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1.5 Kor

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Kor. Das war jetzt sein Name, hatte Korbinian beschlossen. Er würde schwarze Kleidung tragen und zu Konzerten von … äh, Dings, Orkus Orbus, gehen und Charles' Freund sein.

Sein Freund. Nicht sein … fester Freund oder so. Er durfte sich nichts anmerken lassen, bis diese unerwünschten Gefühle sich gelegt hatten. Aber sie würden Freunde sein. Allein der Gedanke jagte Schauer über seinen Rücken.

Sein Atem ging schneller, als er sich fertigmachte und die neuen Sachen anzog. Er hatte sie heute dreimal gewaschen und getrocknet, damit sie nicht ganz so neu aussahen, wie sie waren. Er hatte bemerkt, dass Charles' Klamotten abgewetzt waren. Und Nathans Stiefel hatten ausgesehen, als wäre er damit über mehrere Kontinente gelatscht.

Hinter den Kunststofffenstern war es bereits dunkel. Es würde kaum noch jemand in der kleinen Vorstadtsiedlung unterwegs sein. Er wusste, wie er fahren musste. Mit dem Bus. Wie lange ging so ein Konzert? Hoffentlich würde er noch zurückkommen. Die Busse fuhren nur bis halb eins und er hatte panische Angst, dass er draußen würde übernachten müssen. Aber … er würde hingehen, selbst, wenn er an irgendeiner windigen Bushaltestelle ausharren musste, bis früh morgens.

Er wollte Charles sehen. Er wollte mehr Musik hören. Er wollte eine Band sehen. Eigentlich wollte er am liebsten Charles in einer Band sehen. Hören, wie er das machte, diese höllische, tiefe Stimme erzeugte, die so anders klang als seine sonstige. Er wollte …

Er schluckte. Nein. Er wollte Charles küssen. Aber das ging nicht. Sie waren … seiner Meinung nach auf dem besten Weg, Freunde zu werden und das durfte er nicht zerstören. Auf keinen Fall. Nur …

Prüfend sah er sich im Spiegel an. Dem Ganzkörperspiegel im Schlafzimmer seiner Eltern. Die waren über Nacht weg, was ihm ganz recht war. So würden sie das neue Outfit nicht sehen. Ihn nicht fragen, wo er hinwollte.

Er sah verändert aus. Nicht nur die Kleidung, auch die Haltung. Etwas anderes hatte sich in seinen Blick geschlichen. Natürlich war er immer noch viel zu unmännlich. Selbst mit neunzehn hatte er ein Kindergesicht. Aber eins, in dem eine Ahnung von etwas lag. Von Abenteuer?

Obwohl, irgendwie war alles für ihn ein Abenteuer. Weil er sich vor allem fürchtete. Davor, rauszugehen, sich zu blamieren, Charles zu küssen … Er schluckte. Sah auf seinen Mund. War der irgendwie küssenswert? Eigentlich hatte er ganz hübsche Lippen, voll und geschwungen. Wie wäre es, wenn Charles … wenn der seinen lächelnden Mund auf Kors pressen würde? Dann … Ohne darüber nachzudenken, legte er zwei Finger auf seine Lippen. Stellte sich vor, das wäre Charles …

Ein Blitz zuckte durch seinen Magen. Oh Gott. Durfte er sowas überhaupt denken? Er sah sich um. Aber niemand war im Haus und in diesem ordentlichen Raum erst recht nicht. Kor biss sich auf die Lippen. Verdrängte das Kribbeln darin. Und flüchtete in sein Zimmer.

Tief einatmend setzte er sich auf sein Bett. Er hatte noch über eine halbe Stunde Zeit. Genug Zeit, um … küssen zu üben. Nur für den Fall …

Du Idiot, er hat gesagt, dass er nicht auf Männer steht, schrie eine Stimme in seinem Hinterkopf.

Ja, stimmt, dachte er. Stimmt schon. Nur … darf ich mir das nicht wenigstens vorstellen?

Also, dagegen war doch nichts einzuwenden, oder? Sein Herz schlug schneller, sobald er Bilder in seinem Kopf aufrief. Charles, wie er auf ihn gewartet hatte, auf diesem Betonklotz, hoch über allen aufragend als wäre er ihr König. Vollkommen selbstsicher, unantastbar.

Bebend stellte er sich vor, wie Charles auf ihn zukam, über den Vorhof der Uni schritt und, als er ihn erreicht hatte, nicht anhielt. Sondern ihn fest in die Arme schloss, bis Kor seinen würzigen Duft und seine Wärme spürte und … Oh, Mist. Ein verbotenes Kribbeln breitete sich in seinem Körper aus und in seiner neuen Hose wurde es eng.

»War wohl doch eine dumme Idee«, murmelte er.

Seufzend legte er sich auf sein Bett und wartete, dass die Erregung nachließ.

Er wartete lange.

Hör auf, dachte er und vermied es, das Zelt in seinem Schritt anzusehen. Das ist zu peinlich. Du kannst nicht so bleiben, was, wenn er was merkt, nachher …

Dann würde er wissen, dass Kor ihn belogen hatte. Nicht nur, dass er behauptet hatte, sich kein Date zu wünschen. Er hatte ihn auch noch angelogen, kaum, dass sie sich kennengelernt hatten. Nein, so konnte er nicht da hin.

Er vergewisserte sich dreimal, dass die Tür wirklich abgeschlossen war und dass der Rollladen absolut dicht schloss.

Mit weichen Knien krabbelte er aufs Bett. Eigentlich hatte er das schon oft getan, aber … Er hatte immer Angst gehabt, dass er dabei erwischt werden würde. Die Panik, dass seine Mutter plötzlich die Tür aufschließen würde, saß ihm immer im Nacken.

Mit zitternden Händen holte er ein Taschentuch aus dem Nachttisch und öffnete die Knöpfe der neuen Hose.

Charles, dachte er, als er hineingriff. Sich anfasste. Neue Bilder tauchten auf. Charles' Arme um seinen Körper. Der Mund, der sich auf Kors legte. Er wusste nicht, wie sich andere Lippen auf seinen anfühlen würden, aber … allein der Gedanke erregte ihn so sehr, dass eine Hitzewelle durch seinen Körper rollte. Wenn er sich ausmalte, wie das schmecken würde …

Es ging schnell. Nach nicht mal einer Minute kam er in das Taschentuch. Mit flatterndem Herzen machte er sich sauber und befahl seinem Unterleib, sich für den Rest des Abends ruhig zu verhalten. Der weigerte sich, irgendetwas zu versprechen. Kor verabschiedete sich von Cherry und schlich aus dem Zimmer.

Als er im Flur nach der grünen Outdoorjacke greifen wollte, zögerte er. Hm. Ganz rechts auf der prall gefüllten Garderobe hing die alte Motorradjacke seines Vaters. Die war schwarz und … passte besser, oder?

Halbtot vor schlechtem Gewissen zog er sie an. Und stellte mit Erstaunen fest, dass sie ihm stand. Irgendwie hatte er erwartet, darin wie ein Kind auszusehen, das sich verkleidet hatte. Aber nein, er sah aus, wie … ein Typ namens Kor, der Schwarz trug, wusste, was er tat und vermutlich Speed Metal hörte. Dabei hatte er keine Ahnung davon. Sein Lehrer hatte ihm Mainstream-Rock beigebracht. Selbst gelernt hatte er alles Mögliche, nur das nicht, und seine letzte Lieblingsband hatte Ska gespielt und sich außerdem längst aufgelöst.

Mit einem seltsamen Gefühl, halb Aufregung, halb totale Panik, drehte er sich um und verließ das Haus.

Sobald er im Bus saß, wandelte sich das Gefühl zu reiner Panik.

Was tust du hier?, schrillte eine Stimme durch seinen Kopf. Das bist doch gar nicht du! Und jeder merkt es.

Die drei Teenager ganz hinten schienen es zu merken. Sie kicherten und grölten. Außer ihm und denen war fast niemand im Bus. Nur zwei ältere Frauen und ein glatzköpfiger Typ, der vermutlich ein Nazi war. Super.

Ruhig, sagte er seinem wummernden Herzen. Die meinen gar nicht dich. Bestimmt …

Etwas knallte gegen seinen Hinterkopf. Heller Schmerz ließ ihn aufkeuchen. Eine leere Bierdose klapperte über den Boden.

»Hey, du Opfer!«, erklang eine Stimme hinter ihm. »Dreh dich um!«

Kor drehte sich nicht um. Er sank so tief in den Sitz und in die Jacke seines Vaters, wie er konnte. Sie roch nach ihrer Wohnung. Ein Geruch, der schmerzlich vertraut war und ihm hier draußen nicht half. Stur heftete er den Blick auf die Lehne vor ihm. Glanzloses Metall, ein chaotisches Muster auf den Bezügen …

»Umdrehen, umdrehen …«, grölten sie in seinem Rücken.

Kor blinzelte eine Träne weg. Angst krallte sich in seinen Bauch.

Nein, dachte er. Ich dreh mich nicht um. Und hoffentlich steigen die bald aus …

Taten sie nicht. Als endlich Kors Station kam, wartete er bis zur letzten Sekunde, mit angehaltenem Atem, und sprang raus. Die Türen schlossen sich Millimeter hinter ihm.

Mit beiden Füßen landete er in einer Pfütze. Egal. Er hörte den Bus weiterfahren.

Kor atmete aus. Die Bushaltestelle war leer. Kein Mensch weit und breit. Die Straßenlaterne spendete grelles Licht, das alles irgendwie unwirklich erscheinen ließ. Er wollte sich gerade auf den Weg machen, die Straße herunter, als er ein Geräusch vernahm.

Quietschende Reifen. Der Bus hielt. Und als er sich umdrehte, sah er die drei Jungs aussteigen. Jungs oder Männer? Auf jeden Fall waren sie kräftig und schauten böse, also drehte er sich um und rannte los.

Die orthopädischen Schuhe dröhnten über das rutschige Pflaster.

»Hinterher!«, hörte er einen von ihnen brüllen.

Nein! Kor ballte die Fäuste. Er versuchte, noch schneller zu werden, obwohl seine Lungen schon nach wenigen Metern brannten. Er vernahm Schritte hinter sich. Sah den dunklen Asphalt vor sich, die verschwommenen Schatten seiner Füße, spürte seinen Atem, der schmerzte, schmerzte, weil er so schnell rannte.

Nur drei Straßen weiter wartete Charles. Er musste es schaffen. Er musste …

Er stolperte.

Rutschte weg, jemand packte seinen Ärmel … und er wurde gegen die Wand gepresst. Seine Schulterblätter krachten schmerzhaft auf Beton. Ein grinsendes Gesicht erschien vor ihm.

»Hab dich!« Der Typ hatte trübe Augen. Irgendwie unfokussiert. Ob der was genommen hatte?

Die anderen beiden gesellten sich dazu. Kor versuchte, sich loszureißen, aber der Kerl drückte ihn an die Wand und hielt seine Arme mit einem Schraubstockgriff fest. Es war dunkel. Die Straße war leer. Weit und breit keine Hilfe, zumindest, soweit er sehen konnte …

Warum hat der Busfahrer die rausgelassen?, dachte Kor. Der muss doch gesehen haben, was sie vorhaben. So ein Feigling, so ein …

Charles wartet auf mich.

Der Gedanke war plötzlich da. Charles wartete auf ihn, ganz nah, und diese Trottel hielten ihn auf.

»W-was wollt ihr?«, stieß er hervor. Der Typ vor ihm schien einen Moment lang verblüfft. Leider nur einen Moment lang. Dann kehrte sein Grinsen zurück.

»Deine Jacke, du Spast.«

»Was? Nein!« Er konnte doch nicht die Jacke seines Vaters verlieren! Vor allem, wenn der nicht wusste, dass er sie hatte. Aber die Drei hatten kein Verständnis.

»Jacke her. Und dein Geld«, knurrte der Typ links.

Kor ballte die Hände zu Fäusten. Wieder versuchte er, sich loszureißen und hatte keine Chance. Eine flache Hand traf seine Wange. Die Drei lachten.

Eine Faust erschien und knallte gegen die Schläfe des Kerls, der Kor festhielt. Sein Griff lockerte sich und Kor war plötzlich frei. Fast wäre er zu Boden gegangen, so abrupt geschah es. Was …

Es war der Nazi aus dem Bus. Der mit der blauen Jacke. Mit einem Gesichtsausdruck als hätte er Tollwut, stürzte er sich auf die Drei. Trat dem Ersten auf das Knie, bekam einen Schlag in die Nieren, jemand riss an dem blauen Ärmel …

Es ging viel zu schnell. Kor konnte nur zusehen, wie ein Wirbelsturm aus Tritten und Schlägen vor ihm tobte. Und dieser Glatzkopf war mittendrin. Voll konzentriert, gefährlich, mit Augen, die vollkommen tot schienen.

Schon lag einer der Drei am Boden und stöhnte. Mit dem zweiten wälzte der Nazi sich über das Pflaster. Der dritte der Bande rannte auf die Prügelnden zu, die Hand hoch erhoben. Ein dunkler Stein lag zwischen seinen Fingern …

»Nein!«

Kor flog auf ihn zu, bevor er auch nur daran denken konnte, wie gefährlich das war. Der Typ in der blauen Jacke half ihm. Den konnte er doch nicht hängenlassen! Er rammte den Kerl mit dem Stein, bevor er die beiden Prügelnden erreichte. Heller Schmerz schoss durch seine Schulter. Kor stürzte.

Er kam hart auf. Selbst die Motorradjacke schützte ihn nicht vor dem Aufprall. Lichtblitze wirbelten hinter seinen Augen.

»Du verficktes Arschloch!« Der Typ, den er zu Boden gerissen hatte, sprang auf. Schwankte.

Oh nein.

Kor stützte die Hände auf den kalten Boden und krabbelte rückwärts, egal, wie erbärmlich das aussehen mochte. Er fühlte eisigen Asphalt unter seinen Fingern. Schnell! Der Typ kam auf ihn zu …

Die Faust des Kerls in der blauen Jacke erwischte den Typen genau am Kinn. Er ging zu Boden. Mit einem dumpfen Geräusch schlug er auf dem Pflaster auf und blieb liegen.

Kor starrte den Nazi an, der sich die Fingerknöchel rieb.

»B-bist du überhaupt ein Nazi?«, fragte er. Nein! Warum fragte er sowas? Wie konnte er seinen Helfer so beleidigen? Lag das am Adrenalin? An der Aufregung, die seinen Puls so laut hämmern ließ, dass ihm schwindlig wurde?

Der Kerl sah ihn an, Verwunderung im wutverzerrten Gesicht.

»Was?«, knurrte er. Dann schüttelte er den breiten Schädel. »Nein. Ich prügel mich nur gern.«

»Oh. E-entschuldigung.«

»Passt schon.«

Der Typ sah sich um. Alle Drei lagen auf dem Boden. Der, den er zuerst erwischt hatte, kam schwankend hoch. Er warf einen Blick auf den Nicht-Nazi in der blauen Jacke und haute ab. Seine Schritte verklangen hinter der Bushaltestelle.

»Äh, danke«, sagte Kor. »Danke, dass du mir geholfen hast.«

Der Nicht-Nazi nickte ihm zu. Und ging. Kor konnte es nicht glauben, als sein breiter Rücken am anderen Ende der Straße verschwand. Was war gerade geschehen?

Hm, wahrscheinlich sollte er abhauen, ehe die beiden Typen zu seinen Füßen sich aufrappelten. So schnell er konnte, lief er durch die Gassen. Die Maurerstraße entlang, links einbiegen, dann rechts in die …

Er hörte sie schon von weitem. Die dröhnende Musik. Gelächter und laute Stimmen. Als er in die enge Gasse einbog, sah er eine Menschentraube vor dem Smokes. Zigarettenrauch zog an ihm vorüber.

Das Smokes war ein schäbiges Ziegelgebäude. Charles hatte davon erzählt. Eine Bar, in der es regelmäßig Konzerte gab und außerdem günstiges Bier. Total … cool. Und so sah es auch aus, mit den grün leuchtenden Laternen vorne, den Neonlettern, von denen das »m« beständig flackerte und den schwarzgekleideten Leuten, die davor rauchten und redeten …

Charles! Kor entdeckte ihn sofort. Selbst in dieser Masse war sein blonder Kopf unverwechselbar. Er stand inmitten einer Runde und sprach gerade mit einem Mädchen mit türkisblauen Haaren. Als Kor herangehumpelt kam, blickte er auf. Ein Lächeln breitete sich auf seinen Lippen aus … und erstarb.

»Kor!«, rief er und schob sich durch die Menge. »Was ist passiert?«

»Äh …«

Scheiße. Sah man es ihm an? Kor spürte einen Kloß im Hals, der rasend schnell größer wurde.

Nein, dachte er. Nicht weinen. Nicht vor all diesen Leuten. Die sich umdrehten, ihn anschauten … Aber die Tränen drängten unaufhaltsam aus ihm heraus …

Dann war Charles da. Und schlang die Arme um ihn und alles war gut. Perfekt. Kor vergaß vollkommen, zu heulen, weil diese Umarmung besser war als alles, was er sich vorgestellt hatte. Viel besser. Der Geruch von Charles' kalter Lederjacke, die Wärme, da, wo Kors Wange seinen Hals berührte. Der feste Griff, mit dem er ihn hielt. Kor schmiegte sich hinein, war plötzlich butterweich und wollte nur noch hier bleiben … Leider löste Charles sich von ihm. Seine Hände legten sich auf Kors Schultern und sein grauer Blick drang mitten durch seine Seele.

»Was ist passiert?«, fragte Charles. Kor starrte ihn an. »Kor?«

»Äh, ja, ich bin überfallen worden. Aber es war nicht so schlimm. Ein Nicht-Nazi hat mir geholfen. Äh.«

»Ein was?« Charles sah ihn fragend an.

Kor wurde bewusst, wie viele Leute auf einmal um ihn herumstanden. Wo kamen die alle her?

»Da waren diese drei Typen, die meine Jacke und mein Geld wollten. Die sind mir aus dem Bus gefolgt. Aber das ist gutgegangen. Ein Kerl, der sich gern prügelt, hat sie verhauen.«

»Okay.« Charles wirkte verstörter als Kor sich fühlte. Ein warmes Gefühl breitete sich in ihm aus. Charles hatte sich Sorgen um ihn gemacht!

»Woher hast du gewusst, dass mir was passiert ist?«, fragte Kor.

»Mann, das sieht man dir doch an«, sagte Charles. Irgendwie schien er verärgert.

»Also mir ist nichts aufgefallen«, schnurrte jemand.

Oh, Nathan war auch da. Charles drehte sich zu ihm um. Ja, er war wütend. Warum?

»Sein Knie ist voll Dreck«, knurrte er. »Und sein Ärmel auch. Offensichtlich ist etwas passiert.«

Er sah Nathan noch böser an. Der zuckte mit den Achseln, schwieg aber. Was war los? Egal. Leider nahm Charles die Hände von Kors Schultern. Das Mädchen mit den türkisfarbenen Haaren zückte ein Taschentuch.

»Im Gesicht hast du auch was. Halt mal still.« Sie tupfte seine Wange ab. Fast wie seine Mutter, nur mit mehr Metall im Gesicht.

»Danke«, sagte Kor.

»Dafür nicht.« Sie schien zufrieden mit dem Ergebnis. »So, jetzt bist du wieder hübsch.«

Sie grinste und Kor wurde mal wieder rot.

»Danke«, murmelte er erneut.

Dann wusste er nicht, was er sagen sollte. Warum schauten ihn alle an? Wunderten die sich, was für ein Versager er war? Die …

»Versager«, grollte einer von ihnen, ein moppeliger Riese mit tätowiertem Hals. »Solche Typen sind Versager. Mich haben die auch mal erwischt, am Anfang.«

»Am … Anfang?«, fragte Kor vorsichtig.

»Als ich mich verändert habe. Als ich damit angefangen habe.« Der Riese deutete auf seinen bunten Hals. Mehrere Vögel und ein Schriftzug, den Kor nicht lesen konnte, leuchteten auf seiner Haut. »Aber das hört auf. Mach dir keine Sorgen.«

»Das? Dass sie mich ärgern, meinst du?«

»Genau. Das legt sich.«

»Äh …«

Nein, tut es nicht, dachte Kor. Tut es nie. Ich weiß das, weil sich das seit neunzehn Jahren nicht legt.

Aber Charles' Freunde waren nett, also wollte er nicht widersprechen.

»Menschen hassen Veränderung«, sagte ein Typ, der schaute, als wäre gerade sein Hund gestorben. »Die wittern, wenn einer was gefunden hat, was ihm Spaß macht. Die riechen, wenn einer ausbrechen will.«

»Tun sie das?« Kor schluckte. Oh nein. Er hatte gedacht … Hatte er sich noch mehr zum Opfer gemacht? Es hatte sich tatsächlich ein wenig wie ein Ausbruch angefühlt, heute Abend loszugehen …

»Ja, aber wie gesagt, das hört auf«, sagte Charles. Immer noch war er so nah, dass Kor seinen Duft riechen konnte. »Also mach ihm keine Angst, Dane.«

Dane zuckte mit den Schultern.

»Ich sag nur die Wahrheit. Menschen hassen Veränderung.«

»Aber sie gewöhnen sich daran«, sagte Charles. »Und man kann lernen, sich zu wehren. Kor, soll ich dir was beibringen?«

»Ja!« Kor strahlte. »Was denn?«

»American Kenpo. Ich habe das mal gemacht.« Charles grinste. »Irgendwann war ich zu faul, um weiter zum Training zu gehen, aber ich kann dir ein paar Griffe beibringen.«

»Ja, gerne.«

Irgendwie … war er schon fast über den Überfall hinweg. Komisch. Aber zu hören, dass es anderen Leuten auch so gegangen war, und dann noch Charles' Angebot, das bedeutete, dass er Zeit mit ihm verbringen wollte (Mit ihm! Kor!) wirkten wie ein Heiltrank.

Charles blieb an seiner Seite, als sie in das Smokes gingen. Er stellte ihm die anderen vor und die waren so nett, dass Kor sich richtig wohlfühlte. Selbst hier, in dem verrauchten, lauten Club mit der aus alten Bierkästen zusammengenagelten Bühne, der ihn früher bestimmt total eingeschüchtert hätte.

Ohrenbetäubende Musik drang ihnen entgegen, sobald sie die Bar betraten.

»Sind das Orkus Orbus?«, rief Kor in Charles' Ohr. Der schüttelte den Kopf und eine weiche Strähne glitt über Kors Wange.

»Ne, das ist die Vorband. Sind auch nicht schlecht.«

»Ach so.«

Der Sänger nutzte die winzige Bühne voll aus, sprang, schrie und brüllte. Seine dunklen Haare fielen ihm ins Gesicht, während er Geräusche machte, die kaum noch menschlich klangen. Es war düster, bis auf die grellbunten Scheinwerfer, die die Band anstrahlten. Der Boden unter Kors Füßen vibrierte, immer, wenn der Sänger und die Leute in der ersten Reihe hüpften.

Irgendwer drückte ihm ein Bier in die Hand … Oh, plötzlich hatten sie alle Bier und stießen lautstark an. Kor nippte vorsichtig an der eiskalten Flüssigkeit. Äh, na ja. Bitter. Egal. Denn schon stand Charles wieder neben ihm und redete auf ihn ein. Die Vorband war so laut, dass er mit dem Mund fast Kors Ohr berührte.

»Hörst du den Gitarristen?«, rief er nach einem längeren Exkurs über die Vorgeschichte der Band. »Merkst du, wie ihr Zusammenspiel funktioniert?«

Kor lauschte. Der herumspringende Sänger verwirrte ihn, also schloss er die Augen und konzentrierte sich.

Oh. Ja, er hörte den Gitarristen heraus. Und noch viel mehr. Es war fast zu viel auf einmal. Gesang, Gitarre, Bass, Drums … Aber er begann, etwas zu verstehen. Wie sie zusammengehörten und sich ergänzten. Wie sie zu viert etwas schufen, das viel mächtiger war als die Summe ihrer Teile.

»Ich habe nie mit jemandem zusammengespielt«, sagte er. Trotz der Lautstärke schien Charles ihn zu verstehen. »Ich … Das ist anders, oder? Ist das schwer?«

»Am Anfang schon, wenn man immer nur allein vor sich hergeschrammelt hat«, rief der. Kor spürte seinen Atem am Hals und ein Schauer rann durch seinen ganzen Körper. »Aber man gewöhnt sich daran. Ich kann's dir beibringen, wenn du magst.«

»Echt?« Oh Mann. Charles' graue Augen waren so nah. So nah, dass er seine von der Dunkelheit geweiteten Pupillen sehen konnte. Er registrierte das Gedränge um sie herum, doch er nahm es wie durch einen dichten Schleier wahr.

»Klar.«

Ein wölfisches Grinsen. Kor konnte kaum noch atmen. Er wünschte sich so sehr, dass Charles gerade mit ihm flirtete. Es fühlte sich an wie flirten, nur … konnte es das nicht sein. Das hatte er gestern deutlich gemacht. Also fragte Kor ihn weiter aus. Und er sprach sogar mit anderen Leuten. Mina würde begeistert sein.

Der Riese, der Marcel hieß, erklärte ihm, was der Drummer machte. Der schlecht gelaunte Dane erklärte ihm, was der Drummer falsch machte. Kor sog ihre Worte auf wie ein Schwamm.

Er sog alles auf: die Musik, die angenehme Dunkelheit, die spannungsgeladene Atmosphäre, die springenden Menschen weiter vorn und das Gedränge um ihn herum. Den roten Nebel, der rechts von ihm entstand, weil eine Gruppe Raucher unter einem bunten Scheinwerfer stand. Das war so absolut fantastisch.

Und nachdem er das halbe Bier geleert hatte (sehr langsam, denn er hatte Angst, betrunken zu werden), fühlte er sich, als würde er hierher gehören. Da waren sogar Leute, die blasser waren als er! Mina hatte immer behauptet, das wäre unmöglich.

Dann betraten Orkus Orbus die Bühne und die waren noch viel, viel besser. Die Stimmung veränderte sich. Es wurde nicht lauter, aber … intensiver. Plötzlich tanzte der ganze Raum. Kor auch, obwohl er keine Ahnung hatte, was er tat. Aber zu springen schien ausreichend zu sein. Er spürte den Schweiß seinen Rücken herunterlaufen. Er stieß gegen die nackten Arme von dem türkishaarigen Mädchen, Sheron, von Nathan und die in einem durchgeschwitzten Langarmshirt steckenden von Charles. Charles' Arme mochte er am liebsten. Und dann …

… beendete der Sänger seinen Song, schüttelte sich Wasser aus den langen Haaren und grinste.

»Charles!«, brüllte er. »Rauf auf die Bühne mit dir!«

Was? Staunend betrachtete Kor, wie Charles sich durch die Menge drängte, begleitet von lautem Jubel. Er sprang auf die Bretter wie eine Raubkatze. Ein entspanntes Winken, und der Jubel wurde lauter.

»Angeber«, murmelte Nathan in Kors Ohr.

Aber der wollte ihn nur ärgern. Charles war kein Angeber, er war der Größte. Der absolut Größte! Der Gitarrist überreichte ihm sein Instrument. Charles streifte die schwarze Gitarre über, so lässig, als hätte er nie etwas anderes gemacht und … plötzlich waren die Schallwellen voll Magie.

Seine Technik war anders als die der beiden anderen Gitarristen, das konnte Kor hören. Das klang fast ein wenig … wie er selbst spielte. Aber das konnte doch nicht sein. Also entweder imitierte Charles ihn oder sie hatten einen ähnlichen Stil. Beide Möglichkeiten gefielen ihm. Sehr.

Mit offenem Mund stand er still, während der Saal um ihn herum tobte. Das war sein neues Lieblingslied, beschloss er. Sein neues Lieblingslied hieß Doomsday Destruction und war einfach traumhaft.

Dann erst passierte das Magischste, was den gesamten Abend über geschehen war. Charles hob den Blick von der Gitarre, schüttelte die Haare aus der Stirn, sah durch die Menge, genau auf Kor …

Und zwinkerte ihm zu.

Kors ganzer Körper gefror, nur, um sich Sekunden später in flüssige Lava zu verwandeln. Trotz des Lärms hörte er seinen Pulsschlag in den Ohren hämmern.

Oh. Mein. Gott!, dachte er, lustigerweise in Minas Stimme, wenn sie von ihrem tollen Professor sprach. Als Charles die Gitarre zurückgab und sich rückwärts in die Menge warf, fühlte Kor sich, als hätte ihn eine Flutwelle mitgerissen und gegen eine massive Felswand geschleudert.

Mit wummerndem Herzen sah er zu, wie Charles auf Händen getragen wurde und knapp vor ihm zu Boden sprang. Marcel, der Riese, klopfte Charles auf die Schulter. Eine wunderschöne Schwarzhaarige hielt ihm ein Bier hin und er prostete in die Runde.

»Sag ich doch: Angeber«, sagte Nathan. Aber es lag kaum Bosheit in seinem Gesicht.

»Warum haben sie ihn auf die Bühne geholt?«, fragte Kor. »Kennen die sich?«

»Charles kennt alle«, sagte Nathan. »Und wir waren mal in einer Band mit dem Sänger und dem Drummer. Ging auseinander, aber sie sind immer noch Freunde. Auf mich sind die komischerweise nicht so gut zu sprechen.«

Er hob sein Bierglas und prostete dem Drummer zu. Dessen Miene verfinsterte sich. Die Stöcke sausten nun viel brutaler auf die Felle nieder. Kor erinnerte sich an die Geschichte, die Charles erzählt hatte. Nathan und der Drummer … War es der hier?

Er könnte Nathan danach fragen. Ein plötzlich aufblitzender Gedanke ließ ihn erstarren. Er … könnte ihn fragen, wie es war, mit einem anderen Mann …

Aber er traute sich nicht. Allein die Vorstellung sorgte für Herzrasen. Und wenn er sowas fragen würde, würde Charles bestimmt etwas davon mitbekommen. Schließlich war Nathan sein bester Freund, und was, wenn Charles dann kapierte, dass er … äh.

»Kor!«, brüllte jemand in sein Ohr und gleich darauf legte sich ein wunderbar verschwitzter, schwarzbekleideter Arm um seine Schultern. Charles' Atem roch nach Bier und trotzdem köstlich und Haare streichelten seine Wange und …

»Das war super!« Kor lächelte. Wahrscheinlich sah er aus wie ein übereifriges Hündchen, aber das war ihm gerade egal. »Wie du … Das … Ich habe dich ja noch nie live spielen gehört. Das war super!«

Charles sah richtig glücklich aus. Erhitzt und aufgedreht. Feuchte Strähnen klebten in seiner Stirn und ließen ihn noch verwegener aussehen.

»Komm mit«, flüsterte er in Kors Ohr und der konnte sich nichts vorstellen, was er lieber getan hätte. Freudestrahlend folgte er ihm durch die Menge, rannte dem breiten Rücken hinterher. Er wäre ihm überallhin gefolgt.

Kurz vor dem Ausgang stand eine Theke und dahinter hockte der Typ, der Kors Hand gestempelt hatte. Charles nickte ihm zu. Dann marschierte er an ihm vorbei und verschwand hinter einem schwarzen Samtvorhang. Kor grüßte den Mann schüchtern, der unbeeindruckt ins Leere starrte, und schob den schweren Stoff zur Seite.

Ein chaotischer kleiner Raum erwartete ihn, notdürftig erhellt von einer nackten Glühbirne. Da standen ein Tisch und eine Holzbank, an der eine Gitarre lehnte, daneben ein Kasten Bier und … nicht viel mehr. Die Geräusche des Konzerts drangen gedämpft durch Wände und Vorhang. Die Luft roch nach Staub. Sie waren ganz alleine.

»Wo sind wir?«, flüsterte Kor.

»Backstage.« Charles lachte und breitete die Arme aus. »Magisch, was?«

Kor kicherte. »Und was machen wir hier?«

»Wir trinken feinsten Whisky.« Charles wühlte hinter dem Vorhang herum. »Pete hat mir gerade verraten, wo er das gute Zeug versteckt hat.«

Eine Flasche erschien vor Kors Nase. Eine durchsichtige Flasche mit einem weißen Büttenpapieretikett.

»Glenladdich?«, las er ab. »Der ist gut?«

»Fünfzig Euro die Pulle. Pete hat sie beim letzten Gig als Bezahlung bekommen.«

Charles schraubte den Deckel ab. Er schnüffelte am Flaschenhals und nickte.

»Ja, riecht korrekt. Hier.«

Kor nahm die Flasche entgegen. Er warf Charles einen zögernden Blick zu. Aber dann straffte er sich und setzte die Öffnung an die Lippen. Er trank.

Das Zeug verbrannte seine Speiseröhre und verätzte seine Nasenlöcher. Die eine Hälfte schluckte er herunter, die andere hustete er aus. Whisky sprühte auf Charles' Shirt. Oh, Mist.

»Ich …«

Ein weiterer Hustenanfall verhinderte, dass er weitersprechen konnte. Schließlich wischte er sich mit dem nackten Arm den Mund ab und sah aus tränenden Augen zu Charles hoch. Der schaute besorgt.

»Oh. War das dein erster Whisky?«, fragte er.

Kor schaffte es, zu nicken. Haarsträhnen hatten sich aus seinem Zopf gelöst und versperrten ihm die Sicht.

»Ich trinke sonst nie«, gestand er. »Gar nichts.«

Komisch, vor Charles war er so ehrlich. Meistens.

»Oh. Sorry.« Ein schiefes Grinsen. »Und dann verabreiche ich dir gleich das ganz harte Zeug.«

»Nicht schlimm …«

Charles nahm ihm die Flasche ab und Kor hustete noch ein wenig. Als es endlich vorbei war, wischte er sich über den Mund und merkte, wie nah sie sich waren. Charles stand so eng bei ihm, dass seine Wärme bis zu ihm strahlte. Sehr nah. Sollte er zurückweichen? Aber er wollte nicht.

»Hey, habe ich nicht noch eine Frage frei?« Charles legte den Kopf schief. »Von gestern?«

Kor zuckte zusammen.

»Oh. Ja. Was … willst du denn wissen?«

Er konnte es sich beim besten Willen nicht vorstellen. Bitte nicht: Bist du noch Jungfrau?, dachte er. Oder: Bist du in mich verliebt, oder …

»Warum spielst du?«

Der Blick, mit dem Charles ihn betrachtete, war ernst. Kein Spott, kein Lächeln. Kor starrte ihn mit offenem Mund an.

»Äh …« Ach, egal. Er sagte das Erste, was ihm einfiel. »Weil es … das Einzige ist, was Sinn macht. Ich … ich weiß, ich seh nicht so aus, als … Aber wenn ich spiele ist alles einen Moment lang … ruhig. Und geordnet … nein, nicht geordnet, aber so, dass ich es verstehe, weißt du?«

»Ja.«

Charles nickte. Immer noch hatte er diesen intensiven Blick, der Kor fast verbrannte. Aber er wollte nicht wegschauen. Konnte es nicht. Das Dröhnen der weit entfernten Musik vermischte sich mit dem Hämmern seines Herzens.

»Du … wir …« Kor räusperte sich. »Wir haben einen ähnlichen Stil, oder? Oder hast du mich … nachgemacht?«

Wie unverschämt, dachte er. Hoffentlich ist er nicht sauer.

Aber Charles kam noch ein wenig näher. Oh.

»Beides.« Ein schwaches Lächeln kräuselte seine Mundwinkel. »Ich mag, wie du spielst.«

»Da-danke.« Kor konnte die Worte kaum herausbringen. Er spürte Charles' Wärme, roch dessen köstlich salzigen Geruch, hörte seinen eigenen Puls im Ohr, überdeutlich. »Willst du wirklich mit mir zusammenspielen? Ich meine … willst du mir das beibringen?«

Ein Nicken. Stumm. Warum sagte Charles nichts? Warum sah er ihn so an, so, als ob er … irgendwie total interessant wäre?

Kor wollte gerade etwas sagen, weil er es nicht mehr aushielt, als Charles eine kräftige Hand hob und ihm die Haarsträhnen aus dem Gesicht strich. Raue Fingerkuppen zogen eine kribblige Spur von Kors Wange zum Ohr, und er vergaß, zu atmen. Graue Augen blickten ihn an, als wollten sie ihn hypnotisieren. Charles öffnete den Mund und erst dachte Kor, er wollte etwas sagen, aber dann … kam er immer näher …

Was?

Wollte Charles ihn …

Unwillkürlich zuckte Kor zusammen. Ein Ruck ging durch seinen ganzen Körper und Charles schreckte zurück.

Lautstark verliebt

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