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4.1 ‚Die Erde ist ein edler Stern‘

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Im Jahr 1401 geboren, wächst Nikolaus von Kues, auch Cusanus genannt, in ein Jahrhundert hinein, in dem das mittelalterliche Weltbild mit seinem in sich geschlossenen, wohlgefügten Kosmos durch die Renaissance und die beginnende Neuzeit abgelöst wird. Wie Plotin und Hildegard beginnt auch er seine Erörterungen noch mit dem Seinsgrund. Da dieser nicht zum Bereich endlich Seiender gehören kann, ist er mit keinem von ihnen vergleichbar. Er ist in keiner Hinsicht eine bloß quantitative Steigerung dessen, was ist. Da alle Aussagen, so hatte schon Plotin argumentiert, eine intentionale Struktur haben und sich auf etwas kategorial Bestimmtes beziehen, kann man ihn nicht begrifflich definieren. Alle sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten kommen an ihre Grenze, wenn sie sich auf das Unendliche beziehen. Umgekehrt formuliert: Wäre es bildlich vorstellbar oder begrifflich definierbar, wären seine Eigenschaften und Attribute klar benennbar, dann wäre es nicht das schlechthin Unendliche. Als Grund allen Seins ist es durch nichts anderes mehr bestimmt, sodass es nicht aus der Differenz zum Endlichen verstanden werden kann. Der Ursprung von allem kann „weder ein Anderes vom Anderen noch vom Nichts sein, weil er zu nichts im Gegensatz steht.“130 In seiner Transzendenz ist er über jeden Gegensatz, den von Zeit und Azeitlichkeit, von Raum und Raumlosigkeit, aber auch von Ruhe und Bewegung und Identität und Alterität erhaben. Er ist, so sagt Cusanus prononciert, „jenseits des Zusammenfalls der Gegensätze.“131 Kein Zusammenbestehen der Gegensätze im Absoluten ist also gemeint, sondern eine Einheit über jedem Gegensatz.

Als Grund des Seins umfasst er alles, was ist „in sich selbst.“132 Was sich in der Welt als gegensätzlich darstellt, ist im übergegensätzlichen Grund in differenzloser, eingefalteter Einheit präsent. Der die Verschiedenheit endlicher Perspektiven übergreifende Seinshorizont macht einen Relativismus der Weltanschauungen unmöglich. Eine Vielheit von Perspektiven gibt es nur vor dem Hintergrund der sie übergreifenden Einheit. Da diese kein Schlussstein für ein begrifflich lückenlos geschlossenes System ist, spricht Cusanus von einer Approximation an Gott.133 Zwar ist auch der menschliche Geist strukturell durch die Fähigkeit sich auf sich zurückzuwenden bestimmt; doch dieser Prozess vollzieht sich in der Zeit durch die sukzessive Integration von Vergangenheit und Zukunft, Erlebtem und Erhofftem. Vergegenwärtigung beinhaltet durch die Rückkehr auf sich allerdings auch eine Sammlung in sich. Soweit der menschliche Geist sich jedoch in dieser Bewegung nur auf sich bezieht, kann er nicht vollkommen in sich ruhen. Selbstbezogenheit würde zur Selbstverschlossenheit, die schon durch die Notwendigkeit zu überleben vereitelt wird; auf psychischer und intellektueller Ebene würde sie zur geistigen Stagnation führen. Endliches Leben ist weder physisch noch geistig in sich gegründet. Vollendete Selbstgegenwart, die auch selbst begründend ist, ist für es unerreichbar, sodass der Grund des eigenen Seins nur durch Selbstüberschreitung gefunden werden kann.

Philosophen und Wissenschaftler, die eine naturalistische Interpretation der Welt vertreten, argumentieren, dass man das Universum, menschliche Handlungen eingeschlossen, vollständig naturwissenschaftlich erklären und dennoch ein gläubiger Mensch sein könne, da Gott in seiner Transzendenz das Universum nicht beeinflusst. Im Unterschied zu deistischen Positionen kann für Cusanus das Universum in seiner Endlichkeit jedoch nur bestehen, weil es vom Unendlichen in seinem Sein erhalten wird, sodass es kein abgeschlossenes, sondern ein offenes System ist. Obwohl Gott als Seinsursache nicht kausalursächlich auf die Welt einwirkt, verleiht er jeder Entität mit ihrem Sein auch die Kraft, sich aus sich heraus zu entwickeln. Jedes Wesen, das danach strebt, seine eigene Identität zu entfalten, muss deshalb auch nach dem Absoluten streben.

Die Überlegungen zum Verhältnis von endlichem und unendlichem Sein werden bei Cusanus zur Grundlage einer Kosmologie, die die Wende zur Neuzeit einleitet. Obwohl ohne empirische Grundlage mit rein philosophisch-theologischen Argumenten entwickelt, ist sie viel radikaler als die naturwissenschaftlich begründete von Kopernikus, Galilei und Kepler. Erst Einsteins Relativitätstheorie wird ein physikalisches Modell vom Universum entwickeln, das ebenfalls auf jeden Mittelpunkt verzichtet.

Da das Absolute, so das Argument, in keiner Relation steht zu etwas, das kleiner, größer, schneller oder langsamer ist als irgendeine endliche Entität, kann man nicht vom Endlichen ausgehend durch viele Zwischenschritte zu ihm gelangen. Sogar wenn man das Universum in räumlicher oder zeitlicher Hinsicht immer weiter ausdehnen würde, wäre es nicht unendlich im Sinne Gottes. Es hätte nicht die Kraft, sein eigenes Sein zu erschaffen. Auch mathematische Aussagen genügen nicht, um die Struktur des Universums zu erklären. Während sie sich auf ideale, zeitlos-unveränderliche Gesetze, etwa die Idee des Kreises, beziehen, hat es die Kosmologie mit wirklichen Körpern und Kräften zu tun. Da es unmöglich ist, dass zwei Körper exakt dieselbe äußere Form und genau dieselbe Position im Raum haben, kann es nie zwei völlig identische Objekte geben. „In allem herrscht vielmehr dem Ort, der Zeit, dem Zusammenhang und anderem entsprechend, notwendig Verschiedenheit.“134 Andernfalls, so wird Leibniz argumentieren, könnten endliche Seiende nicht voneinander unterschieden werden. Nicht aufgrund unzureichender Beobachtungsmethoden, sondern aufgrund der Struktur der Welt können physikalische Aussagen nie dieselbe Exaktheit haben wie mathematische.

Da die Welt durch die Ausfaltung dessen entsteht, was in Gott in eingefalteter Weise vorhanden ist, spiegelt sich in jedem Wesen sein zeitloser Ursprung. Dadurch haben die Relationen zwischen endlichen Entitäten zwei Dimensionen: Auf der einen Seite beruhen sie auf der Immanenz des Unendlichen in jedem von ihnen; alle partizipieren gemäß ihrer Fassungskraft, auf besondere Weise also, an der seinsstiftenden Kraft Gottes. Er ist „die absolute Kraft und darum die Natur aller Naturen.“135 Durch die Immanenz des göttlichen Geistes gewinnt die Bestimmung Gottes als Non-Aliud, als das Nicht-Andere, eine weitere Bedeutung: Nicht nur durch seine Transzendenz überschreitet er jeden Gegensatz, auch durch seine Immanenz. Schärfer formuliert: Dass es eine Vielfalt sich unterscheidender Seiender, mithin Andersheit, gibt, geht auf die seinsstiftende Kraft des Nicht-Anderen in ihnen zurück. Es ist als „Wesenheit der Wesenheiten“136 selbst keine bestimmte Wesenheit. Durch die Immanenz des göttlichen Geistes ist jedes endliche Wesen bis zu einem gewissen Grad mit der Fähigkeit zur Selbstverursachung ausgestattet und dadurch, wie bei Plotin und Hildegard, nicht nur natura naturata, sondern auch natura naturans.

Die endlichen Seienden sind jedoch nicht nur aufgrund der Partizipation am göttlichen Geist miteinander verbunden, sondern auch unter konkreten raumzeitlichen Bedingungen aufgrund äußerlicher Relationen. Jedes von ihnen befindet sich an einem bestimmten Ort, existiert zu einem bestimmten Zeitpunkt und für eine begrenzte Zeitspanne. Bei einem mit Selbstbewusstsein ausgestatteten Wesen ist die Perspektive auch durch historische und biographische Bedingungen beschränkt. Doch gerade wegen ihrer spezifischen Begrenztheit stehen endliche Entitäten in einer Beziehung zu anderen Entitäten, die sich an einem anderen Ort befinden, zu einer anderen Zeit existieren oder die Welt unter einer anderen Perspektive betrachten. Begrenzt zu sein ist daher nicht nur Ausdruck eines Seinsmangels, sondern beinhaltet auch die Möglichkeit zur Überschreitung zu anderen Seienden und zum gemeinsamen Ursprung.

Einzigartig sind die Entitäten daher nicht, wie Aristoteles glaubte, nur durch die Materie; ebenso wenig sind die Relationen bloß ein akzidentelles Merkmal einer in sich beharrenden Substanz. Einzigartig sind sie aufgrund innerer und äußerer Relationen. Wegen der mehr oder weniger stark vermittelten Beziehung einer Entität zu allen anderen Entitäten ist jede ein einzigartiger Spiegel des Universums und kann nicht quantitativ durch andere, gleichartige Wesen ersetzt werden. „Nur das Einzelne ist wirklich. In diesem sind die Universalien in Verschränkung dieses selbst.“137

Für Cusanus ist es daher unmöglich, die Dynamik der Natur unabhängig von ihrem geistigen Grund zu erklären, wie es Deismus und Naturalismus versuchen. Nur durch die Gegenwart des göttlichen Geistes ist das Universum eine dynamisch in sich verschränkte Einheit, die aufgrund der doppelten Form der Relationalität nicht mit einer Maschine verglichen werden kann. Lange bevor man im 20. Jh. die Bedeutung der Biodiversität für die Stabilität eines Ökosystems erkannte, sah man die Verflechtung belebter und unbelebter Entitäten als konstitutiv für die Ordnung der Natur an. Einerseits hat sich diese, anders als Cusanus glaubte, durch die Evolution immer wieder verändert; andererseits werden, im Unterschied zu naturwissenschaftlichen Erklärungen, die endlichen Entitäten nicht auf ihre Funktion für ein Ökosystem reduziert, sondern haben auch einen inhärenten Wert und ein für sie spezifisches Ziel. Obwohl jedes Lebewesen das Maß seiner Vollkommenheit in sich trägt und sich nicht mit anderen vergleichen sollte, kann es sein Potenzial mehr oder weniger stark ausschöpfen. Auch für Cusanus bleibt der Grad der Annäherung an Gott ein Maß für die Vollkommenheit einer Kreatur.

Die Unterschiede zwischen endlichen Entitäten sind jedoch nicht absolut. Alles, was begrenzt ist, ist bezogen auf etwas, das größer oder kleiner, stärker oder schwächer, langsamer oder schneller ist. Die Differenz könnte daher durch viele einzelne Schritte überbrückt werden. Immer kann man sich etwas denken, was ein wenig größer oder schneller ist. Dadurch gibt es in der Welt kein absolutes Maß, nichts, was das absolut Größte oder Kleinste, Langsamste oder Schnellste ist. In der Welt, so argumentiert Cusanus, gibt es nichts Absolutes. Die konsequente Anwendung dieses Gedankens führt zu einer völlig neuen Idee des Kosmos. Wenn es nämlich im Bereich des Endlichen nichts Absolutes gibt, dann kann kein Körper vollständig in Ruhe verharren oder sich mit einer absoluten Geschwindigkeit bewegen. „Es gibt keine schlechthin größte Bewegung.“138 Die logisch zwingende Konsequenz ist, dass sich jeder Himmelskörper bewegen muss, die Sonne ebenso wie die Erde. Schon einige Jahrzehnte vor Kopernikus war Cusanus davon überzeugt, dass sich die Erde wirklich bewegt. Im Unterschied zu Osiander, der das Vorwort zu Kopernikus Werk ‚De revolutionibus orbium coelestium‘ geschrieben hat, war für Cusanus die Erdbewegung keine hilfreiche Hypothese, die nur dazu dient, die Berechnung der komplizierten Bewegungen der Gestirne zu vereinfachen. „Aus dem geht klar hervor, daß die Erde sich bewegt.“139

Aber wieso erscheint uns die Erde als ruhend? „Wir begreifen die Bewegung nur durch einen Vergleich mit etwas Feststehendem. Wie sollte jemand, der sich auf einem Schiff in der Mitte des Gewässers befindet, der das Ufer nicht sieht und nicht weiß, daß das Wasser fließt, begreifen, daß er sich bewegt?“140 Um entscheiden zu können, ob ein Körper in Ruhe ist oder sich bewegt und ob er sich schnell oder langsam bewegt, braucht man einen Bezugspunkt. Diese Beobachtung war seit Aristoteles bekannt. Doch Cusanus war der erste, der diesen Gedanken konsequent auf den gesamten Kosmos anwendete. Wenn es überhaupt keinen Körper gibt, der absolut ruht, dann gibt es auch keine Möglichkeit, den Bewegungszustand anderer Körper exakt zu bestimmen. Feststellbar ist nur die Relativbewegung verschiedener Körper gegeneinander. Diese kleine Verschiebung in der Argumentation verstieß nicht nur die Erde aus dem Zentrum des Kosmos; sie führte zu einer völlig neuen Vorstellung vom gesamten Universum und der Stellung des Menschen in ihm.

Der Stern, auf dem sich der Beobachter befindet, ist relativ zu dessen Position in Ruhe; alle anderen Sterne scheinen sich dagegen relativ zu ihm zu bewegen. Deshalb sieht es so aus, als ob sich der eigene Stern im Mittelpunkt des Universums befindet. Für die Bewohner des Planeten Erde hat es den Anschein, als ob sich alle anderen himmlischen Körper um sie drehen würden. Aber auch die Bewohner eines anderen Planeten würden glauben, dass ihr Planet ruht und die Erde, die Sonne und alle anderen Himmelskörper ihn umkreisen. Noch eine weitere Konsequenz ergibt sich aus dem Gedanken, dass es in der Welt nichts Absolutes gibt: Das Universum kann keine ideale Gestalt haben, sodass es keine vollkommene Kugel sein kann. Auch die Bahnen der Planeten können nur mehr oder weniger Kreise sein. Genau diese Argumentation wird von Kepler benutzt werden: Auf der Suche nach einer mathematischen Formulierung für die Planetenbahnen argumentierte er, dass sie etwas weniger vollkommen als Kreise sein müssen und schloss, dass sie Ellipsen sind. Ohne ein absolutes Maß hat das Universum auch keine streng definierbare Grenze. „Folglich hat die Welt keinen Umfang.“141 Weder kann die Erde im Mittelpunkt des Kosmos ruhen noch kann der Kreis der Fixsterne die äußerste Grenze bilden, wie die mittelalterlichen Theologen geglaubt hatten. In räumlicher Hinsicht ist er grenzenlos. Was Cusanus noch nicht diskutiert, ist die Abhängigkeit der Zeit von der Relativbewegung der Körper.

Schon einige Jahrzehnte vor Kopernikus und Galilei zerstörten die Schlussfolgerungen von Cusanus die untrennbare Einheit, die nach mittelalterlicher Vorstellung zwischen der physischen Ordnung des Universums und der Heilsordnung bestand. Wenn es nämlich kein absolutes ‚Unten‘ oder ‚Oben‘, ‚Rechts‘ oder ‚Links‘ gibt, dann kann der Kosmos nicht aus hierarchisch ineinander geschachtelten Sphären bestehen. Und dann muss jede substanzielle Differenz zwischen der irdischen und den himmlischen, der sublunaren und der translunaren Sphäre überwunden werden. Daraus folgt wiederum, dass sich alle vier Elemente in allen Himmelskörpern finden lassen müssen, sodass sie sich nur in ihrer Zusammensetzung unterscheiden. Mit der Überzeugung, dass überall im Universum dieselben Gesetze gelten, antizipiert Cusanus eine Idee, die Newton in Form eines physikalischen Gesetzes formulieren wird: Das Gravitationsgesetz bestimmt den Fall eines Apfels auf der Erde ebenso wie die Bahn des Mondes um die Erde oder die der Erde um die Sonne.

In einem homogenen, mittelpunktslosen Universum ist die Erde nur ein Stern unter Sternen. Doch für Cusanus beinhaltet der Verlust des privilegierten räumlichen Ortes keine Abwertung und daher auch keine narzisstische Kränkung. Im Gegenteil: Wenn kein himmlischer Körper näher an Gott ist als ein anderer, dann hat jeder denselben Wert. Und dann ist die Erde nicht länger der niedrigste und dunkelste Platz im Universum, in dessen Zentrum sich die Hölle, der Ort der größten Seinsferne, befindet, wie noch Dante in ‚Die Göttliche Komödie‘ glaubte. „Und weil es wie aus dem eben Ausgeführten hervorgeht in Vollkommenheiten, Bewegungen und Gestalten das Größte oder Kleinste in der Welt nicht gibt, ist es nicht wahr, daß die Erde das Unterste und Schlechteste ist.“142 Die Erde wird in den Rang der Gestirne erhoben, in eine Sphäre, die vormals als göttlich galt. „Die Erde ist also ein edler Stern, der Licht und Wärme und einen anderen, von allen anderen Sternen unterschiedenen Einfluß besitzt, so wie sich jeder von jedem durch Licht, Natur und Einfluß unterscheidet.“143

Die Wiederentdeckung der Natur

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