen solch dicken Bauch bekommen hatte. Die Kinder wurden nicht einfach vor der Türe abgelegt. Sie kamen auf ganz andere, ganz natürliche Weise zu Welt – wie alles ganz natürlich war, was mit dem menschlichen Körper zusammenhing. Sie schüttelte kurz den Kopf. Ihre Unsicherheit schwand allmählich und dafür erwachte das wissenschaftliche Interesse an diesem Thema in ihr. Weshalb war das so und nicht anders? Warum hatte die Natur es genau auf diese Weise eingerichtet?
„Eigentlich ist das sehr ungerecht“, sagte sie schließlich, nach einer langen Pause, und schaute Doktor Retzner fest in die Augen. „Wir Frauen müssen die ganze Arbeit leisten.“
Einen Augenblick verschlug es ihm die Sprache über so viel Nüchternheit und Sachverstand, dann lächelte er. Was konnte er darauf schon erwidern? Sie sprach die Wahrheit, mit ihrem unschuldigen, vielleicht ein wenig naiven und kindlichen Vorstellungen von Liebe und Glück.
„Ja, das stimmt.“
„Und diese Blutungen, alle paar Wochen, die haben auch damit zu tun, nicht wahr?“, fragte sie jetzt, ohne Hemmungen. Sie wollte mehr über das erfahren, was sich in ihrem Körper abspielte. Sie wollte wissen, was dort vor sich ging und weshalb.
„Richtig“, bestätigte Doktor Retzner in stiller Bewunderung. Jedes andere Mädchen wäre vielleicht beschämt nach Hause gelaufen, nach allem, über was er jetzt gesprochen hatte, aber sie nicht, nein, nicht Julie Kleinfeld. Sie war anders, offener und mit einem gesunden Menschenverstand ausgestattet und an allem interessiert, was sich ihr an neuen Erkenntnissen bot.
„Wenn eine Frau diese Blutungen einmal nicht mehr bekommt, eine verheiratete Frau, meine ich“, fügte er schnell hinzu, „kann sie mit großer Sicherheit davon ausgehen, guter Hoffnung zu sein.“
„Aha!“, machte Julie und betrachtete die beiden Zeichnungen. Sie konnte sich zwar beim besten Willen nicht vorstellen, wie ein Säugling durch diese winzige Öffnung aus einer Frau hinauskommen sollte, doch es schien ganz offensichtlich recht gut zu funktionieren. Sie überlegte.
„Haben Sie das alles begriffen?“, wollte Doktor Retzner wissen.
Julie legte den Kopf schief. „Nun ja“, begann sie zögernd. „Fast alles.“
Er lächelte ihr ermutigend zu. „Sie können mich alles fragen, Julie-Mädchen! Was haben Sie nicht verstanden?“
„Um ganz offen und ehrlich zu sein...“ Sie zog unangenehm berührt die Schultern hoch. Es kostete sie einige Überwindung, ihre Frage auszusprechen. Mit jedem Tag der vergeht, dachte sie, versündige ich mich mehr und irgendwann werde ich meinen Eltern nicht mehr in die Augen sehen können. Laut jedoch sagte sie: „Sie haben mir zwar erklärt, wie das Kind in der Gebärmutter heranwächst...“ Sie brach ab.
„Aber?“, hakte Doktor Retzner vorsichtig nach. Er wollte sie nicht drängen und gleichzeitig verlangte sein nüchterner Verstand von ihm, ihr schonungslos alles zu erzählen, auch, wenn er damit vermutlich den Zorn ihrer Eltern auf sich zog, sollten sie es herausfinden. In seiner Überzeugung allerdings besaß auch ein Mädchen das Recht, über die natürlichsten Vorgänge der Menschheit zu erfahren – ganz gleich, in welcher Position die Kirche dazu stand.
Julie schluckte. Es kostete sie einige Überwindung, es auszusprechen. „Aber...nun ja, was ich nicht verstehe ist, wie es dort überhaupt hineinkommt!“
Er erstarrte. Er hatte diesen Punkt absichtlich ausgelassen, in der Hoffnung, sie würde sich die logische Folgerung selbst zusammenreimen. Offenbar tat sie das nicht, konnte es vermutlich auch gar nicht. Er stieß einen tiefen Seufzer aus. Es half nichts, er musste sie darüber aufklären. Er konnte ihr das nicht vorenthalten, wollte er sie nicht bei einer der Frauen in eine peinliche Situation bringen. Natürlich würden die Patientinnen mit ihr anders reden und ihr Dinge anvertrauen, die sie ihm gegenüber vermutlich nicht erwähnten und dann musste sie wissen, worum es sich handelte. Ihm blieb keine Wahl und so nahm er den Bleistift wieder zur Hand und nach einer kurzen Sekunde der Überwindung setzte er ihn auf den entsprechenden Teil der Zeichnung.
„Damit“, stieß er hastig vor, „damit gelangt das Kind in eine Frau und deshalb kann nur durch beide zusammen, durch Mann und Frau, neues Leben gezeugt werden.“
Er fühlte, wie Julie neben ihm den Atem anhielt. Er wusste, dass ihr in diesem Moment sehr vieles klar werden musste und einige Erkenntnisse auf sie einstürzten, mit denen sie vermutlich nicht sofort zurechtkommen würde. Es tat ihm leid, dass er es ihr nicht irgendwie schonender beibringen konnte. Wieviele junge Mädchen hatten nicht den Schimmer einer Ahnung, was sie in ihrer Hochzeitsnacht erwartete! Wieviele böse Überraschungen gab es für sie und genau das wollte er ihr ersparen. Er wollte nicht, dass sie überfallen wurde von einem Vorgang, von dem sie nicht einmal ahnte, dass es ihn gab, erst recht nicht, wenn er ihr Bräutigam sein würde. Die Vorstellung ließ ihn lächeln. Er betrachtete das junge Mädchen, das noch immer da stand, ganz in ihren Überlegungen versunken und auf das Buch hinabstarrte. Am liebsten hätte er sie augenblicklich in den Arm genommen. Wie entzückend sie aussieht, schoss es ihm durch den Kopf, wie ungeheuer süß und einzigartig!
„Tun Sie mir einen Gefallen?“, fragte er dann, als sie auch nach einer langen Pause keinen Ton von sich gab.
„Ja, natürlich“, brachte das junge Mädchen leise hervor. Sie fühlte, wie ihr Gesicht heiß und rot wurde.
„Erzählen Sie bitte Ihren Eltern niemals etwas von dem, was ich Ihnen eben erklärt habe! Sie würden es mir vermutlich nie verzeihen!“
Unerwartet trat ein verschmitztes Lächeln auf Julies Gesicht. „Nein“, erwiderte sie leise und warf selbstbewusst den Kopf zurück, um ihn anzusehen. „Das glaube ich allerdings auch nicht!“
Am darauffolgenden Sonntag, nach Friedrichs Predigt, standen noch einige Städter vor der Kirche, wie so häufig nach dem Gottesdienst und unterhielten sich, doch nicht allzu lange, denn es regnete schon wieder und ein kalter Wind pfiff zwischen den Häusern hindurch und über das Land.
„Ein solches Wetter habe ich in Deutschland noch nie erlebt“, gab Julie zu, die langsam mit Doktor Retzner den morastigen Pfad hinab spazierte, der auf die Hauptstraße führte. „Es wird überhaupt nicht besser! Dabei sollten wir längst Frühling haben!“
„Das ist ein anderes Klima hier“, erläuterte der junge Arzt und lächelte. „Ich lese die Zeitung so oft, wie ich dazukomme und darin stand auch einmal etwas über die verschiedenen Wettergebiete dieses riesigen Landes.“
„Wirklich?“ Interessiert schaute Julie ihn an. „Was heißt das?“
„Das heißt“, erklärte er bereitwillig, „dass es in Amerika alles gibt: Grüne Wiesen, weite Wälder, hohe Gebirge und Wüsten, einfach alles! Ist das nicht unglaublich? Und das auf einem einzigen Kontinent!“
Julie versuchte, sich das vorzustellen – eine Wüste neben einer grünen Wiese, doch es wollte ihr nicht recht gelingen. Schließlich nickte sie nur. „Was Sie nicht alles wissen!“
Hinter ihnen kamen Luise und Friedrich mit ihren beiden Söhnen marschiert. Niemand wollte sich zu lange in der regnerischen Kälte aufhalten und sie beeilten sich, ihren Spaziergang heute kurz zu halten, um schnell nach Hause, ins Warme und Trockene zu gelangen. Es war schon seit Jahren zu einer Angewohnheit geworden, jeden Sonntag nach dem Gottesdienst immer noch eine kurze Runde zu Fuß zu gehen. Auch in Deutschland hatten sie das immer getan und dabei öfter zu einem Tratsch bei einem Gemeindemitglied angehalten und die neuesten Ereignisse ausgetauscht. Hier beschränkte sich der Sparziergang auf die Bewegung an der frischen Luft.
„Die beiden sehen sehr vertraut aus“, fand Luise, während sie ihre Tochter und den österreichischen Arzt kritisch beobachtete.
Friedrich schmunzelte. „Keine Sorge! Ich glaube, dass ihre Beziehung rein auf der Basis ihrer Arbeit beruht!“
„Hoffentlich!“, kommentierte seine Frau und runzelte bedenklich die Stirn. „Mit seiner Bildung wird er ja hoffentlich vernünftig genug sein und die Finger von ihr lassen!“
„Aber Luise!“, raunte Friedrich kopfschüttelnd und warf einen Blick über seine Schulter zurück, doch weder Hugh noch Nikolaus schienen etwas von ihrem Gespräch gehört zu haben, denn sie schuppsten sich gegenseitig umher. „Hardy ist ein anständiger Kerl! Er würde Juliane niemals unsittlich nahetreten!“
Seine Frau lächelte leicht, wenig überzeugt. „Vermutlich hast du recht, dennoch werde ich ein Auge auf die beiden werfen und sollte mir irgendetwas auffallen, werde ich einschreiten. Sie ist schließlich unsere einzige Tochter!“
Am Abend, noch bevor das Abendessen fertig war, musste Nikolaus wieder durch die Stadt laufen, bis zu der großen Scheune, wo die Pferde, Maultiere und Ochsen untergebracht waren. Dort half er wie jeden Tag beim Misten, wie abgesprochen.
„Ich beeile mich!“, versprach der Junge und zog sich seine Schildmütze über das braune, widerspenstige Haar.
„Warte!“ Sein großer Bruder erhob sich vom Tisch und legte die zwei Wochen alte Zeitung beiseite, die er von irgendjemandem geschenkt bekommen hatte. „Ich helfe dir, dann geht es schneller!“
„Au ja!“, rief Nikolaus und hüpfte auf der Stelle. „Das wird lustig!“
„Ihr sollt arbeiten, nicht euch amüsieren“, grummelte Friedrich, der neben dem Ofen stand, seine Frau beim Kochen beobachtete und sich gleichzeitig die Hände wärmte. „Vergesst das nicht und beeilt euch! Heute ist Sonntag!“
„Natürlich, Vater!“, kam die prompte Antwort gleichzeitig aus zwei Mündern und in der nächsten Sekunde schlug die Türe ins Schloss.
Draußen fiel wieder Regen in großen, schweren Tropfen vom schwarzen Nachthimmel herab. Der kalte Wind stieß sie während ihres Falls in sämtliche Richtungen, von rechts nach links, gegen die Hauswände und hinein in die Baumkronen, die sich sacht im Takt wiegten. Ihre noch beinahe blattlosen, kahlen Äste wirkten trübsinnig und hoffnungslos. Hugh starrte zu ihnen hinauf, soweit er sie in der Dunkelheit erkennen konnte. Er musste einige male hart und tief husten.
„Wirst du krank?“, wollte Nikolaus besorgt wissen und blickte zu seinem großen, dürren Brüder hinauf. Es schien ihm fast, als sei er noch schmaler geworden, seitdem er bei der Eisenbahn arbeitete.
„Nein, nein!“, winkte Hugh eilig ab und bemühte sich, ein weiteres Husten zu unterdrücken. „Lass uns ein wenig hinne machen, damit wir zum Abendessen wieder zurück sind!“
„Ach“, machte Nikolaus gleichgültig. „Julie ist auch nie da, wenn es Essen gibt!“
Sein großer Bruder schmunzelte. „Du nennst sie also auch schon Julie?“
Der schmächtige Junge nickte. „Natürlich! Sie hat mich selber darum gebeten und ich finde es auch schöner, genau, wie ich Nick besser finde.“
„Die Kinder in der Schule nennen dich so?“
„Ja und ich weiß, dass dich bei der Eisenbahn alle nur Hugh rufen! Das gefällt mir auch viel besser!“
„Weil es amerikanisch klingt?“
„Natürlich! Wir sind doch jetzt Amerikaner oder etwa nicht?“
„Noch nicht, aber bald, bestimmt.“
Sie umrundeten das Lager und erreichten die große, alte Scheune. Licht fiel durch die Schlitze des Tores und sie traten ein. Eine warme, streng nach Mist stinkende Luft schlug ihnen entgegen.
„Puh!“, machte Hugh und war auf einmal sehr dankbar für seine wechselnden Arbeitsplätze bei der Eisenbahn, ob nun in durch Pfeifen- und Zigarrenqualm eingeräucherten Büros, kalten, unbeheizten Eisenbahnwaggons oder zugigen Bahnsteigen. Alles war besser als dieser Gestank!
Es gab einiges für sie zu tun. Außer Nikolaus half nur einer der Ungarn aus ihrem Treck beim Misten, der zudem die Oberaufsicht über den Stall und die Tiere übertragen bekommen hatte. Die anderen Männer kannten sie nicht. Der Ungar brachte die Tiere jeden Tag nach draußen, auf eine Art Koppel, verschaffte ihnen Bewegung, striegelte sie und kümmerte sich um die Hufe und die Eisen. Miklós war ein Pferdemann gewesen in seiner alten Heimat und liebte die Tiere. Er redete in gebrochenem Englisch ohne Unterlass, während er neben den beiden Kleinfeld-Brüdern einen Verschlag nach dem anderen mistete.
Zum ersten Mal wurde Hugh bewusst, welche Schwerstarbeit sein kleiner Bruder hier zu verrichten hatte und er bewunderte ihn im Stillen dafür. Sie brauchten fast eine Stunde, bis sie sämtlichen Mist hinaus auf den Haufen gekarrt und frisch eingestreut hatten.
„Das ging wunderherrlich schnell heute“, strahlte der Ungar und wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Könntest kommen jeden Tag! Würde alles immer so schnell sein!“ Er lachte fröhlich, wobei er seine dunklen Augen zusammenkniff.
„Geht nicht“, erwiderte Hugh entschuldigend. „Die Eisenbahn zählt auf mich!“
„Ah ja!“, rief Miklós und klatschte sich bedauernd in die Hände. „Die Eisenbahn! Die wird kosten eines Tages unseren Pferden das Dasein! Du wirst sehen!“ Er seufzte betrübt. „Aber was redet alter, dummer Miklós hier? Ihr müsst nach Hause, nicht wahr? Eltern warten und ist schon spät! Kommen morgen wieder! Gute Nacht!“
„Gute Nacht!“, rief Nikolaus fröhlich und drückte dem Ungar kurz die Hand. Er mochte ihn sehr und hörte unheimlich gerne seine Geschichten an, die er zu erzählen wusste.
„Gute Nacht“, sagte auch Hugh, doch nur leise, denn jedes lautere Wort hätte einen erneuten Hustenanfall ausgelöst. Er schlug den Kragen seiner Jacke hoch und schlurfte hinter seinem kleinen Bruder hinaus ins Freie. Noch immer fiel Regen vom Himmel.
„Ist das nicht schön?“, jubelte Nikolaus ausgelassen und hüpfte über mehrere Pfützen hinweg.
Hugh erwiderte nichts. Er fühlte sich ausgesprochen elend und erschöpft. Er konnte sich selbst nicht erklären, woher das kam. Am Morgen noch war er bei bester Gesundheit gewesen, das hieß, nein, eigentlich auch schon nicht mehr, wenn er ehrlich sein wollte. Einige male war ihm eigenartig schwindlig geworden und er war im Grunde ganz froh gewesen, als sein Arbeitstag sich dem Ende geneigt hatte.
Sie mussten wieder den weiten Weg quer durch die Stadt zurücklegen. Als sie das Pfarrhaus betraten, schlug ihnen der Duft von Luises Mahlzeit entgegen und drehte Hugh fast den Magen um. Er musste sich am Türrahmen festklammern. Die Welt um ihn herum begann, sich zu drehen.
„Du lieber Himmel! Wie siehst du denn aus?“ Das war Julie. Er spürte, wie ihre kleine, zarte Hand ihn fasste und stützte und die andere sich auf seine Stirn legte. „Du glühst ja! Los, leg dich sofort in dein Bett! Ich hole Hardy, du brauchst einen Arzt!“
„Mir...geht’s...gut“, brachte Hugh leise und schwerfällig hervor. „Wirklich...“
„Genauso siehst du auch aus!“, erwiderte Friedrich sarkastisch. Seine großen, kräftigen Pranken packten seinen Sohn entschlossen und zerrten ihn zur Treppe. „Rauf da! Mach’ schon!“
Nur mit letzter Kraftanstrengung und mit Hilfe seines Vaters gelang es Hugh, sich am Geländer hinaufzuziehen. Oben gab es nur zwei Räume: Im einen teilten sich die Kinder zwei Betten, im anderen schliefen Luise und Friedrich.
Hugh wankte zu seinem Bett. Seine Knie gaben unter ihm nach, er sank auf die Daunendecke und spürte, wie im nächsten Augenblick eine harte, schwarze Dunkelheit über ihm hereinbrach und er das Bewusstsein verlor.
„Schnell, Mädchen!“, rief Friedrich erschrocken nach unten, während er die Decke unter seinem Sohn hervorzog und über ihm ausbreitete. „Hol’ Hardy! Deinem Bruder geht es sehr schlecht!“
„Ja, ich laufe!“ Bereits im Hinausstürmen warf Julie sich ihr Cape über und dann rannte sie los, durch den strömenden Regen und die morastigen Straßen. Sie merkte nicht, wie sich ihr langes, rotblondes Haar mit Wasser vollsog und ihre Schuhe durchweichten. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Den Symptomen nach zu urteilen musste es sich um eine schwere Grippe handeln oder womöglich um Schlimmeres. Sie atmete schnell und keuchend. Ihre Röcke waren längst völlig durchnässt und wurden mit jedem Schritt schwerer. Hoffentlich hatte sie Glück und Hardy war noch in der Praxis, sodass sie nicht bei Doktor Stankovski klopfen und diesen bei seinem Feierabend stören musste! Sie eilte die menschenleere, wie ausgestorben wirkende Hauptstraße hinab. Nur aus dem Saloon drangen Musik und Gelächter, wie jeden Abend. Um die nächste Kurve und dann war da die Praxis. Julie seufzte erleichtert – Licht fiel aus einem Fenster auf die Straße. Sie raffte ihre Röcke und eilte hinüber. Das Herz schlug ihr bis zum Hals und sie hatte das Gefühl, jeden Augenblick ohnmächtig zu werden. Ihre Faust hämmerte laut gegen die Türe.
„Hardy?“, rief sie leise. „Sind Sie da?“ Es dauerte keine drei Sekunden, dann wurde die Tür von innen aufgerissen.
„Julie!“ Erschrocken fasste Doktor Retzner sie an den Schultern. „Was ist passiert? Geht es Ihnen nicht gut? Sie sind ja ganz nass!“
„Mit mir ist alles in Ordnung!“, brachte sie keuchend hervor. „Aber Hugh...ich meine, mein Bruder ist krank! Bitte, Hardy, Sie müssen sofort mitkommen!“
„Natürlich, warten Sie!“ Er wirbelte herum, griff nach seiner Tasche und der Jacke. Die Eingangstür fiel krachend ins Schloss. Der Österreicher legte einen Arm um Julies Schulter, als fürchtete er, sie würde andernfalls den Weg zurück in der Dunkelheit und dem Regen nicht überstehen.
Als sie das Pfarrhaus erreichten, wurden sie bereits von einer aufgeregten, äußerst besorgten Luise empfangen, die sich von ihrem Mann kaum beruhigen ließ. Nur Nikolaus saß, wie unbeteiligt am Tisch, über seinem Abendessen.
„Er hat mir geholfen, den Pferdestall zu misten“, sagte der Junge zwischen zwei Bissen und beobachtete, wie der österreichische Arzt die Treppe hinauf eilte, gefolgt von Luise.
„Was meinen Sie, Doktor?“, rief sie verängstigt und faltete die Hände, wie zum Gebet. „Es ist doch nichts Ernstes?“
„Lass ihn doch erst einmal schauen!“, versuchte Friedrich sie zu bremsen und zog sie vom Bett fort. „Wie soll er etwas sagen können, wenn du andauernd dazwischenredest?“
Doktor Retzner ließ sich nicht von dem Gespräch ablenken. Er kannte das bereits und hatte schon vor vielen Jahren gelernt, einfach wegzuhören und sich nur auf seine Arbeit zu konzentrieren. Julie stellte sich neben ihn und beobachtete, wie er Hughs Atem überprüfte, seinen Puls maß und die Temperatur nahm. Schließlich richtete er sich auf. Sein schmales Gesicht legte sich in tiefe Falten.
„Was ist es?“, fragte Julie leise, jede seiner Regungen besorgt beobachtend.
„Nun“, er biss sich kurz auf die Lippen. „Er hat sich ganz offensichtlich eine Lungenentzündung eingefangen.“
Luise stieß einen kurzen, leise Schrei des Entsetzens aus. Genauso gut hätte er das Todesurteil für ihren ältesten Sohn verkünden können.
„Sind Sie ganz sicher?“, wollte Friedrich wissen, während er seine Frau an beiden Oberarmen stützte.
„Ja.“ Der Arzt nickte. „Es tut mir leid, aber ich kann nichts Großartiges für ihn tun. Das muss er alleine schaffen. Halten Sie ihn möglichst warm und flößen Sie ihm so viel heißen Tee ein, wie es nur geht und wenn das Fieber zu hoch wird – dann versuchen sie es mit Wadenwickel.“
„Aber...das kann doch nicht alles sein!“, rief Luise verzweifelt und presste sich die Hände vors Gesicht.
„Ich komme gleich morgen Früh wieder vorbei“, versprach Doktor Retzner. „Sehen Sie unbedingt zu, dass er nicht friert! Ich besorge Ihnen auch noch ein paar dickere Wolldecken und jemand muss über Nacht Wache halten.“
„Das kann ich tun!“, rief Julie sofort.
„Kommt nicht in Frage!“, donnerte Friedrich. „Du bist den ganzen Tag auf den Beinen und brauchst deinen Schlaf! Deine Mutter und ich können uns abwechseln! Du versuchst zu schlafen und keine weitere Diskussion!“
„Ja, Vater“, sagte Julie leise, wenn auch mit innerem Widerwillen. Sie verstand doch ein klein wenig etwas von Medizin mittlerweile. Sie wollte Hugh jetzt beistehen!
Doktor Retzner verabschiedete sich, unzufrieden, nicht mehr tun zu können. Manchmal, dachte er, während er die Türe hinter sich zuzog und hinaus ins Freie trat, ist es ein verdammt frustrierender Beruf. Man will helfen und kann nicht, man will Leben retten und hat keine Ahnung, wie man es anstellen soll, weil es keine Möglichkeiten gibt oder weil wir an unsere Grenzen als Mediziner stoßen, an die Grenzen dessen, was wir wissen.
Er blieb stehen, hob sein schmales, müdes Gesicht dem schwarzen Nachthimmel entgegen. Die Regentropfen fielen kalt auf seine Haut. Er schloss die Augen. Diese Aussichtslosigkeit, diese Hilflosigkeit! Wie konnte er Hubert nur helfen? Wie konnte er sein Leben retten? Nicht nur um Huberts Willen und deshalb, weil er sich als Arzt dazu verpflichtet fühlte – für Julie vor allen Dingen, für Julie wollte er den jungen Mann am Leben erhalten. Sie würde es ihm nie verzeihen, sollte er es nicht schaffen.
Langsam ging Hardy Retzner weiter. Es half nichts, er musste endlich aufhören, sich selbst zu belügen. Ein sanftes Lächeln spielte um seine Lippen, während er langsam durch die Dunkelheit spazierte. Jeden Morgen wartete er voller Sehnsucht und Vorfreude darauf, dass die Tür der Arztpraxis aufschwang und die helle, fröhliche Stimme ihn und Doktor Stankovski begrüßte. Wenn sie strahlend und glücklich, diese Arbeit verrichten zu dürfen, im Hinterzimmer verschwand, um sich umzuziehen. Verträumt suchte der junge Arzt sich seinen Weg über die matschigen Wege, durch die ausgestorbenen Gassen zwischen den Wohnhäusern bis zur Hauptstraße. Er durfte nicht länger vor sich selbst verleugnen, was dieses einfache, ehrliche und doch so besondere Mädchen ihm bedeutete, dass sie schon längst sein Herz erobert hatte, ohne es vermutlich überhaupt auch nur zu ahnen. Sie war noch fast zu jung, um zu wissen, was Liebe bedeutete, aber doch nicht zu jung und er war fest entschlossen, um ihre Hand anzuhalten, sobald sie in Oregon angelangt sein würden. Wenn er dort erst einmal seine eigene Arztpraxis eröffnet haben würde und ihr eine sichere Zukunft bieten konnte – dann würde er sie bitten, seine Frau zu werden. Er wollte sie an seiner Seite haben, jeden Tag und dieses bezaubernde Mädchen sein Eigen nennen können.
Irgendwann, dachte er, wird es soweit sein und dann wird sie vor mir stehen und ich werde sie fragen, ob sie mich heiraten will. Und sie wird mich mit ihrem eigenen, hinreißenden Lächeln ansehen und das wird der Beginn eines neuen Lebens sein!
Wände stürzten auf ihn ein, Pferde galoppierten auf ihn zu, überrannten ihn. Die Kutschenräder holperten über ihn hinweg, begruben ihn bei lebendigem Leib auf der Straße. Dann war da plötzlich Suzie. Sie stand über ihm und trug nur eine weiße, mit Spitzen besetzte Corsage...dieselbe, die sie auch bei ihrem zweiten Treffen vor einer Wochen getragen hatte. Wie schön sie aussah, wie unglaublich attraktiv und erregend! Sie hatte sich gefreut, ihn wiederzusehen und diesmal hatte er gleich gewusst, was er von ihr haben wollte. Sie hatte ihn mitgenommen, hinauf in ihr Zimmer und diesmal war es anders, intensiver und noch schöner gewesen. Hugh lächelte. Er wollte die Hand nach ihr ausstrecken, doch in dem Augenblick, da er sie berührte, löste sie sich in Luft auf und an ihre Stelle trat... Ein Offizier stand mit einem Mal über ihm, brüllte zu ihm hinab, er solle gefälligst aufstehen und nicht faul herumzuliegen. Er solle sofort die restlichen Kutschen anspannen, damit sie von hier fort kämen. Erschrocken wollte Hugh aufspringen, dem Befehl Folge leisten, doch er konnte nicht, nicht ein Glied seines Körpers gehorchte ihm. Jede Bewegung war unmöglich und er wartete angstvoll darauf, was dieser ihm völlig unbekannte Soldat nun mit ihm anstellen würde...
„Er ist entsetzlich unruhig!“, rief Luise verzweifelt durch die offene Tür hinunter, was Julie dazu veranlasste, ihr Abendessen stehenzulassen und die Stufen der Treppe hinaufzurennen, immer zwei Stufen auf einmal nehmend. Sie verfing sich fast in einem der Unterröcke und stieß ein leises Schimpfwort aus, das ihre Mutter zwar hörte, aber geflissentlich ignorierte.
„Er redet ununterbrochen wirres Zeug, das ich kaum verstehe und wenn, dann begreife ich nicht, was es bedeuten soll“, sagte Luise stattdessen und legte ihre Hand auf die Stirn ihres ältesten Sohnes.
„Das Fieber ist wieder gestiegen“, erkannte Julie auf einen Blick und griff nach Hughs Handgelenk, um den Puls zu fühlen. „Schnell und unregelmäßig“, stellte sie sachlich fest. „Lass uns Wadenwickel machen und ihm wieder Tee einflößen!“
„Gut, wenn du meinst, lass es uns versuchen.“ Luise richtete sich auf. Sie war nun doch sehr froh, ihrer Tochter nicht verboten zu haben, Doktor Retzner in der Praxis zu helfen. So verstand sie ein wenig von Heilkunde und wusste wenigstens gleich, was gut oder schlecht für Hubert sein würde. Seit drei Tagen lag er nun hier, in diesem Dämmerzustand zwischen Delirium und Wachphasen, zwischen Genesung und hohem, lebensgefährlichem Fieber.
„Sie müssen Geduld haben“, hatte Doktor Retzner ihnen erklärt. „Der Körper muss erst Abwehrstoffe bilden, vorher kann er nicht gesund werden. Diese Zeit müssen Sie ihm einräumen.“ Und auf Luises Frage, wie lange das dauern könnte, hatte er nur die Schultern heben können: „Vielleicht eine Woche, vielleicht auch vier, das hängt davon ab, wie schlimm es ihn erwischt hat. Das aber sehen wir erst im Laufe der nächsten Tage.“
Die Sonne kam hinter den grauen Regenwolken hervor und spiegelte sich in den unzähligen Pfützen und Teichen, die sich überall auf der Wiese und rund um die Kirche gebildet hatten. Endlich schien das schlechte Wetter gegen den Frühling und die steigenden Temperaturen verloren zu haben.
Nikolaus hüpfte die Hauptstraße der Stadt hinab, in der sie nun doch länger als ursprünglich geplant hatten bleiben müssen. Der schmächtige, braunhaarige Junge sprang über eine Pfütze und überquerte die Straße. Die Schule war wieder einmal geschafft und nun hieß es, Miklós im Stall und bei den Pferden zu helfen, eine Arbeit, die er sehr viel lieber tat als zur Schule zu gehen und zu lernen. Er liebte den Geruch der großen, kräftigen und doch so sanften Tiere und die Art, wie der kleine Ungar ihn lehrte, mit ihnen umzugehen.
Der Platz, auf dem das Lager der Auswanderer errichtet worden war und die Scheune sich befand, stand fast gänzlich unter Wasser. Bei jedem Schritt gab die durchweichte Erde unter ihm nach und er spürte die Nässe durch seine Lederschuhe. Nikolaus rannte, um die Pfützen und Teiche hinter sich zu lassen. Keine zwei Stunden später war er mit seiner vertrauten Arbeit fertig und er lief denselben Weg zurück. Er wusste, dass er spät dran war und dass seine Mutter wieder böse mit ihm sein würde. Umso weniger achtete er darauf, wohin er seine Füße setzte. Einmal rutschte er aus, als er die Brücke über den Hochwasserführenden Fluss gerade hinter sich gebracht hatte, doch er tat sich nicht weh und so achtete er auch nicht weiter auf seine Kleidung, an der nun Schlamm klebte. Schließlich erreichte der Junge das Pfarrhaus. Er stieß die Tür auf und sprang ins Innere.
„Wie siehst du denn aus?“ Der Aufschrei seiner Mutter ließ ihn zusammenzucken. „Sofort ziehst du dir die Schuhe aus und stellst sie vor die Tür und später wirst du sie saubermachen! Ach, jetzt sieh nur, was du für Dreck mit hereingebracht hast!“
„Entschuldigung“, murmelte Nikolaus betreten und entledigte sich seiner mit Erdklumpen behafteten Stiefel.
„Und dann setz dich hin und iss“, befahl Luise streng, während sie seinen Teller nahm und ihn mit der Erbsensuppe füllte.
Nikolaus verzog das Gesicht, doch er beschwerte sich nicht, sondern tat, wie ihm befohlen und begann zu essen.
„Hubert?“, rief Luise nach oben und horchte. „Willst du auch noch ein wenig etwas haben? Du musst bald wieder bei Kräften sein, vergiss das nicht!“ Sie wartete.
Oben, in seinem Zimmer, richtete ihr ältester Sohn sich langsam ein wenig auf, sodass er sich auf die Ellenbogen stützen konnte. Ihm schwindelte, doch er versuchte tapfer, das Gefühl zu ignorieren.
„Ja“, rief er leise zurück. „Aber bitte nicht zu viel!“
Es ging nur allmählich aufwärts mit ihm, nur ganz langsam hatte sich sein Zustand in der vergangenen Woche gebessert. Er hatte fast zehn Kilo verloren, was ihn völlig abgemagert erscheinen ließ und er fühlte sich auch schwach und noch weit von seiner alten Form entfernt. Seit fast drei Wochen lag er nun hier und hatte nichts außer Pfefferminztee zu sich nehmen können, aber er lebte. Die Lungenentzündung war überstanden und nun musste er zusehen, dass er schnellstmöglich wieder zu Kräften kam. Jeden Tag konnte der Aufbruch mit einem Wagentreck gen Westen bevorstehen und er konnte nicht zulassen, dass seine Familie sich diesem nicht anschließen konnte, weil er noch nicht wieder stark genug war.
Luise brachte ihm eine Schale mit Suppe nach oben und Hugh richtete sich vollends auf, um sich gegen die Wand, hinter dem Bett zu lehnen. Ohne Stütze sitzen konnte er noch nicht, dazu war er noch zu schwach.
„Hardy wird nachher noch einmal vorbeischauen“, bemerkte Luise, während sie ihm die Schale und den Löffel reichte. „Geht es?“, fragte sie zärtlich und wollte ihm zur Hand gehen, doch Hugh winkte hastig ab.
„Natürlich geht es! Keine Sorge! So weit bin ich schon wieder auf dem Damm!“
Er wollte sich nicht bemuttern lassen, dazu fühlte er sich zu erwachsen. Außerdem glaubte er wirklich, es ginge ihm schon wieder viel besser, dank der Hilfe und hervorragenden Betreuung von Doktor Retzner. Jeden Tag sei er hier gewesen, hatte Julie ihm berichtet und immer wieder hätte er andere Medikamente ausprobiert, die er von Doktor Stankovski erhalten habe und doch hätte es alles nichts geholfen.
Aber ich lebe ja noch, dachte Hugh erleichtert und aß langsam die heiße Suppe. Ich lebe und werde überleben und ich werde Oregon sehen und wir werden dort ein eigenes Häuschen besitzen.
Bei dem Gedanken lächelte er vor sich hin. Die Vorstellung ließ ihn Vorfreude verspüren und er malte sich bereits aus, wie ihr Haus sein müsste, dann jedoch kam ihm ein ganz anderer Gedanke. Wie oft hatte er während dieser Fieberphasen an Suzie denken müssen, wie oft war sie vor seinem Auge erschienen und er hatte sich gefragt, ob sie wohl wusste, dass er hier lag. Sie bedeutete ihm etwas, auch wenn er kaum annehmen durfte, dass sie dasselbe für ihn empfand. Für sie war er vermutlich nichts weiter, als eine Nummer in der Liste ihrer Freier. Nur ein junger Mann, der ihr Geld dafür bezahlte, damit sie mit ihm schlief, damit er an ihr seine Triebe ausleben konnte. Er schluckte. Niemals durften seine Eltern davon erfahren, dass er – ihr ältester Sohn, christlich erzogen – bei einer Prostituierten gewesen war und das nicht nur einmal.
Die Suppe schmeckte ihm plötzlich nicht mehr, doch Hugh zwang sich, sie hinunterzuwürgen. Den einzigen, den er dafür verantwortlich machen konnte, war er selbst. Er ganz allein trug die Schuld daran, dass es geschehen war, weil er seine Wallungen und seine Begierden nicht unter Kontrolle gehabt hatte. Am liebsten hätte er es rückgängig gemacht – und andererseits doch auch nicht. Es waren zwei herrliche, wundervolle Nächte gewesen und er war Suzie dankbar, dass sie ihm erlaubt hatte, sich an ihrem Körper zu vergnügen. Er senkte den Kopf. Irgendwann würde er ihr das sagen. Vielleicht an dem Tag, an dem sie St. Louis wieder verlassen würden, um weiter nach Westen zu ziehen.
Die Sonne besaß trotz der frühen Tageszeit bereits eine ungewöhnliche Kraft und Wärme. Langsam schlenderte Julie neben Doktor Retzner über die Brücke des einstigen Flüsschens, das mit dem Regen der vergangenen Wochen gefüllt nun mehr an einen reißenden Strom erinnerte. Sie wollten sich ein wenig im Lager umsehen und sich um ein paar Kranke kümmern.
„Kaum zu glauben, dass es eine solche Menge Wasser auf einmal geben kann“, meinte der Österreicher und betrachtete mit gerunzelter Stirn den rauschenden, gurgelnden Fluss, der sich unter ihnen seinen Weg durch die Erde pflügte.
Julie musste lachen. „Wenn der Matsch erst einmal getrocknet ist und der Sommer kommt, wären die Leute bestimmt froh, wenn sie so viel Wasser hätten!“
„Das stimmt wohl“, musste Doktor Retzner ihr recht geben. „Im August ist er höchstwahrscheinlich ausgetrocknet.“
Eine Menschenansammlung hatte sich zwischen einigen Zelten und Wagen gebildet. Alle redeten durcheinander, einige schimpften, andere hoben hilflos die Schultern.
„Was ist denn da los?“ Alarmiert schlug Doktor Retzner diese Richtung ein und Julie beeilte sich, ihm zu folgen. Nicht nur deshalb, weil sie neugierig war, was dort vor sich ging, sondern auch, weil es durchaus sein konnte, dass ihre Hilfe benötigt wurde. Julie fühlte sich ausgesprochen nützlich umd wichtig, seitdem sie so viel über die Pflege von Kranken gelernt hatte und mit einer verantwortungsvollen Aufgabe betraut war. Ihr war bewusst, wie enorm sie sich in den vergangenen Monaten weiterentwickelt hatte und dass sie sich fast wie eine ausgebildete Schwester fühlen durfte. Sie erblickte Miklós zwischen den Wartenden.
„Was ist los?“, wollte sie von ihm wissen.
Der Ungar seufzte und zuckte die Schultern. „Nichts Schlimmes. Es sein bloß so, dass bald wir werden weiterziehen. Sehr bald sogar, ich fürchte!“
Julie und Doktor Retzner wechselten einen schnellen Blick. „Wo ist dieser Engländer, der uns hierhergebracht hat?“
„Er wird nicht mehr weiter mit uns fahren“, erklärte der Ungar. „Er hierbleibt, aber das...“ Er deutete auf einen großen, dürren Mann, der nur wenige Meter zwischen den anderen stand. „Das ist ab jetzt unser Führer. Er nennen sich Charlie.“
„Was?“ Doktor Retzner starrte Miklós an. „Das ist nicht dein Ernst! Und wie soll er heißen?“
„Charlie“, wiederholte der Ungar und nickte heftig mit dem Kopf. „Und das mit großem Ernst!“
„Charlie, schön.“ Der Österreicher seufzte. „Und weiter?“
„Nix weiter“, erklärte Miklós. „Er nur heißen Charlie.“
„Aha!“ Doktor Retzner verzog den Mund. „Na, von mir aus. Hauptsache, er bringt uns nach Oregon!“
„Übermorgen, wenn die Sonne aufgeht, brechen wir auf!“, hörten sie ihren neuen Treckführer nun erklären, der sie von nun an leiten sollte. Er sprach mit verzerrtem, undeutlichem Akzent, als habe er den Mund voller Kieselsteine und mit dem selbst Julie ihre Probleme hatte. „Das heißt, ihr habt morgen noch genug Zeit, euch um eure Wagen und die Zugtiere zu kümmern! Lasst die Pferde neu beschlagen, wenn es sein muss und repariert, was repariert werden muss! Wenn wir erst auf dem Weg sind, habt ihr dazu nur noch schwer Gelegenheit!“ Er holte weit mit dem Arm aus und deutete hinter sich, nach Westen. „Dort, meine lieben Freunde, dort draußen gibt es nicht mehr viel, außer Wildnis! Ein paar einzelne Städte, ein paar Ranches und Siedlungen – mehr nicht und alle liegen über viele Meilen verstreut! Also, seht zu, dass Tiere und Wagen euch durch dieses Land bringen können! Ihr seid ganz allein dafür verantwortlich! Ich kenne bloß den Weg, mehr nicht und wer bis übermorgen nicht fertig ist, den lasse ich zurück! Ich nehme niemanden mit, der nicht anständig gerüstet ist!“
Ein Murmeln und auch Schimpfen ob so viel Unverschämtheit ging durch die Menge. Die meisten sprachen mittlerweile gut genug Englisch, um das zu verstehen, was er ihnen mitgeteilt hatte.
„Übermorgen?“, fragte Julie und ein Schreck durchfuhr sie. Sie fasste Doktor Retzner am Handgelenk. „Aber...was wird aus Hugh? Er wird eine solche Anstrengung noch nicht schaffen!“
Der Österreicher seufzte tief, während sich seine Stirn in bedenkliche Falten legte. „Wir müssen den Frühling und den Sommer nutzen, um so weit als möglich vorwärts zu gelangen.“ Er überlegte kurz. „Er wird im Wagen mitfahren müssen und jemand anderer wird seinen Platz einnehmen und zu Fuß gehen...“
„Das werde ich tun!“, entschied Julie sofort. „Nikolaus ist zu klein und Mutter hält das auch nicht durch, aber, wenn ich meinen Rock anziehe, Sie wissen schon, den zum Reiten und die Stiefel dazu, dann...“
„...dann wird mich Euer Vater vor aller Augen erschießen“, vollendete Doktor Retzner voller Sarkasmus und verzog das Gesicht. „Ich halte das für keine sehr gute Idee!“
„Aber ich!“, rief Julie störrisch und raffte ihre Röcke. „Er wird es einsehen müssen, wenn er nicht Huberts Gesundheit aufs Spiel setzen will oder vielleicht sogar sein Leben und das tut er ganz bestimmt nicht! Niemals! Verlassen Sie sich nur auf mich!“
Doktor Retzner ächzte leise. „Hoffentlich“, murmelte er, nur zu sich selbst. „Hoffentlich täuschen Sie sich da nicht, Julie-Mädchen!“
Diese jedoch hörte ihn nicht mehr, denn sie war bereits losgestapft durch den Morast und die Pfützen, zurück Richtung St. Louis, um ihren Eltern und Brüdern die Nachricht zu verkünden, sofern Friedrich und Nikolaus schon zu Hause waren. Und dann würde sie in die Praxis laufen und ihre Lieblingskleidung waschen. Oh, wie freute sie sich! Raus aus diesen unpraktischen, nervtötenden Unterröcken, die nur schwer und umständlich waren und andauernd im Weg umgingen! Raus aus diesen Schnürstiefeln, die so unbequem waren, dass sie sie geradezu verteufelte! Ha, was würden ihre Eltern für Augen machen! Sie in einem knöchellangen Reitrock, der zwischen den Beinen wie Hosen getrennt war, und dazu in Cowboystiefeln – nie zuvor hatte sie erfahren, welch herrliche Freiheit solche Kleidung bedeutete. Welch entzückende Aussichten! Julie strahlte in sich hinein. Entschlossen schritt sie vorwärts. Jawohl, überraschen würde sie ihre Familie! Übermorgen früh würde sie eher aufstehen als die anderen und wenn sie dann nachkamen – voilá! Was würden sie für Augen machen! Das Risiko einer Bestrafung würde sie auf sich nehmen. Diesmal stand sie auf der vernünftigen Seite, auf der des Siegers und sie würde gewinnen! Dieses Mal würde sie nicht dulden, dass ihr Wille gebrochen wurde, diesmal nicht!
Schon in aller Früh am nächsten Morgen, kaum, dass es hell genug war, um die Hand vor Augen erkennen zu können, erklangen die ersten Hammerschläge von der Scheune her. So gut wie alle Pferde benötigten neue Hufeisen und Miklós und ein weiterer Ungar hatten alle Hände voll zu tun, wenn sie bis zum Abend damit fertig werden wollten. Die beiden waren die einzigen, die dieses Handwerk gut genug beherrschten, um die Pferde für die lange, unvorstellbar harte Reise vorzubereiten. Auch viele der restlichen Auswanderer, die bisher nicht zu ihnen gehört hatten, machten sich daran, ihre Kutschen auf Vordermann zu bringen und ihre Zelte abzubrechen, in denen sie die vergangenen Wochen zugebracht hatten. Sie wollten sich ihrem Treck anschließen und nicht länger in St. Louis herumsitzen und auf den nächsten warten. Vor allem die Leinenstoffe der Planwagen hatten mit all der Nässe an manchen Stellen Risse und Löcher bekommen, die geflickt werden mussten. Die Räder brauchten Schmiere und die Geschirre der Pferde mussten gereinigt und gefettet werden.
Doktor Retzner packte seine Instrumente zusammen und verabschiedete sich von seinem Kollegen Stankovski, der ihn nur äußerst ungern ziehen ließ. Außerdem steckte er Julies frisch gewaschenen Reitrock und die glänzend geschrubbten Stiefel ein, um sie ihr zu bringen, auch, wenn er es noch immer für keine sehr glückliche Idee hielt. Danach würden Friedrich und Nikolaus ihn bei den Mulis und dem Wagen brauchen und somit wäre der restliche Tag damit zugebracht, ihre Weiterreise vorzubereiten.
Die Stunden flogen dahin, bald wurde es Mittag, dann Abend. Ein kalter Wind kam auf und trieb dunkle Wolken über sie hinweg, ehe die Dämmerung einsetzte und auch die letzten Verbliebenen ihre Arbeiten einstellen mussten. Ein letztes Mal half Nikolaus beim Misten der Ständer, was ihn ein wenig traurig werden ließ. Auch Miklós schwieg an diesem Abend und erzählte keine seiner Geschichten.
Friedrich und Hardy Retzner kontrollierten noch einmal die Waagscheite und Deichsel ihres Wagens, ehe sie sich auf den Weg zum Pfarrhaus und zum Abendessen machten. Diese Nacht würde der Österreicher bei ihnen in der Küche schlafen, damit er keinesfalls den Aufbruch verpasste. Die beiden Männer schlenderten nebeneinander her, jeder in seine Gedanken versunken. Hier und dort brannte eine Lampe vor einem der Häuser, ansonsten herrschte eine geradezu andächtige Stille, als wüsste jeder in der Stadt, dass es nun erstmal wieder ruhiger werden würde, ohne die Neuankömmlinge vor den ersten Häusern. Allerdings würde der Zustand nicht lange andauern und bald würden die nächsten Trecks aus dem Osten die letzte Station vor dem unendlich erscheinenden, ungezähmten Westen der Vereinigten Staaten erreichen und alles würde wieder von vorn beginnen: Einige wenige blieben, doch die meisten zog es weiter, in der Hoffnung, auf bessere Bedingungen oder Bodenschätze, auf ein Stück gutes Land, eine eigene Ranch.
„Heute hat dieser Charlie schon die erste Rate, wie er es nennt, kassiert“, bemerkte Friedrich auf einmal und verschränkte die Hände auf dem Rücken.
„Die Rate?“, fragte Doktor Retzner ahnungslos. „Wofür eine Rate?“
„Na, seinen Lohn dafür, dass er uns weiter nach Oregon bringt!“, erwiderte Friedrich ungeduldig und schüttelte kurz den Kopf über so viel Begriffsstutzigkeit. „Für den Weg, der uns noch bevorsteht, damit er auf uns achtet, damit uns nichts zustößt! Allmählich frage ich mich, ob wir diesen Trail nicht auch alleine gefunden hätten!“
„Ah, geh!“ Der Österreicher machte ein ungläubiges Gesicht. „Das kann er doch nicht machen!“
„Natürlich kann er!“, entgegnete Friedrich. „Oder denken Sie, er bringt uns zu seinem Vergnügen über die Rocky Mountains? Nein, nein, schön wäre es gewesen!“
„Wieviel wollte er denn?“
„Fünf Dollar pro Familie!“ schnaubte Friedrich entrüstet. „Stellen Sie sich vor, fünf Dollar! Wenn Hubert nicht das Geld bei der Eisenbahn verdient hätte...gar nicht auszudenken!“
„Da werden wohl einige Siedler auf halber Strecke liegenbleiben oder sie stehen bei diesem Herrn in der Kreide“, kommentierte Doktor Retzner trocken.
„Ich hab’ einem jungen Ehepaar aus Norwegen ebenfalls die Rate bezahlt“, erzählte Friedrich bedacht. „Sie hätten sonst wohl ihren Wagen verkaufen und damit entweder hier zurückbleiben oder zu Fuß gehen müssen.“
Hardy Retzner räusperte sich. „Das würde ich wohl Ihrem Beruf zuschreiben.“
„Wie darf ich das verstehen?“
„Nun, ich hätte es ihnen nur gegen einen schriftlichen Vertrag geliehen!“
Friedrich stieß ein verächtliches „Pah!“ aus. „Das ist typisch Mediziner! Kein Vertrauen in die Menschheit und die Ehrlichkeit der einfachen Leute!“
Doktor Retzner wollte protestieren, doch er kam nicht dazu, weil Friedrich ihn ruckartig am Oberarm fasste. „Sagen Sie mir die Wahrheit, Hardy, die ganze Wahrheit. Ich werde sie Luise nicht verraten, sie würde sie vermutlich nicht verkraften, aber ich will es wissen, ich muss es wissen!“ Die beiden Männer schauten sich fest in die Augen. Der Österreicher ahnte, welche Frage nun folgen würde und er musste schluckten.
„Sagen Sie mir, ob Hubert es schaffen kann. Ganz ehrlich und ohne Schönmalerei.“
Ein schwerer, verzweifelter Seufzer war die Antwort. „Ich weiß es nicht, Pastor, ich weiß es wirklich nicht! Hugh, ich meine, Hubert ist stark und jung und wenn er auf dem Wagen fährt, hat er durchaus eine Chance! Vor allem, weil er so wieder zu Kräften kommen kann.“
„Dann wird Nikolaus die langen Fußmärsche übernehmen müssen“, murmelte Friedrich gedankenverloren.
„Das dürfen Sie nicht erlauben!“, widersprach Doktor Retzner ernst. „Der Junge ist viel zu zart! Er würde das nicht durchstehen!“
„Aber...“
„Ihre Tochter, Pastor, sie kann das. Wenn jemand es durchhalten kann, dann Juliane!“
„Das Mädchen?“ Friedrichs Augen weiteten sich. Er glaubte, nicht richtig gehört zu haben.
„Ja, Pastor, sie schafft das! Sie hat einen Dickkopf und ist zäh. Das konnte ich in den vergangenen Wochen häufig beobachten. Sie hält was aus! Geben Sie ihr die Möglichkeit, sich zu beweisen!“
Zweifeld runzelte Friedrich die Stirn. „Wir haben noch bis morgen Zeit! Bis dahin werde ich mir das durch den Kopf gehen lassen, aber jetzt lassen Sie uns zum Abendessen gehen. Meine Frau wartet bestimmt schon.“
Das Wetter schien kein Einsehen mit ihnen haben zu wollen, denn es regnete in Strömen, als am anderen Morgen die aufsteigende Helligkeit im Osten die Nacht vertrieb. Das Trommeln auf dem Dach des Pfarrhauses weckte Friedrich und das erste, was er wahrnahm, war der Geruch von frischgebackenem Brot, der durch den Flur und die Zimmer zog. Meine Güte! Wie lange musste seine Frau bereits wach sein, wenn sie schon frisches Brot gebacken hatte?
Langsam richtete er sich auf. Er zog sich an und warf einen Blick durch die angelehnte Tür des angrenzenden Schlafzimmers. Hubert und Nikolaus schliefen noch, er würde sie später wecken. Juliane war nicht hier und auch ihre Wolldecke schon fort. Vermutlich hatte sie bereits begonnen, den Wagen zu beladen. Friedrich warf einen Blick die Treppe hinab, in den kleinen Wohnraum des Pfarrhauses. Dort stand Luise am Herd und kochte ein paar Eier. Hardy Retzner war ebenfalls nicht zu sehen.
Nun, dachte Friedrich, kein Wunder. Er wird die Nacht auf dem Fußboden nicht sehr angenehm verbracht haben. Wahrscheinlich hilft er Juliane.
Die Vorstellung ließ ihn schmunzeln. Wenn sich da nicht etwas anbahnte zwischen den beiden, dann fraß er einen Besen! Es war doch eindeutig, dass die zwei sich gern hatten und sobald sie in Oregon angelangt sein würden, musste er sich Doktor Retzner einmal zur Brust nehmen und ihm dringend ans Herz legen, endlich um die Hand seiner Tochter anzuhalten!
Keine vierzig Minuten später hatten auch seine beiden Söhne gefrühstückt, als es auf einmal an der Tür klopfte und ein junger Mann den Kopf zur Tür herein streckte.
„Der Doktor schickt mich! Alle sollen sofort ihre Sachen packen und zur Scheune hinüberkommen! In einer Stunde geht es los!“
„Du lieber Himmel!“, entfuhr es Luise und sie sprang hastig auf. „So bald schon?“
„Ich habe noch überhaupt nichts zusammengepackt!“, erklärte Hubert und erhob sich ebenfalls.
„Ich auch nicht!“, rief Nikolaus und beeilte sich, ihm zu folgen.
„Dann trödelt nicht länger herum!“, bat Friedrich und hob die Arme. „Wir müssen zusehen, dass wir rechtzeitig zu den anderen stoßen!“
Auf dem Platz vor dem Stall hatten sich die Wagen und Gespanne aufgereiht, fertig für die Abreise. Stimmen schrien, riefen, einige lachten, andere schimpften. Überall herrschte Hektik und Aufregung. Irgendwo dazwischen, etwas an den Rand gedrängt, standen Julie und Doktor Retzner bei ihrem Wagen und warteten.
„Haben Sie Ihre Sachen alle schon eingepackt?“, wollte er jetzt von ihr wissen.
Julie nickte. „Ja, habe ich gleich heute Morgen verstaut, bevor irgendjemand wach war.“ Sie blickte zufrieden an sich hinab. Sie trug ihren Reitrock mit den Stiefeln und dazu eine Bluse und ein Regencape darüber. Zwar ließen die Schauer ein wenig nach, je länger der Morgen andauerte, doch das Wetter zeigte noch immer keine Gnade.
„Hoffentlich bleibt es nicht den ganzen Tag so scheußlich!“ Doktor Retzner hob den Blick gen Himmel und bezweifelte, dass seine Bitte erhört werden würde. „Oh!“, machte er dann, denn seine Augen hatten vier Personen entdeckt, die zielstrebig auf sie zueilten. „Jetzt gibt’s gleich ein großes Donnerwetter!“
Julie straffte die Schultern und machte ein störrisches Gesicht. Sie war offensichtlich bereit, es auf einen Kampf mit ihren Eltern ankommen zu lassen. Hardy Retzner atmete tief durch und lehnte sich demonstrativ unbeteiligt an Hans, eines der beiden Maultiere, der gemeinsam mit seiner Kumpanin Otto die Hektik um sich herum mit stoischer Ruhe ignorierte.
„Na, alles bereit?“, rief Friedrich, noch bevor er sie erreicht hatte. „Sind wir startklar?“
„Sind wir!“, versicherte der Österreicher und kratzte sich ahnungsvoll den Hals.
„Tut mir leid, dass wir erst jetzt kommen“, entschuldigte Friedrich sich und winkte seiner Familie, damit sie die restlichen Gepäckstücke nach hinten brachten, um sie im Wagen zu verstauen. Es war nicht viel: Ihre Koffer, die sie bereits aus Bremerhaven mitgebracht hatten, das Zinngeschirr, die Töpfe und Pfannen und die restlichen Decken. Mehr besaßen sie nicht. „Wir hatten nicht damit gerechnet, dass der Aufbruch so plötzlich erfolgt. Man hätte einem wenigstens gestern Abend Bescheid geben können, dass wir in aller Herrgottsfrüh schon die Stadt verlassen.“
‚Man’ wäre ihr Treckführer gewesen, der sich jedoch seit der Eintreibung seines Vorschusses nicht mehr um sie gekümmert hatte.
„Ich glaube, es geht los!“, schrie auf einmal jemand neben ihnen und kletterte auf seine Kutsche. Tatsächlich – Charlie ohne Nachnamen ritt auf einem großen, schwarzen Hengst zwischen ihnen hindurch. Er verkündete laut brüllend, dass sich alle in anständiger Reihenfolge hinter ihm einordnen sollten, sobald er das Zeichen zum Aufbruch geben würde.
„Nun, gut“, entschied Friedrich. „Hubert, du übernimmst das Gespann! Luise, Nikolaus, rauf mit euch!“
Er half seiner Frau auf den hohen Kutschbock hinauf, ehe sein jüngster Sohn flink hinterher kletterte. Hugh musste sich von Doktor Retzner stützen lassen, um auf der anderen Seite hinaufzukommen. Er war noch zu schwach, als dass er es alleine hätte schaffen können.
Friedrich beobachtete, wie die Wagen vor ihnen sich in Bewegung setzten; einer reihte sich hinter den nächsten. Eine eigenartige Stimmung überkam ihn. Hätte er geahnt, dass vergangenen Sonntag sein letzter Gottesdienst in der Kirche gewesen war – er hätte sich gebührend von den Menschen hier verabschiedet, die ihm ans Herz gewachsen waren. Komisch, dachte er, wie schnell sich der Mensch doch an etwas gewöhnt.
Die beiden Maultiere zogen ihren Wagen mit einem Ruck an und das riss Friedrich aus seinen Gedanken. Er drehte sich herum, um zu sehen, ob Doktor Retzner und Julie ihm folgten. Sie schienen auf der anderen Seite des Wagens zu sein, denn er hörte seine Tochter mit dem Österreicher auf Deutsch reden.
Zunächst mussten sie ein Stück den Weg zurück, den sie gekommen waren, um dann auf die Hauptstraße von St. Louis einzubiegen, die sie weiter nach Westen bringen würde. Das Lager blieb hinter ihnen zurück, mitsamt all den restlichen Menschen, die voller Hoffnung waren, irgendwo in diesem Land eine bessere Zukunft zu finden. Sie würden auch nicht mehr lange hier bleiben. Einige waren schon vor ihnen aufgebrochen, immer weiter, den Oregon Trail entlang, voller Zuversicht und überschäumendem Herzen, andere warteten auf einen anderen Treck oder wollten in einer anderen Himmelsrichtung ihr Glück versuchen.
„Jetzt geht’s noch ein letztes Mal durch die Stadt“, sagte Hardy Retzner auf Deutsch mit breitem, österreichischen Akzent. „Und dann heißt es endgültig ‚Lebewohl!‘“
„Sie werden doch nicht sentimental werden?“, fragte Friedrich streng, doch es gelang ihm nicht recht, seine eigenen Gefühle unter Kontrolle zu halten. Auch er verspürte einen Abschiedsschmerz im Herzen. Wenn er ehrlich war, hätte er nichts dagegen einzuwenden gehabt, hierzubleiben, doch ihr Ziel hieß Westküste. Nur deswegen war er in dieses fremde Land gekommen, deshalb hatte er Deutschland den Rücken gekehrt.
Sie gingen nun hinter dem Wagen und seine Augen wanderten hinüber zu seiner Tochter, die eifrig voranstapfte. Er sah sie zum ersten Mal an diesem Tag – er stutzte.
„Was...?“ Mit drei schnellen Schritten stand er bei ihr und packte sie unsanft am Arm. „Was, in aller Welt, trägst du für fürchterliche Sachen?“, zischte er wütend, damit nur sie ihn verstehen konnte. „Woher hast du dieses...dieses sündige Zeug?!“
Selbstbewusst warf Julie den Kopf zurück. Nur sie selbst wusste, wieviel Mut ihre Worte sie kosteten: „Ich trage praktische Kleidung zum Laufen, Vater!“
„Die anderen Frauen, die keinen Platz mehr auf einem Wagen gefunden haben, können sich auch anständig anziehen!“ Ein ungeheurer Zorn ergriff von Friedrich Besitz. Er schüttelte seine Tochter heftig, ohne zu merken, dass die Gespanne an ihnen vorbeizogen und sie zurückblieben. „Sofort wirst du in den Wagen klettern und dich umziehen!“
„Nein!“, rief Julie trotzig. Sie fühlte sich tief verletzt von der Behandlung durch ihren Vater, die alle anderen nun mitbekamen. „Wenn ich diese Sachen nicht tragen darf, gehe ich keinen Schritt weiter, sondern bleibe hier! Ich kann selbst entscheiden, was ich anziehe und was nicht! Ich bin in deinen Augen immerhin erwachsen genug, dass du mich verheiraten willst!“
Friedrich starrte sie einen Augenblick fassungslos an. Noch nie hatte sie es gewagt, so mit ihm zu sprechen! Wutentbrannt und völlig außer sich hob er den Arm. „Du wirst es nicht noch einmal wagen, so mit deinem Vater zu sprechen!“
Erschrocken wollte Julie dem Schlag ausweichen, doch jemand anderer kam ihr zuvor. „Bitte, Pastor!“ Geistesgegenwärtig packte Hardy Retzner Friedrich am Handgelenk. „Das ist jetzt wirklich nicht der richtige Zeitpunkt! Wir müssen weiter!“
Die beiden Männer wechselten einen langen, herausfordernden Blick.
„Bitte, Pastor“, sagte der Österreicher noch einmal. „Wir haben keine Zeit für solche Kleinigkeiten!“
Einen Moment schien es, als würde sich Friedrichs Zorn nun gegen ihn richten, doch schließlich gab er nach. „Sie haben recht!“, stieß er, nur schwer beherrscht hervor. „Lass uns das heute Abend klären, wenn wir lagern. Wir sollten uns, glaube ich, wirklich beeilen!“
Längst waren fast alle anderen Wagen an ihnen vorbeigefahren und um die scharfe Linkskurve des Weges, hinter den ersten Häusern, verschwunden. Sie fingen an zu laufen, dann zu rennen, um ihren eigenen wieder einzuholen. Auf der Hauptstraße hatten sich rechts und links Neugierige versammelt, um den Abzug der Siedler zu verfolgen. Einige winkten, andere standen einfach nur da und schauten. Außer Atem erreichten Friedrich, Julie und Hardy Retzner ihrn Planwagen, wo Luise sie bereits aufgeregt empfing.
„Wo steckt ihr denn? Wir haben uns schon Sorgen gemacht! Um Gottes Willen, Juliane! Wie siehst du denn aus? Friedrich, unternimm etwas! Sie kann doch so nicht herumlaufen!“
„Später!“, rief ihr Mann und seufzte resigniert. „Nicht jetzt!“ Er rückte sich seinen breitkrempigen, schwarzen Hut zurecht und stellte auf einmal fest, dass es aufgehört hatte zu regnen.
Doktor Stankovski und seine Frau hatten sich vor dem Praxisgebäude eingefunden und winkten. Als sie Doktor Retzner erblickten, eilten sie ihm entgegen und drückten ihm einen großen, verschlossenen Korb mit Proviant in die Hände.
„Für Sie, mein Lieber!“, versicherte der alte, grauhaarige Arzt. „Möge Gott Sie beschützen auf all Ihren Wegen und mögen Sie dort ankommen, wo Sie es sich wünschen!“
„Vielen, vielen Dank!“ Der junge Österreicher hatte Mühe, seine Rührung zu verbergen. Er lächelte. „Das wäre doch nicht nötig gewesen!“
„Reden Sie nicht“, meinte Doktor Stankovski. „Schauen Sie lieber, dass Ihr Wagen nicht ohne Sie die Stadt verlässt!“
„Oh, ja, natürlich!“ Hardy Retzner reichte ihm kurz die Hand, danach der Frau und dann musste er fort, wenn er nicht wollte, dass sie sahen, wie er gegen die Tränen ankämpfte. Sie waren in den wenigen Wochen so herzlich zu ihm gewesen, hatten ihn behandelt wie ihren eigenen Sohn und das, obwohl er bis heute kein vernünftiges Wort Englisch zustandebrachte. Wie sollte er ihnen das je vergessen?
Er wandte sich um und eilte hinter den vorbeiziehenden Wagen her, deren eisenbereifte Räder tiefe Rillen in der aufgeweichten Erde der Hauptstraße hinterließen.
Der Treck rollte durch die Stadt, an den Häusern vorbei und den Menschen, die darin lebten. Hugh hielt die Zügel fest in der Hand. Es war ihm nicht recht, dass Julie anstatt seiner jetzt nebenher laufen musste, aber es half nichts. Er selbst war dazu nicht in der Lage, dazu fehlte ihm einfach noch die Kraft nach der schweren Erkrankung. Auf einmal stellte er fest, dass sie auf Höhe des einen, bestimmten Saloons angekommen waren. Eine Gruppe Mädchen stand davor und beobachtete die vorbeiziehenden Wagen. Seine brauen Augen glitten hastig über sie hinweg und fanden, wonach sie suchten. Suzie lächelte und schwenkte ein buntes Taschentuch. Vorsichtig, kaum merklich und nur für sie verständlich hob er kurz die Finger seiner linken Hand. Sie nickte ihm zu, ihre Blicke trafen sich ein letztes Mal und dann waren sie vorüber, der Saloon lag hinter ihnen. Hugh schluckte und starrte regungslos geradeaus. Er registrierte, dass seine Mutter neben ihm redete, doch er hörte ihr nicht zu. Sein Kopf schwirrte. Er hatte sie lieb gewonnen, sehr lieb sogar. Suzie, dachte er und musste lächeln. Erinnerungen an erregende, befriedigende Nächte drängten sich in seine Gedanken, doch er zwang sie zurück. Niemals würde er sie vergessen, das wusste er, aber ebenso war ihm bewusst, dass er sie vermutlich niemals wiedersehen würde. Zu weit lag Oregon entfernt und irgendwann würde er ein anderes Mädchen heiraten und dann war sie nichts mehr, außer einem schönen, prägenden Erlebnis aus seiner Vergangenheit. Sie war eine gute Lehrerin in Sachen Liebe gewesen, doch schon jetzt begann ihr Bild zu verblassen, bis sie nur noch ein nettes, verschwommenes Bild in seiner Erinnerung darstellte. Genau, wie diese Stadt, in der sie einige Wochen verbracht hatten und die nur eine Zwischenstation vor ihrem eigentlichen Ziel war, vor dem Land, ganz im Westen, das Oregon genannt wurde.