Читать книгу Die Wiederentdeckung der Natur - Regine Kather - Страница 15
3.4 Die Ästhetik der Natur
ОглавлениеBewahrt werden sollte die Ordnung der Natur allerdings nicht nur aufgrund ethischer Pflichten, genuin menschlicher Verantwortung oder einer Heuristik der Furcht. Mindestens ebenso entscheidend ist die Freude an ihrer Schönheit, die als qualitative Bereicherung erfahren wird. Indem das göttliche Wort allem Form und Maß verleiht, reflektiert die Welt das göttliche Licht wie ein Spiegel. Da Schönheit ein objektives Attribut der Natur ist, wird die ästhetische Erfahrung zu einem Mittel, den eigenen Ort im Kosmos und damit auch die eigene Ganzheit wiederzufinden, heil zu werden.
Die Natur wird nicht nur technisch vermittelt oder wissenschaftlich-abstrakt, sondern mit dem ganzen Leib, mit allen Sinnen, erschlossen. Farben, Klänge oder Gerüche sprechen den Menschen an, lösen etwas in ihm aus, wirken auf ihn ein und haben eine Bedeutung für ihn. Gott „hat dem Menschen die Rüstung der Schöpfung angezogen, damit er alle Welt im Sehen erkenne, im Hören verstehe und im Geruch unterscheide, damit er im Geschmack von ihr genährt werde und sie im Tasten beherrsche. Und so sollte der Mensch zur Erkenntnis des wahren Gottes kommen, der da ist der Schöpfer der gesamten Kreatur.“126 Da die sinnliche Schönheit der Natur Ausdruck der Teilhabe am göttlichen Sein ist, führt sie den Menschen, wie bei Plotin, über seine Grenzen hinaus; sie weitet den Blick für etwas, das größer ist als er und ihn trägt. Die sinnliche Erfahrung wird zum ersten Schritt auf dem Weg zur Gotteserkenntnis. In der Betrachtung der Natur, in der er das Wirken ihres Schöpfers sieht, wird er sich seiner eigenen Teilhabe am göttlichen Sein bewusst. Im Unterschied zu soziobiologischen Theorien beschränkt sich die Funktion des ästhetischen Erlebens daher nicht auf die Optimierung des Überlebens. Die „Schönheit der Schöpfung“127 wird geliebt, sie zieht den Menschen an und vermittelt ihm das Gefühl, dass er nicht willkürlich in sie eingreifen darf, wenn er sie nicht zerstören will. Als Erscheinung der Wahrheit ist sie die Manifestation eines zu bewahrenden Wertes. Dem Bild der Natur, das sinnliche Qualitäten und geistige Dimensionen gleichermaßen berücksichtigt, entspricht eine Anthropologie, die von der Einheit von Leib und Seele ausgeht.
Die Betonung des Schönen beinhaltet keine falsche Verklärung der Wirklichkeit, da Hildegard sich auch mit dem Hässlichen auseinandersetzt. Mit dem Fall des Menschen wurde die ursprüngliche Schönheit der Natur verdunkelt, ohne jedoch vollständig verloren zu gehen. Hässliches und Entstelltes entstehen, wenn Möglichkeiten verfehlt werden. Abtrennung und Zerstückelung führen zur Auflösung der inneren Einheit und damit zum Zerreißen dessen, was ursprünglich zusammengehört. Durch die dreifache Verschlüsselung jedes Symbols erstreckt sich das Hässliche jedoch nicht nur auf das Sinnlich-Sichtbare, sondern auch auf die menschliche Seele. Weniger durch körperliche Entstellung, als vielmehr durch den seelischen Ausdruck von Gier, Hass, Überheblichkeit, Rücksichtslosigkeit, Zorn und Neid in Blicken, Gestik und Mimik, Wort und Tat wirkt ein Mensch hässlich, sind seine Gesichtszüge verzerrt. Das Hässliche ist Ausdruck seelischer Maßlosigkeit und innerer Zerrissenheit, die sich in Gedanken, Worten und Handlungen äußern. Doch trotz seiner gestaltauflösenden Wirkung ist es, wie das Böse, Ausdruck von Privation: Es ist nicht schöpferisch, sondern wirkt nur durch den Mangel an gestalterischer Kraft zerstörerisch.
Für Hildegard beruht der Kosmos auf einem labilen Kräftespiel, an dessen Erhaltung die Menschen aktiv und eigenverantwortlich mitwirken müssen, wie Schipperges betont: „‘Kosmologie‘ ist hier in keiner Weise eine Beschreibung eines Weltsystems, sondern ein geistiger Anspruch, eine universelle Verantwortung. Es ist damit die Frage nach der ursprünglichen Lebenswirklichkeit des Menschen gestellt und wie man aus dieser Weltordnung zu einer verbindlichen Lebensführung finden könnte.“128 Indem Hildegards Werk wie in einem fernen Spiegel die Defizite der Gegenwart sichtbar macht, wird es zu einem Impuls für die unverzichtbare Korrektur des Verhältnisses des Menschen zur Natur. Es zeigt in eindrucksvoller Weise, dass sich der Schöpfungsbericht der ‚Genesis‘ durchaus im Sinne eines Miteinanders von Mensch und Natur verstehen lässt. „Der Mensch ist nach dem göttlichen Heilsplan (oikonomia) gleichsam eingetaucht in Natur. Die Materie geht gewissermaßen ein in die Geschichte –, weitreichende Aspekte, aus denen wir längst eine ‚Philosophie der Natur‘ hätten herausarbeiten können.“129 Vor diesem Hintergrund hätte Hildegard, wie wir noch sehen werden, auch in der Gegenwart Gesprächspartner gefunden, die ihr Anliegen unter veränderten Voraussetzungen teilen: Whitehead, Teilhard de Chardin, Scheler und Jonas sind nur die bekannteren unter ihnen.