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Alter Schmerz

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Kälte schoss durch Jeans Körper. Als würde ein Eismeer auf ihn niedergehen. Er erstarrte.

Nein.

Es ging zu schnell. Er sah die Verwunderung in Nats erhitztem Gesicht, sah, wie seine Augen zurückrollten, kannte es, kannte es von damals als …

»Nein!« Jean wich zurück, brach den Körperkontakt ab, riss die Hände von verschwitzter Haut. Er stolperte und fiel rückwärts. Krachte auf den Boden. Schmerz schoss in seine Hüfte. Er …

Zu spät. Energie raste durch seine Adern. Er fühlte, wie seine Kraft sich verdoppelte, verdreifachte, wie jede einzelne Zelle vor Macht vibrierte.

Er sah Nats Füße zucken.

»Nat!« Jean rappelte sich auf. Er schmeckte etwas Metallisches, Blut, vermutlich hatte er sich auf die Zunge gebissen, als er gestürzt war, aber das war egal, er … Er hechtete an Nats Seite. Dessen Gesicht war nass vor Schweiß. Bläulich, als würde er erfrieren. Oder als wäre er schon tot.

Nein.

»Hey!« Jean brüllte, da er sich nicht traute, ihn anzufassen. Würde er Nat noch mehr Energie abzapfen, wenn er ihn anfasste? Das Amulett baumelte und legte sich auf Nats Brust, als er sich über ihn beugte. Das nutzlose Mistding, dem er vertraut hatte.

Er war so blöd.

»Nat?«, flüsterte er und dann kam er endlich zur Besinnung. Ein Notarzt. Er musste sofort einen Notarzt rufen. Hektisch wühlte er in den Klamotten, die wild über den Boden von Nats Zimmer verstreut lagen. Ihre Wächteruniformen. Erst erwischte er die falsche Hose, dann die richtige. Mit zitternden Fingern machte er sein Handy an.

»Nicht«, murmelte Nat und er fuhr herum.

Nat war wach. Eindringlich sah er Jean an, die Locken ein chaotisches Nest. Einzelne Strähnen klebten auf seiner Stirn. Selbst jetzt sah er echt richtig gut aus.

»He.« Jean erstickte fast an den Worten. »Kannst du reden? Keine Angst, ich rufe einen Notarzt und …«

»Nein.« Nat versuchte, sich aufzurichten, und schaffte es nicht. Jean wollte ihm helfen, aber er wagte immer noch nicht, ihn anzufassen. »Nein, tu das nicht. Sie werden dich verhaften.«

»Sie sollen mich verhaften! Ist doch scheißegal! Sie müssen dich retten! Sie müssen …«

»Nein.« Nat packte seinen Arm.

Jean riss ihn weg. »Nicht anfassen! Ich weiß nicht, ob ich noch gefährlich bin.«

»Hör mir zu.« Es kostete Nat sichtlich Mühe, zu sprechen. »Ich … ich fühle mich wie ausgekotzt, aber ich sterbe nicht. Ich bin nur etwas schwach. Sehr schwach.« Sah aus, als wollte er lächeln, hätte aber nicht die Kraft dazu. »Kannst du mir Blut aus dem Kühlschrank holen?«

Jean nickte und rannte aus dem Zimmer. Hass schwappte in seinem Bauch.

Er hätte es besser wissen müssen. Er hätte es verdammt noch mal besser wissen müssen und er hatte es trotzdem getan. Warum?

Weil er schwach war. Weil der Mann, für den er ein absolut unvernünftiges Ausmaß an Gefühlen entwickelt hatte, ihn zu einem ‚Spieleabend‘ eingeladen hatte und weil Jean zu überrumpelt gewesen war, Nein zu sagen. Zu egoistisch. Er hatte das hier gewollt. Obwohl er gewusst hatte, dass es Nat in Gefahr brachte.

Er fand zwei Dosen Kuhblut in der Tür des Kühlschranks, zwischen Orangensaft und Milch. Die Dosen waren rot-silbern und aufgemacht wie Energydrinks.

Boss Blood, las er und einen Wimpernschlag lang dachte er, wie wenig das zu Nat passte. War wohl eine Billigmarke. Dann war er wieder voll damit beschäftigt, sich zu hassen.

Arschloch, dachte er. Du selbstsüchtiges Arschloch.

Nat hatte es geschafft, sich aufzusetzen, als er zurückkam. Schwächlich lächelte er ihm entgegen.

»Du hast es gefunden.« Er streckte eine Hand aus. Sie zitterte und Jean hätte sich sehr gern selbst in die Fresse gehauen. Stattdessen öffnete er die Dose für Nat und reichte sie ihm. Er sah zu, wie Nats Adamsapfel sich bewegte, als er trank und selbst das fand er irgendwie attraktiv.

Stumm ließ Jean sich auf der Bettkante nieder und blickte auf die Wand gegenüber. Sie war mit einer türkis-golden gemusterten Tapete verziert, an der sich Lichterketten reihten. Das ganze Zimmer war knallbunt und voller Möbel, die nicht zusammenpassten. Irgendwie gab es eine Ordnung in dem Chaos, sie war nur schwer zu verstehen. Erst jetzt beachtete er das Zimmer überhaupt. Als sie reingekommen waren, war er zu beschäftigt damit gewesen, Nat zu küssen und gleichzeitig seine Klamotten loszuwerden.

»Es tut mir leid«, sagte er und starrte auf die Wand. Da hingen Fotos und die machten es irgendwie noch schlimmer. Er hatte nicht gewusst, dass Nat ein Foto von ihrem ersten Team-Abend aufgehängt hatte. Noch ohne Sofie, dafür mit Isa. »Ich … Es tut mir echt leid. Ich hätte es wissen müssen. Ich hätte …«

»Du konntest es nicht wissen.« Nats Stimme war klein und schwach. »So ist das bei Experimenten.« Sein Lachen klang traurig. »Schade, dass der Versuch nicht funktioniert hat.«

Jean konnte nicht sprechen. Er ballte die Fäuste und schloss die Augen. »Ich rufe den Arzt an.«

»Nein.« Das klang wie ein Befehl. »Ich hab dir doch gesagt, dass sie dich dann verhaften. Ich weiß nicht, ob sie es dir mitgeteilt haben, aber du stehst unter Beobachtung. Die Sache mit deiner Freundin damals wurde als Unfall gewertet. Aber seit der Sache mit den Höllenhunden … Wenn du je wieder jemanden aussaugst, kommst du ins Gefängnis.«

»Da gehöre ich auch hin.«

»Du hast es nicht gewusst. Ich habe auch gehofft, dass das Amulett uns schützt.« Nat klang zutiefst enttäuscht. »Schade. Aber na ja, immerhin … Schau mich an.«

Jean wandte sich um. Nat sah etwas besser aus. Die Dosen lagen leer neben ihm. Ein Hauch Farbe war in sein Gesicht zurückgekehrt, und für einen Vampir wirkte er schon viel gesünder. Nat tastete in seinem brillenlosen Gesicht herum.

»Wie sehe ich aus?«, fragte er. »Was meinst du, wie viele«, er schluckte, »wie viele Jahre ich verloren habe?«

Jeans Brust krampfte sich zusammen. Er zwang sich, nach Falten und eingefallenen Stellen zu schauen, obwohl er es nicht wissen wollte. Er wollte einfach nicht.

»Nicht viele, glaube ich.« Er wischte die Hände an seinen Oberschenkeln ab und kapierte jetzt erst, dass er immer noch nackt war. Sie beide waren nackt. Sie … Selbst Atmen tat weh. »Ich hol dir einen Spiegel. Hast du einen?«

»Nimm den da.«

Jean holte einen abscheulichen kleinen Spiegel von der Wand, der mit buntem Glas verziert war, und reichte ihn Nat. Der musterte sich ausgiebig und stieß einen erleichterten Seufzer aus.

»Puh.« Er lächelte schwach. »Das ist besser als es sich anfühlt. Ich meine … Es ist nicht viel, oder?«

»Du siehst toll aus«, sagte Jean, bevor er sich bremsen konnte.

»Danke.« Nat strahlte, fast wie sonst. Trotz der Schatten unter seinen Augen. »Ehrlich gesagt, sehe ich keinen großen Unterschied. Ich habe höchstens ein bisschen Babyspeck verloren.«

»Trotzdem.« Die Klammer um Jeans Brust lockerte sich so weit, dass er wieder atmen konnte. »Ich … Kann ich das …« Kann ich das wiedergutmachen? Natürlich konnte er das nicht. Was für eine blöde Frage.

»Hey.« Nat wiegte den Kopf. Er wirkte so erschöpft, als hätte er drei Nächte durchgemacht. »Ich habe diesem Experiment zugestimmt, oder? Ich wusste, dass es … dass es gefährlich werden könnte. Ich hatte nur gehofft, dass … Also.«

»Ja.« Jean schluckte. »Ich auch.« Er sah zu Boden. Da, wo ihre Klamotten lagen. Fühlte sich an, als hätten sie sie in einem anderen Leben ausgezogen. Einem Leben, in dem sie noch daran geglaubt hatten, dass das hier gut enden konnte.

»Nun.« Nat ließ sich zurück in die Kissen sinken. Matt hob er eine Hand. »Ich glaube, ich muss schlafen. Ich … Bestimmt bin ich wieder fit, wenn ich aufwache.«

»Du tust, als wäre das ein Schnupfen. Das ist es nicht. Du bist von einem Monster ausgesaugt worden. Du hast Leben verloren. Ich …« Er schluckte.

»Wie fühlst du dich?« Nat betrachtete ihn und wirkte auch noch besorgt. Typisch.

»Stark«, gab Jean zu. »Ich könnte Bäume ausreißen. Ich …« Sein Blick fiel auf die leeren Dosen auf dem Nachttisch. Boss Blood. Eine Idee ploppte in seinem Kopf auf. »Trink mein Blut.« Er richtete sich auf. »Vielleicht bekommst du dann etwas Lebensenergie zurück. Vielleicht sogar alles, wenn du genug …«

»Nein.« Der Ton war schneidend. »Das ist illegal.«

»Das, was ich gerade gemacht habe, auch.« Jean beugte sich vor. »Komm schon. Blut heilt dich, oder? Blut von magischen Wesen. Das ist viel besser als … das da.« Er deutete auf die Dose Kuhblut.

Nat sah an die Decke. »Es ist zu gefährlich. Ich kann die Mordlust nicht kontrollieren. Ich könnte dich umbringen. Du hast doch gesehen, was passiert ist, als ich versehentlich einen Tropfen Vampirblut getrunken habe. Ich hätte beinahe jemanden umgebracht.«

»Ist mir egal«, sagte Jean. »Du hast es nicht gemacht. Mann, ich weiß doch, dass du mich nie umbringen würdest. Ich habe keine Angst.«

»Aber ich.« Nats Blick wurde weich. »Danke für das Angebot, aber ich glaube, ich schlafe einfach ein paar Stunden. Oder länger.«

Jean schluckte. »Sicher?«

Schwaches Nicken. »Bis später.«

»Bis später.« Es war schwer, die Wörter herauszuwürgen. Das nutzlose Metallteil lag auf seiner Brust, kalt und wertlos. Verdammtes Kack-Amulett. Es hatte nichts gebracht es zu tragen, absolut nichts. Er …

Jean ballte die Fäuste. Er lauschte auf die gleichmäßigen Atemzüge zu seiner Linken. Die Luft im Zimmer war stickig und so schwer, dass er kaum atmen konnte. Hinter den dunklen Vorhängen lag die Nacht. Er wusste nicht, wie spät es war. Als er sich aufraffte und auf sein Handy schaute, sah er, dass er mehrere Anrufe verpasst hatte. Vivi. Vermutlich hatte sie es auch bei Nat versucht.

Er zögerte einen Moment, dann zog er sich an und schlich aus dem Zimmer. Erst in der Küche rief er zurück.

»Was ist?«

»Hallo«, sagte Vivi. »Sofie ist schon hier. Wir planen Nats Geburtstag.« Sie zögerte. »Weißt du zufällig, wo er ist?«

»Nein«, sagte er. »Keine Ahnung.«

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