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Kapitel 3. Berührungspunkte
ОглавлениеNach und nach kommen beim Erlernen der russischen Sprache zwischen all den Vokabeln und Fallstricken der Grammatik erste persönliche Verbindungsstücke mit diesem Sprachraum zu Tage. Der Bruder meines Großvaters ist im Krieg in Russland gefallen – Kajetan – dies war die erste Wortspur nach Russland, eine, die sich dort verloren hat. Der Mann, dessen Liebes, die Marie vom Sumperhof, nach dem Krieg über Jahrzehnte allein auf der Hausbank vor dem Hof ausruhte, bis sie, über siebzig Jahre alt, doch noch einen anderen geheiratet hat. Die Bank war ockergelb und hat sich tief in meine Kindheitserinnerungen eingebrannt. Wenn ich zum Kramerladen im Ort einkaufen ging, saß sie dort ruhig und grüßte bescheiden – die Marie vom Sumperhof. Über sie wurde im Dorf wenig geredet. Ich habe immer von einer romantischen Liebe zwischen ihr und meinem gefallenen Großonkel geträumt. Jetzt ist Marie tot, der Hof verkauft und ein Immobilienmakler baut ihn um, damit er diese Atmosphäre der Bauernstube in sein Leben lassen kann. Kajetan hätte dort eingeheiratet, diese Bank vor dem Haus wäre sein Platz gewesen, abends, gemeinsam mit Marie. Dort hätte er seine Kinder beim Spielen beobachtet und seine Enkel auf dem Schoß gewiegt. Hoppe, hoppe Reiter, wenn er fällt, dann schreit er.
Mein Großonkel hat mir gefehlt. Abends hätte er sich mit meinem Großvater auf die Bank gesetzt. Sie hätten sich über das Leben im Dorf und die Ernte unterhalten und ich hätte ein paar Gänseblümchen zu einem Kranz geflochten, sie seiner Enkelin aufs Haar gelegt und mit ihr Prinzessin gespielt. Alles blieb im Konjunktiv. Sein Name wurde nur selten ausgesprochen. Sein Bild hing nirgends im Haus, auch nicht im Herrgottswinkel der Bauernstube. Nur in der Kirche, hinten, im Seitenbereich war ein Sterbebild auf der Tafel der Kriegsveteranen, das mir mein Großvater nach dem Kirchgang gezeigt hat. Er hat dort oft nach dem Gottesdienst still gebetet und nichts weiter erzählt. Dieser Bruder meines geliebten Opas vom Gruberhof soll nicht ganz vergessen werden, so meine kindliche Reaktion. Mein Sohn heißt wie er: Kajetan.
Krieg wurde durch Kajetan und seine Marie für mich das Ende der Liebe. Und Trauer, die kaum enden kann. Ein Brief kommt in die Häuser und vernichtet alle Hoffnung. Und wenn er nicht kommt, zerstört sich woanders alle Hoffnung, weil sein Kampf im fremden Land weiter wütet. Bis heute ist das so in mir verankert - Krieg - ein Vermissen des Menschseins. Kein Entrinnen aus der Grausamkeit.
Mich hat diese Frage immer schon verfolgt. Was war der Krieg für meine Großväter und Großonkel? Einer war bei der Soldatenpolizei, aber viel geredet wurde nie. Ich habe diesen blinden Fleck als Last empfunden. Ich kann nicht gut verdrängen, ich leide stattdessen still vor mich hin. Fragen stellen endete im Nichts, es wurde abgewehrt. Aber jetzt erst frage ich nach dem, was über Kajetan in Russland zu finden ist. Ich fordere die Unterlagen von der Bundesstelle an. Ja, alles Militärische ist sehr genau dokumentiert. Soldbücher, Truppenbewegungen, Stationierungen. Hier wird akribisch gearbeitet und archiviert. Sein Menschsein ist damit nicht beschrieben. Ernüchtert lege ich alle Unterlagen zur Seite. Es ist keine Spur zu seiner Seele, nur eine Wegbeschreibung aus einer Maschine, der Kriegsmaschine, die nüchtern Wort an Wort setzt. Nichts Menschliches ist darin in Worte gefasst. Welche seiner Gedanken und Erlebnisse wurden am Leben gehalten? Seine Briefe an Marie kenne ich nicht. Er hat ihre bei sich getragen bis zum Ende. Tarassowka, dort liegt er alleine. 2.383 km, das ist die Distanz, die der Krieg geschaffen hat. Ich würde gerne ein wenig Heimaterde an sein Grab bringen, niemand hat bis jetzt sein Grab gesucht. Ich leide weiter still mit ihm.
Ein Kamerad kam nach dem Krieg auf den Hof, um diese Distanz in Worten zu beschreiben, diesen letzten Weg in Russland fassbarer zu machen und durch seinen Blick zu begleiten. Meinen Urgroßeltern und meinem Großvater in der Stube gegenüber zu sitzen, den Blick ein wenig gesenkt, den Hut in der Hand haltend und dann diese Worte aneinanderzureihen, die sagen, dass er weit gegangen und dann am Ende gefallen ist. So ist es mir erzählt worden. An diesem Tisch, an dem ich Jahre später Woche für Woche duftende Dampfnudeln oder Knödel stehen sah.
In meiner Kindheit wurde oft vom Heimkommen des Großvaters erzählt, von der Erleichterung, als er davongelaufen ist und es tatsächlich bis (fast) nach Hause geschafft hat. Er selber blieb dabei stumm und hat nur über die Freude seiner Frau gestrahlt, wenn sie sich erinnerte, wie sie sich über die Salzach hinweg zugewinkt haben, nachdem er nur 5 km vor dem Hof von Amerikanern kurz vor Kriegsende festgenommen worden war. Von diesem Tag an war sie sich endlich im Innersten sicher, dass er bald gesund heimkommt. Ein einziges Mal, ich war gerade mal acht, habe ich meinen Großvater gefragt: erzähl mir vom Krieg. Nur zwei Sätze kamen zurück und die sind sein Kriegserbe an mich.
Der Krieg ist keine Geschichte, die man einfach so erzählt. Wer sie gerne erzählt, der war nicht im Krieg oder hat ihn nicht richtig verstanden.
Mehr war nicht zu sagen, der Rest blieb im Nebel verborgen. Er wollte nicht wie so manch anderer Krieg wie eine Reise beschreiben und ein Abenteuer, nein, er hat auch meinem Vater nur erzählt, dass dort Menschen sind wie er. Bauern, die Sorge haben, wie sie satt werden, die so arm sind, dass man sich schämt, von ihnen etwas zu fordern. Und dass ein Kamerad Schmuck aus einem Haus gestohlen hat, ein Goldschmied aus Niederbayern. Danach hatte Kameradschaft für ihn einen metallenen Beigeschmack auf der Zunge.
Anders war es zu Weihnachten und Ostern, da kam der Großvater vom Bergbauernhof. Er hat Hitlers Leistungen beim Kaffee trinken gelobt, die gute Arbeit seiner Politik gegen die Arbeitslosigkeit und all diese Geschichten. Deutlich war zu hören, wie er Russen und Juden abwertete. Keiner hat widersprochen. Ich habe mich dabei verkrampft. Wie kann er, mein lieber Bergeropa, in den Himmel kommen? Das war die Angst meines Kinderherzens. Ohne es zu merken, habe ich all seine Schuld auf mich übertragen. Mein Herz wurde schwerer und schwerer von Familienfeier zu Familienfeier. Die Kriegslast und noch mehr, dass in der Familie nicht laut gegen Rassismus eingetreten wurde, das hat mich belastet. Je mehr mein Geschichtslehrer uns Fakten zeigte, um so drückender wurde mein Gewissen. Und dennoch blieb auch ich stumm, ich habe den Mund nicht aufgemacht am Tisch.
Der Bergeropa war ein lediges Kind. Zeitlebens wagte niemand mir dies gegenüber auszusprechen. Wie belastete dieser Makel ihn und verletzte seinen Stolz. Mir scheint es heute, Hitler hat ihm diesen Vaterstolz des arischen Sohnes ersetzt. Hitlers Vaterlandsparolen haben die Lücke eines Ordnung schaffenden Vaters geschlossen.