Читать книгу Verdammt magisch - Regina Mars - Страница 10
5. Zwei Abweichungen
ОглавлениеLauchi war ein Motor. Und Norman nicht. Wie konnte das sein? Fassungslos starrte Norman auf den Schwächling. Das Netz verschwand und der Kleine stöhnte. Die Katalysatorin half ihm auf die Beine und geleitete ihn zu den anderen Motoren, die ihn anglotzten, als hätte sich ein Stück Weichkäse in ihre Reihen verirrt. Ungefähr so nützlich wie Käse würde Lauchi auch in einer Kampfsituation sein. Was zum Hades?
Oft erkannte man schon vor der Erweckung, wer Motor und wer Katalysator sein würde. Gebaut wie ein Ochse und mutig wie ein Held? Motor. Gebaut wie ein Rehkitz und vorsichtig wie ein Mäuschen? Katalysator. Das war die natürliche Ordnung der Dinge.
Klar gab es Leute, bei denen man nicht genau sagen konnte, wo sie landen würden. Leute, die irgendwo dazwischen waren. Dünn, aber stark. Breit, aber sanft. Oder klein, aber angriffsbereit wie ein tollwütiges Wiesel. Norman hatte eine ungewöhnliche Begabung, trotzdem zu erkennen, wo sie hingehörten. Das bewies der Münzenberg in seiner Hosentasche.
Nur …
Nur hätte er das Haus seiner Mutter darauf verwettet, dass Lauchi ein Katalysator war. Das Haus seiner Mutter und all ihre Mädchen und den geheimen Weinvorrat im Keller dazu. Er konnte gar nichts anderes sein. Schmächtig, ängstlich und schwach. Selbst für einen Katalysator wäre Lauchi ein erbärmliches Exemplar gewesen.
Warum war der ein Motor? Und Norman nicht?
Ein Kloß steckte in seiner Kehle fest und er wusste nicht, ob er kotzen oder heulen wollte vor Wut. Das war nicht fair! Das war nicht … nicht richtig. Er hatte sein Leben lang davon geträumt und nun bekam Lauchi das, was ihm zustand? Und schaute noch, als würde er gleich losflennen, obwohl ihm das Beste passiert war, was einem überhaupt passieren konnte?
Norman nahm den Rest der Zeremonie wahr, als würde er sie von weit, weit weg beobachten. Die langweilige Abschlussrede. Die Abschlussshow mit zehn Motoren und zehn Katalysatoren, koordiniert wie ein Ballett und doch nichts gegen die Show von Gunnar.
Gunnar. Er traute sich kaum, ihn anzusehen. Irgendwann riskierte er einen Blick, ganz schnell, aus dem Augenwinkel. Der Magier der tausend Klingen lungerte in einem Polstersessel herum und betrachtete das Spektakel. Immerhin lachte er nicht mehr über Norman.
Als Norman an Gunnars Gelächter dachte, stürzte sein Magen wieder ab. Mist. Er würde … Er würde nie neben Gunnar auf der Stadtmauer stehen und Løbago vor Eismonstern retten. Stattdessen würde er irgendwo in der hinteren Reihe rumhängen und Magie aus der Luft abzapfen. Er würde ein Kata... Nein, der Gedanke war so furchtbar, dass er ihn nicht zu Ende denken konnte.
Irgendwann durften sie endlich die Bühne verlassen und Norman war von den amüsierten Blicken aus dem Publikum erlöst. Die hatten an ihm geklebt wie Hundescheiße an einer Schuhsohle. Warum auch immer. Vermutlich hatten sie darauf gewartet, dass er noch eine Szene machte und noch einmal mit Windböen vermöppt wurde.
Er und die anderen Frischlinge betraten die gewölbte Eingangshalle des Arkanen Instituts. Über ihren Köpfen vereinigten sich Goldstreben zu einer riesigen Kuppel, durch die das warme Licht der Nachmittagssonne drang. Da oben waren die größten magischen Kämpfe des letzten Jahrhunderts in buntem Glas dargestellt. Norman sah farbige Lichtflecken auf dem Marmorboden. Er wollte nicht hochschauen. Er würde nie da oben hängen, also was sollte es bringen?
Nach der edlen Halle ging es in einen breiten Flur. Dann eine mit flauschigem Teppich ausgelegte Treppe hinauf. Sie watschelten der komischen Alten weiter hinterher, als wäre sie ihre Entenmutter. Die Flure wurden enger, die Decken niedriger und die Treppen knarrender. Als sie schließlich bei den Schlafsälen unter dem Dach ankamen, war der Flur so schäbig wie der in Normans altem Haus in Wørringen. Super. Blätternde, blassgrüne Tapeten, splittrige Bodendielen und dazwischen Luft, die nach Moder und süßlich-faulem Holz roch.
Die Alte teilte sie auf die Zimmer auf, scheinbar nach Gefühl. Sie hatte keinen Zimmerplan oder so in den Händen. Als ihr Blick auf Norman fiel, ging ein fröhliches Lächeln über ihr rundes Gesicht.
»Mein bockiges Schäfchen!«, rief sie und Norman hörte Kichern hinter sich. »Du bekommst ein ganz besonderes Zimmer. Hinten rechts, die Nummer 926. Da wirst du dich richtig wohlfühlen.«
Norman nickte matt und schlurfte vorwärts. Jemand machte »Määäh« und er hörte mehr Kichern. Klang, als wäre Brenna dabei.
Zimmer Nummer 926 war ein winziger Verschlag mit einem Mini-Fenster, einem schrägen Dach und zwei klapprigen Betten, die den Raum beinahe ausfüllten. Zwischen ihnen war gerade so viel Platz, dass er sich umdrehen konnte. Er schloss die Tür und sein eigenes Gesicht gaffte ihm entgegen. Oh. Toll. Ein Spiegel.
Norman betrachtete sich lange. Runde Schultern, kräftige Arme und ein Gesicht, das fast so breit wie hoch war. Niemand hätte es hübsch genannt, nicht einmal seine Mutter. Doch es war eindeutig ein Motorengesicht. Was an ihm sagte »Katalysator«? Nichts, absolut nichts …
Er wurde aus seinen Gedanken gerissen, als die Tür aufging. Seine traurige Visage wurde durch eine noch elendere ersetzt. Lauchi blinzelte erstaunt, als er Norman erblickte.
»Oh, hallo«, murmelte er. Offenbar versuchte der Schwächling, zu lächeln, war aber selbst dafür zu schwach. Norman hätte ihm eine reinhauen können.
»Was willst du?«, murrte er.
»Wir wohnen zusammen«, sagte Lauchi und blieb unschlüssig stehen. »Darf ich hereinkommen?«
»Nein.«
»Oh.« Lauchi schluckte. Und Norman seufzte.
»Mann, natürlich darfst du reinkommen«, knurrte er. »Du wohnst hier, oder nicht?«
»Ja … ja schon.«
»Dann komm rein. Und mach die Tür zu.«
Norman warf sich auf sein Bett. Er vergrub das Gesicht im Kissen und versuchte, alles zu vergessen. Klappte nicht. Also brüllte er in das Kissen. Der Laut, der herauskam, war lächerlich dumpf. Trotzdem hörte er Lauchi quieken.
»G-geht es dir gut?«, fragte der Schwächling.
»Seh ich so aus?« Norman stierte ihn wütend an. Lauchi schreckte zurück und plumpste auf die schmale Matratze. »Ich bin ein Scheiß-Katalysator und alle haben mich ausgelacht. Warum soll’s mir gutgehen?«
»Ich weiß nicht. Nein, das klingt nicht schön.« Lauchi sah zu Boden. Tränen glitzerten in seinen Augen. »Mich haben sie auch ausgelacht.«
»Ich hab’s gehört«, sagte Norman. Er ballte die Fäuste. Sein Kiefer schmerzte, so fest biss er die Zahnreihen aufeinander. »Wie hast du es geschafft? Hast du irgendwen bestochen?«
»Bestochen?«, murmelte Lauchi. »Ich? Ich weiß gar nicht, wie das geht.«
»Ist nicht weiter schwer«, zischte Norman. »Also wie zum Henker bist du ein verfickter Motor geworden?«
Lauchi keuchte schockiert. Seine weichen Locken wippten und die Augen wurden rund vor Schreck.
»Ich … ich weiß auch nicht«, jammerte er. »Ich verstehe das nicht. Echt. Ich bin auf die Tribüne gegangen und dann habe ich … Ich weiß nicht. Plötzlich war da dieses Netz und … ich weiß nicht«, schloss er kläglich.
»Du wirst ein grottiger Motor«, sagte Norman und verschränkte die Arme. Er starrte an die Wand. »Der Schlechteste.«
»Ja«, murmelte Lauchi. Er schniefte leise. Norman wandte sich um und sah, wie eine Träne an der schmalen Nase entlanglief.
»Alter, reiß dich zusammen«, sagte Norman. »Wie alt bist du?«
»Achtzehn«, wimmerte Lauchi.
»Dann benimm dich auch so«, sagte Norman.
Lauchi biss die Lippen aufeinander, bis sie weiß waren. Seine dichten Wimpern glitzerten nass.
»Aber ich habe Angst«, flüsterte Lauchi. »Wir werden … Wir werden kämpfen müssen, wenn wir fertig sind, oder? Zehn Jahre lang werden wir … kämpfen müssen. Wir könnten sterben. 37 Prozent aller Motoren und 31 Prozent aller Katalysatoren sterben auf der Stadtmauer.«
Norman seufzte. Ja, an Lauchis Stelle hätte er auch geheult. Der würde wahrscheinlich schon vom Anblick eines Lavamonsters krepieren.
»Wir werden ja ausgebildet«, sagte er und versuchte, beruhigend zu klingen. »Wir trainieren drei Jahre lang und dann geht’s erst los. Wer weiß, vielleicht bist du in drei Jahren gar kein Spargel mehr.«
Lauchi nickte kraftlos.
»Vielleicht«, krächzte er. Norman musterte seine Ärmchen und die schwache Brust.
»Sag mal, Lauchi.« Er kratzte sich am Kopf. »Warum bist du eigentlich so schmächtig? Du trainierst doch auch seit zwei Jahren, oder? Warst du nicht in den Vorbereitungskursen?«
»Ja, schon. Irgendwie.«
»Irgendwie? Hattet ihr keine Hindernisläufe?«
Lauchi schüttelte den Schädel, dass sein Zöpfchen flog.
»Meine Mutter war dagegen. Herr Dahle wollte, dass ich mehr Sport mache, aber sie hat es verboten. Sie meinte, ich wäre zu schwach und dass draußen meine Allergien schlimmer werden. Überhaupt war draußen nicht so gut, wegen … wegen meines Vaters. Den …«
»Moment, halt mal an.« Norman richtete sich auf. »Was hat deine Mutter damit zu tun? Warst du nicht im Internat zur Vorbereitung? Habt ihr sowas nicht in … Wo kommst du nochmal her?«
»Dem Nördlichen Flussland«, sagte Lauchi. »Noch hinter Døngard, am Fuß der Berge. Meine Familie lebt seit über zweihundert Jahren dort.«
»Und deine Mutter durfte in deine Ausbildung reinreden?«
»Na ja, das durfte sie vielleicht nicht.« Lauchi sah zu Boden. »Tut sie aber. Sie macht sich so viele Sorgen um mich. Ich bin nicht … Ich bin ihr jüngster Sohn. Eigentlich sollte ich bei ihr bleiben und ihr Gesellschaft leisten, bis sie alt ist.«
»Bis sie tot ist, meinst du.«
»Ja, das auch.« Lauchi schluckte. »Ich habe nicht … Ich bin nicht wie meine Geschwister. Die sind alle so stark und tatendurstig. Nur ich bin viel zu schwach. Keiner hätte gedacht, dass sie ausgerechnet bei mir magisches Potenzial feststellen. Keiner.«
»Ne, sonst hätten sie dich ja besser vorbereitet. Wie war dein Internat denn so? Läuft das bei euch anders? Mit wem warst du da?«
»Mit niemandem. Meine Mutter hat den Bezirk irgendwie überredet, dass ich daheimbleiben darf und einen Ausbilder bekomme. Herrn Dahle.«
»Ah.« Norman hatte noch nie von diesem Herrn Dahle gehört. Konnte nicht allzu toll sein, wenn er sich Lauchi so ansah. »Und bei dem gab’s keine Hindernisläufe? Was ist mit Krafttraining? Und Bewegungsabläufen?«
»Ein bisschen. Vor allem haben wir die Theorie gelernt. Das durfte ich.«
»Das hat deine Mami erlaubt, ja?« Norman schüttelte ungläubig den Kopf. »Nicht nur adlig, sondern auch noch aus dem Nördlichen Flussland. Toll. Da kommen die größten Weicheier her, und weißt du, warum? Weil da fast nie Monster angreifen.«
Etwas Seltsames geschah mit Lauchi. Er straffte sich. Da war keine Wut in seinen Zügen, doch zumindest … milde Verärgerung.
»Mein Vater wurde von einem Eismonster gefressen«, sagte er und sah Norman direkt in die Augen. Der wusste nicht, was er sagen sollte.
»Ach so«, stammelte er schließlich. »Wie?«
»Er hat unsere Ländereien verteidigt, mit den Magiern zusammen. Meine älteste Schwester war auch dabei. Sie sagt, sie hätte nichts gesehen, aber … danach hat sie sich eine Woche lang in ihrem Zimmer eingeschlossen.« Seine Stimme klang rau und krächzig.
»Oh.« Norman rieb seinen Nacken. »Das war hart für dich, was?«
»Ich habe ihn gar nicht richtig kennengelernt«, murmelte Lauchi. »Das hätte ich gern. Alle sprechen sehr gut von ihm, aber ich war erst zwei Jahre alt, als es geschehen ist. Ich kann mich nicht an ihn erinnern.«
Norman, der seinen Vater ebenfalls nie kennengelernt hatte, wollte gerade etwas sagen, als die Tür aufgerissen wurde. Ein Moppel in grün schillernder Seidenmontur und mit glänzenden Locken marschierte herein. Er hielt inne, als er sah, dass im Raum kein Platz für ihn war.
»Junger Herr!«, polterte er und Lauchi schaute plötzlich richtig glücklich. »Dieses Loch ist nicht Ihr Gemach, hoffe ich?«
»Doch, ist es, Nørdington.« Lauchi sprang auf und nahm dem Kerl die große Kiste ab, die er in den Händen hielt. »Sind das meine Habseligkeiten? Vielen Dank, dass Sie sie herbringen.«
»Nun, ich hätte sie früher gebracht, aber die Institutsmitarbeiter haben es erst jetzt erlaubt.« Nørdington schaute, als hätte man ihm zwei saure Gurken in die Nasenlöcher gesteckt. »Für ihren Zimmergenossen steht ebenfalls etwas auf dem Flur.«
Er sah Norman von oben herab an. Der setzte seine beste Türsteher-Miene auf und gewann das Blickduell. Dann sprang er auf und drängte sich an dem Diener vorbei.
All seine Besitztümer lagen in der großen Obstkiste im Flur. Die Zivilklamotten, für die er schon fast zu breit war, eine Zahnbürste, Schuhcreme, drei zusammengerollte Poster und ein Stapel Groschenromane. Er klemmte die Kiste unter einen Arm und zwängte sich wieder in das Zimmer hinein. Es war eindeutig zu winzig für drei Personen. Selbst wenn einer davon so schmächtig wie Lauchi war.
»Wo werden Sie wohnen, Nørdington?«, fragte der gerade. »Haben Sie bereits ein Zimmer gefunden?«
Nørdington zögerte.
Schlechte Nachrichten im Anflug, dachte Norman und hatte, wie immer, recht.
»Ich werde leider nicht in Løbago bleiben können, junger Herr«, sagte der Diener. Er klang, als wollte er einen Säugling beruhigen. Tief und sanft. Lauchis Kinnlade klappte herunter.
»Aber ich dachte … Warum? Meine Mutter hat ausdrücklich darum gebeten, dass Sie in meinen Diensten verbleiben.«
Nørdington schüttelte den Kopf.
»Ich fürchte, der Einfluss Ihrer Mutter endet an der Stadtmauer. Hier herrscht das Militär. Beziehungsweise das Arkane Institut. Und das wünscht nicht, dass einer der Schüler bevorzugt behandelt wird.«
»Aber …« Lauchis Adamsapfel hüpfte. »Dann habe ich ja niemanden hier.«
Er wollte sich straffen und scheiterte. Nørdington betrachtete ihn sichtbar mitleidig.
»Ich werde immer für Sie da sein, junger Herr. Wenn etwas sein sollte, schreiben Sie einfach. Oder noch besser: Rufen Sie an. Machen Sie sich keine Sorgen wegen der Kosten, die trägt Ihre Mutter.«
»Danke, Nørdington.« Das war das kläglichste Lächeln, das Norman je gesehen hatte. »Ich … Ich wünsche Ihnen eine gute Heimfahrt.«
»Vielen Dank.« Der Moppel verzog das Gesicht. »Ich fürchte, sie wird weit beschwerlicher als die Reise hierher. Ich werde mich flussaufwärts schleppen lassen und das dauert Tage.«
»Die armen Pferde«, sagte Norman und schlug einen der Groschenromane auf. Nørdingtons Augen wurden schmal.
»Ich verabschiede mich, junger Herr. Viel Erfolg am Institut, und … Viel Erfolg.«
»Danke.« Lauchi schaute wie ein verlassener Welpe. »Ich tue mein Bestes.«
Das wird nicht reichen, dachte Norman, aber da er ein sehr höflicher Mensch war, schwieg er.
Nørdington machte eine Geste, die eindeutig »Mitkommen, Abschaum!« bedeutete. Hä? Widerwillig erhob Norman sich. Die Neugier ließ ihn dem Diener auf den Flur folgen. Nørdington schloss die Tür. Sie waren allein in dem düsteren Modergang.
»Was willst du?«, fragte Norman und verschränkte die Arme. In Nørdingtons Blick schwamm kaum verhohlener Ekel.
»Ich möchte, dass jemand auf den jungen Herrn aufpasst. Und da Sie sein Zimmergenosse sind …«
»Nö.« Norman schnalzte mit der Zunge. »Jeder ist für sich selbst verantwortlich. Das muss er lernen. Je früher, je besser.«
Nørdington schaute, als wollte er ihn ohrfeigen.
»Der junge Herr braucht ein wenig … Starthilfe«, knurrte er. »Er ist für diesen Rabaukenjob nicht so gemacht wie … andere.«
»Wie ich.« Rabauke war nun wirklich nicht das Schlimmste, was man ihm je an den Kopf geworfen hatte. Fast bekam er Mitleid mit dem Moppel. »Warum eigentlich? Warum ist er so ein Schwächling? Konnte seine reiche Mutti ihm keinen Boxtrainer kaufen?«
»Es war nie vorgesehen, dass der junge Herr die Mauern des Anwesens verlässt.«
»Was?« Norman hob eine Augenbraue. »Sollte er echt nur auf seine Mutti aufpassen?«
»Eine ehrenvolle Aufgabe für einen jüngsten Sohn.« Nørdington hob die Nasenspitze noch höher. »Ich erwarte nicht, dass ein Straßenflegel das versteht.«
»Ein Straßenflegel, hä? Zufällig sind wir hier alle gleich. Im Institut bin ich so viel wert wie dein junger Herr.« Norman grinste höhnisch. Nørdington grinste noch höhnischer.
»Fast so viel. Allgemein genießen Motoren das höhere Ansehen, nicht wahr?« Er lächelte süffisant. Normans Fäuste zuckten, aber die Schande wog so schwer, dass er dem Kerl keine reinhauen konnte. Sie machte ihn zu schwach.
»Nørdi«, zischte er. »Wenn du willst, dass ich auf den Kleinen aufpasse, machst du gerade einen groben Fehler.«
Der Diener zögerte, dann schaute er noch biestiger als zuvor. Die dünnen Fältchen um seinen Mund vertieften sich, während er eine prall gefüllte Brieftasche aus der Weste zog.
»Wie viel?«, fragte er. »Was ist der gängige Preis auf der Straße, wenn es einen nach Schutz verlangt?«
»Vergiss es.« Norman reckte das Kinn in die Höhe. »Mich kauft niemand. Ich hab das nicht nötig. Lieber arm als bestechlich. Du wirst das kaum glauben, Nørdi, aber ich hab auch meinen Stolz, und ich arbeite für keinen mehr. Nur für mich selbst.«
»Und für das Institut, nicht wahr?«, sagte Nørdington. Zögernd steckte er die lederne Brieftasche wieder ein. Er war offensichtlich verunsichert. »Soweit ich weiß, werden Sie alle für zehn Jahre verpflichtet.«
»Das mach ich gerne«, sagte Norman. »Ich wollte nie was anderes als ein Magier werden.«
»Ah.« Nørdington schniefte leise. »Na, Ihrem Auftritt heute Mittag zufolge lief es nicht ganz so, wie Sie es sich erträumt haben.« Er hob die Hände, als er Normans Gesichtsausdruck sah. »Schon gut. Ich gehe ja. Aber ich möchte keine Beschwerden vom jungen Herrn hören, ist das klar? Ich mag hier unerwünscht sein, doch die Familie von Mømpelgard kennt immer Wege, sich unliebsamer Zeitgenossen zu entledigen.«
Norman verstand die Worte nur halb, aber er kapierte, was eine Morddrohung war. Er schnaubte verächtlich.
»Keine Sorge, Nørdi, ich vergreif mich nicht an Schwächeren. Mach’s gut.«
Mit diesen Worten drehte er sich um und kehrte zurück in das Zimmer. Beinahe wäre er über Lauchi gestolpert, der gerade ein Poster aufhängte. Eine Karte des gesamten Flusslandes mit bunten Markierungen. Markierungen in den verbotenen Zonen.
»Was ist das da?«, fragte Norman. »Sieht fast aus wie eine Route durch das Eisgebirge.«
»D-das …« Lauchi schluckte. Oh, der war wohl noch nicht über den Abschied hinweg. »Das ist die Strecke, die Gottfrieda von Græwenitzschs Expedition durch das Eisgebirge genommen hat. Von hier sind sie gestartet.«
Ein zitternder Finger deutete auf Rørk, die Hafenstadt, die eine florierende Handelsbeziehung mit Løbago unterhielt. Sie waren sich in Größe und Reichtum fast ebenbürtig. Manchmal, wenn die Monsterangriffe nicht ganz so schlimm waren, führten sie sogar Krieg miteinander.
»Das kam mir gleich bekannt vor«, sagte Norman. Ein winziger Hauch guter Laune kehrte in ihn zurück. »Ich hab von der Expedition gelesen. Das ist aus meinem Lieblingsbuch.«
»Was?« Lauchi strahlte. Stand ihm gar nicht schlecht. »Ist dein Lieblingsbuch etwa auch »Die Tagebücher der Gottfrieda von Græwenitzsch 1791-1797«?«
»Hä? Nein.« Norman kramte in seiner Kiste. Er zog ein dünnes Buch mit buntem Cover hervor. »Es ist das hier. »Der Schrecken der Gletscher – Blut und Eis«. Das beste Buch überhaupt!«
»Der Schrecken der Gletscher?« Lauchis Gesichtsausdruck wechselte von erfreut zu entsetzt, als er den Text auf dem Umschlag las. »Gottfriedas grässliche Abenteuer?« Das ist ja Schund! Und faktisch falsch noch dazu! Frau von Græwenitzsch war über vierzig, als sie ihre Expedition unternahm. Warum ist sie auf dem Titelbild höchstens zwanzig? Und warum ist sie so … umfangreich?«
»Umfangreich?« Norman schaute auf das Titelbild, auf dem Gottfriedas Bluse gerade von einem Eismonster zerrissen wurde.
»Ihre … Oberweite«, erklärte Lauchi. »Das ist … Das ist ja skandalös. Wie kann man aus ihrem Erbe so einen Schundroman machen?«
»Das ist mein Lieblingsbuch«, knurrte Norman und Lauchi wich mit weit aufgerissenen Augen zurück.
Wütend warf Norman das Buch auf das einzelne Regalbrett über seinem Bett. Ihm war gar nicht aufgefallen, dass Gottfrieda so dicke Dinger hatte. Aber die Geschichte war saugeil. Dieser Schwächling hatte ja keine Ahnung!
Sie sprachen bis zum Abendessen nicht mehr miteinander.