Читать книгу Die Wiederentdeckung der Natur - Regine Kather - Страница 7

Einleitung

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„Darauf sprach der Herr zu Noach: Geh in die Arche, du und dein ganzes Haus, denn ich habe gesehen, dass du unter deinen Zeitgenossen vor mir gerecht bist. Von allen reinen Tieren nimm dir je sieben Paare mit, und von allen unreinen Tieren je ein Paar, auch von den Vögeln des Himmels je sieben Männchen und Weibchen, um Nachwuchs auf der ganzen Erde am Leben zu erhalten.“ (Gen. 7,1 – 3)

Die Frage, was Natur und welches die Stellung des Menschen im Kosmos ist, gehört zu den ältesten und grundlegendsten der abendländischen Philosophie. Ausgehend vom unablässigen Werden und Vergehen suchten die Vorsokratiker nach Prinzipien, die eine Ordnung im Wandel ermöglichen. Mit der Entstehung der modernen Naturwissenschaften seit dem 15. Jh. und durch die Kopernikanische Wende in der Erkenntnistheorie, die Kant vollzog, ging jedoch das Bewusstsein verloren, dass Menschen als leib-geistige Einheit ein Teil der Natur sind. Erst seit dem Beginn des 20. Jh. erlebt die Naturphilosophie eine Renaissance, die sich mit den Namen von M. Scheler, H. Plessner, N. Hartmann, H. Conrad-Martius, A. N. Whitehead, H. Jonas und K. Meyer-Abich verbindet. Durch Evolutions- und Quantentheorie einerseits, durch die ökologische Krise andererseits erlangte sie eine ethisch-praktische Bedeutung, die weit über die theoretische Analyse hinausführt.

Erst heute wird das Streben Fausts zu ergründen, ‚was die Welt im Innersten zusammenhält‘, in seiner ganzen Zweideutigkeit sichtbar. Durch die Naturwissenschaften, die durch das systematische Experiment untrennbar mit dem Fortschritt der Technik verbunden sind, hat sich der Bereich des Beobachtbaren in raum-zeitlicher Hinsicht in ungeahntem Maß erweitert. Teleskope erschließen das All in immer größerer Tiefe und enthüllen die Geschichte des Universums über den unvorstellbaren Zeitraum von mehr als 15 Milliarden Jahren; den Mikrokosmos bevölkern schon längst nicht mehr nur Elektron, Proton und Neutron, sondern eine Fülle von Teilchen, die oft nur wenige Bruchteile von Sekunden überdauern. Durch die Technisierung der Lebenswelt, die ungebrochen wachsende Weltbevölkerung und den steigenden Lebensstandard werden die natürlichen Ressourcen immer schneller ausgebeutet, sodass sie sich nicht regenerieren können. Die globale Dimension der Naturzerstörung macht sichtbar, wie sehr die Menschheit das Maß für das verloren hat, was machbar ist und was sich ihrem Willen entzieht. Ohne einschneidende Korrekturen werden durch den Klimawandel, soweit sind sich Ökologen und Ökonomen inzwischen einig, Lebensqualität und Lebensstandard in den nächsten Jahren dramatisch sinken.

Die Überzeugung, dass alle Probleme technisch lösbar sind und die Natur nahezu vollständig beherrschbar ist, verbindet sich mit einer materialistisch-nihilistischen Grundstimmung, mit dem Gefühl von Sinnleere, Geworfenheit und Existenzangst. Weder die Naturwissenschaften noch die Haltung uneingeschränkter Machbarkeit können die bohrende Frage nach dem Ziel und Sinn des Lebens beantworten. Durch eine rein naturwissenschaftliche Erklärung aller materiellen Prozesse sind die Menschen mit ihren qualifizierten Empfindungen, Gedanken und Werten aus der Natur aus- und in die Innerlichkeit ihres Geistes und ihrer kulturellen Erzeugnisse eingeschlossen. Sinn beruht, im Sinne von Sartres Version des Existentialismus, nur auf dem eigenen Lebensentwurf und ist damit radikal endlich. Nur wenn sich die Grundeinstellung zur Natur ändert und sie nicht nur als Ressource, sondern auch in ihrem Eigenwert wahrgenommen wird, können sich Menschen in ihrer leib-geistigen Konstitution als deren Teil verstehen und ihrem Handeln eine andere Ausrichtung geben.

Um diesen Gedanken zu entwickeln, werden über die Grenzen einzelner Disziplinen hinweg Impulse aus Philosophie, den empirischen Wissenschaften und ästhetischen Erfahrungen berücksichtigt. Das Buch gliedert sich in zwei Teile: Der erste Teil bietet einen Überblick über repräsentative Konzeptionen der Natur von der Antike bis zur Gegenwart, die auf ihre anthropologischen und ethischen Implikationen hin befragt werden. Bei der Auswahl der Texte war keine ideengeschichtliche Rekonstruktion das Ziel, sondern das Bemühen, andere Perspektiven auf die Natur sichtbar zu machen und Defizite des modernen Naturverständnisses zu korrigieren, die eine Folge der einseitigen Betonung der naturwissenschaftlich-technischen Methode sind. Im Spiegel der Vergangenheit zeigt sich, dass Mensch und Natur keineswegs Gegenspieler sind, sobald alle Entitäten durch innere wie äußere Relationen verbunden und nicht nur natura naturata, sondern auch natura naturans sind. Obwohl die Modelle früherer Epochen nicht bruchlos in die Gegenwart übertragbar sind, lassen sich zumindest einige Impulse in einen veränderten Kontext integrieren. Das Anliegen des zweiten, systematischen Teils ist es daher, die Argumente zusammenzutragen, die Menschen in ihrer leib-geistigen Verfasstheit wieder als Teil der Natur zeigen.

Ursprünglich waren sie als Jäger und Sammler in den Rhythmus einer allgegenwärtigen Natur eingebettet, die sie nährte und bedrohte, die Leben spendete und es wieder auslöschte. Erst mit dem Übergang zum Ackerbau wurde eine neue Phase eingeleitet: Aus einem noch unüberschaubar weiten Raum wurden kleine Enklaven ausgegrenzt, in denen sie ihre eigene Ordnung errichteten. Eine Wertung bahnte sich an, die bis in die Gegenwart bestimmend blieb: Die Natur erschien als wilde, ungebändigte, chaotische Macht, die Kultur dagegen als wohlgeordneter, Sicherheit, Freiheit und Selbstbestimmung gewährender Bereich, der als Ausdruck des menschlichen Geistes der Natur überlegen zu sein schien. Dennoch verstanden sich die Menschen noch im Mittelalter als Teil des Kosmos, dessen Ordnung auf dem Zusammenwirken aller Entitäten beruhte. Der Mensch galt als Glied in der Kette der Wesen, als ein Mikrokosmos, der alle Strukturen wie in einem Brennpunkt in sich versammelt. Auch die Natur erschien noch nicht als die Gesamtheit äußerlich sichtbarer und durch mechanische Kräfte verbundener Objekte; den Formenreichtum der sinnlich-sichtbaren Natur erklärte man sich durch eine innere, geistige Dynamik. Die Unterscheidung zwischen natura naturata und natura naturans bestimmte das Denken von Platon bis zu Spinoza, Leibniz und Schelling; wir werden ihr in veränderter Form im 20. Jh. wieder begegnen. Ihrer immanenten Dynamik verdankt die Natur ihren ästhetischen Ausdruck und ihren intrinsischen Wert. Beide gründen jedoch letztlich nicht in der Vielzahl endlicher Formen, sondern in einem unendlichen Sein, auf das sie verweisen.

Doch obwohl für die griechischen Philosophen wie für die Autoren der Bibel die Natur einen Eigenwert hatte und schon in der Antike durch die Abholzung der iberischen Halbinsel und des Apennin ökologische Schäden erkennbar waren, wurde keine Ethik der Natur entwickelt. Erst im Mittelalter verweist Hildegard von Bingen mit Argumenten, bei denen sich die theozentrische, kosmozentrische und anthropozentrische Perspektive durchdringen, auf die menschliche Verantwortung. Da der Mensch ohne die anderen Kreaturen kein Mensch sein könnte, käme deren Vernichtung seiner Selbstzerstörung gleich. Mit diesem Argument entwickelt Hildegard ein relationales Verständnis der Natur, das die Rückwirkung maßlosen Verhaltens auf den Menschen in den Blick rückt. Auch Cusanus, der die Natur als explicatio Dei begreift, hebt die Verbundenheit aller Entitäten durch innere und äußere Relationen hervor, – ein Gedanke, der nicht nur Leibniz und Whitehead inspiriert hat, sondern auch für die moderne Ökologie grundlegend ist.

Erst mit der Entwicklung der Naturwissenschaften im 15. Jh. und der methodischen Orientierung an Daten, die sich empirisch im systematischen Experiment überprüfen lassen und deren Zusammenhang mathematisch-formal darstellbar ist, gerät die Unterscheidung von natura naturata und natura naturans aus dem Blick. Descartes markiert den Wendepunkt, an dem sich das derzeit vorherrschende Naturverständnis herauskristallisiert. Alle materiellen Prozesse, die des menschlichen Körpers eingeschlossen, werden kausal-mechanisch erklärt. Die Natur erscheint nicht mehr als ein großer Organismus, sondern gleicht einem Uhrwerk, dessen Räder exakt ineinander greifen. Aus dem empirisch-naturwissenschaftlich verstandenen Sein der Natur lässt sich kein ethisches Sollen mehr ableiten. Ziele und Werte erscheinen als Konstruktionen des menschlichen Geistes, über die man sich in einem rationalen Diskurs verständigen kann. Die Natur wird zu einem wertfreien Objekt, das der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse dient. Durch seinen Geist steht der Mensch einer naturgesetzlich determinierten Natur wie ein extramundaner Beobachter gegenüber, sodass die Eingriffe in die Weltmaschine, die einem unveränderlichen Plan folgt, nicht auf ihn zurückzuwirken scheinen. Bis heute gliedert sich für viele Autoren der hermeneutischen wie der analytischen Philosophie die Wirklichkeit nur in Personen und Sachen.

Dennoch ist seit Descartes die Kritik an der durchgängigen Physikalisierung des Physischen nicht abgerissen. Einer der ersten Kritiker war Leibniz, der nicht nur das Motiv der Kette der Wesen wieder herstellt, sondern auch, wie Cusanus, die Verflechtung aller Entitäten betont. Herder wiederum thematisiert Kontinuität und Diskontinuität von Mensch und Tier unter dem Blickwinkel der Sprache. Und Alexander von Humboldt hebt die Einbettung menschlicher Lebensformen in kosmologische, geologische und klimatische Bedingungen hervor.

Im 19. und 20. Jh. unterminierten Evolutionstheorie und Astrophysik die Überzeugung, dass die Arten und die Ordnung der Natur unveränderlich sind. Relativitäts- und Quantentheorie zerstörten die Vorstellung, dass die Bausteine der Materie harte, unwandelbare Partikel sind. Die umfassendste Antwort auf die von den Naturwissenschaften selbst ausgehenden Herausforderungen stellt die Naturphilosophie Whiteheads dar, die eine Synthese wissenschaftlicher, lebensweltlicher, ästhetischer und ethischer Aspekte bildet. Durch die Integration platonischer und kantischer Elemente gewinnt die Natur ihre ontologische Bedeutung als Bedingung des Erkennens und Handelns zurück und erscheint als ein Prozess der Koevolution zahlloser Entitäten, zu denen auch der Mensch gehört.

Im zweiten Teil des Buches steht die Frage im Mittelpunkt, wie sich Menschen in ihrer leib-geistigen Konstitution wieder als integralen Teil der Biosphäre begreifen und eine ethische und ästhetische Orientierung gewinnen können, die in Einklang mit ökologischen Anforderungen steht. Die ökologischen Probleme, die durch ein Übermaß an technischen Interventionen ausgelöst wurden, lassen sich nur durch die Entwicklung noch effizienterer Technologien nicht lösen. Da die Technik für sich genommen keine normative Orientierung beinhaltet, muss sie durch ethische Werte geleitet werden. Doch nur wenn Menschen sich in ihrer leib-geistigen Konstitution zugleich als Vernunftwesen und als Teil der Natur begreifen, kann diese in ihrem ethischen und ästhetischen Eigenwert in den Blick treten. Dadurch ändert sich das Verhältnis zur Natur strukturell: Die objektivierende Einstellung, die für Naturwissenschaft, Technik und Ökonomie leitend ist, wird vom Bewusstsein der Partizipation umgriffen und in ihre Grenzen verwiesen.

Ihre Dynamik erhält die fortschreitende Naturzerstörung vor allem durch den westlich geprägten Lebensstil und ökonomische Modelle, die auf Wirtschaftswachstum durch immer mehr Konsum beruhen. Während die ökonomische Entwicklung an einem linearen Wachstumsmodell orientiert ist, das bislang auch da noch angewendet wird, wo der Klimawandel mithilfe technischer Lösungen begrenzt werden soll, beruht die Dynamik natürlicher Systeme auf einem in sich rückgekoppelten Zusammenspiel von Teilen und Ganzem. Ökonomische und politische Modelle gehen folglich von graduellen Veränderungen aus, die sich in langen Zeiträumen vollziehen und als überschaubar, berechenbar und beherrschbar gelten; Systeme dagegen gehen schlagartig in einen anderen Ordnungszustand über, wenn sich das Zusammenspiel einzelner Komponenten verändert. Die Diskrepanz zwischen ökonomischen Modellen und der systemischen Dynamik der Biosphäre wird deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass die letzte Eiszeit nicht durch eine allmähliche Abkühlung eingetreten ist, sondern vermutlich in nur wenigen Jahren zur Vereisung der Seen Nordeuropas führte. Außerdem greift die Vorstellung zu kurz, man könne den Klimawandel beschränken, indem man eine einzelne Ursache, etwa die Produktion von CO2, beseitigt. Als System lässt sich die Biosphäre nicht in einzelne Komponenten zerlegen, sodass die Veränderung nur eines Faktors deren Zusammenspiel insgesamt verändert. Übersehen wird, dass sich die Eigendynamik der Biosphäre nicht so regulieren lässt wie ein Heizungssystem, bei dem man die Temperatur bei ansonsten unveränderter Funktionsweise neu einstellt. Schon aus rein anthropozentrischen Motiven muss der ressourcenintensive Lebensstil so korrigiert werden, dass er sich in die komplexe Dynamik der Biosphäre einfügt. Gelingen kann dieser Schritt freilich nur, wenn der Ausgang vom Subjekt, der durch Kant philosophisch legitimiert und in den letzten Jahrzehnten gesellschaftlich dominant wurde, korrigiert wird und wieder etwas akzeptiert werden kann, das den Horizont menschlichen Wollens und Handelns überschreitet.

Während die Kette der Wesen auf der seelisch-geistigen Verwandtschaft der Kreaturen beruhte, entdeckte die Evolutionstheorie die genetische Zusammengehörigkeit. Dennoch teilen für Darwin gerade aufgrund der gemeinsamen Vorgeschichte die Menschen viele psychische Eigenschaften mit anderen Lebewesen. Die Beobachtung, dass sie nur durch die Anpassung an eine spezifische Umwelt überleben können, stellt außerdem die neuzeitliche Substanzontologie in Frage. Unter ökologischer Perspektive sind Lebewesen keine für sich bestehenden Entitäten, die sich in einem unablässigen Kampf gegen andere durchsetzen. Sie sind integrale Elemente von Ökosystemen, die nur aufgrund der Abstimmung ihrer Aktivitäten mit der Lebensweise zahlloser anderer Organismen überleben können. Dadurch bahnt sich ein Wechsel der Perspektive an, die die letzten drei Jahrhunderte vorherrschend war: Auch Menschen sind, biologisch gesprochen, offene Systeme. Obwohl sie schon zur Sicherung des Überlebens in die Dynamik der Biosphäre eingreifen, sie benutzen und verändern, sind sie durch ihre körperlichen Funktionen auf spezifische Lebensbedingungen angewiesen. Die Biosphäre stellt ihrerseits Anforderungen an das Handeln, denen dieses entsprechen oder die es verfehlen kann. Mit ihren körperlichen Funktionen und kulturschöpferischen Aktivitäten sind die Menschen ein integraler Teil der Biosphäre, sodass Natur und Kultur in ihrer Dynamik nicht voneinander unabhängig sind. Durch die moderne Technik hat der Radius des Handelns inzwischen in räumlicher Hinsicht eine globale Perspektive erlangt; in zeitlicher Hinsicht erstreckt er sich auf unüberschaubar viele Generationen. Wenn, so argumentiert vor allem Jonas, das menschliche Leben ein Gut ist, das es zu erhalten gilt, dann haben Menschen die Pflicht, mit den natürlichen Ressourcen so umzugehen, dass auch kommende Generationen ihre körperlichen und geistigen Möglichkeiten noch entfalten können. Damit ist jeder Theorie eine Absage erteilt, die die Natur als irrelevant für die Ethik ansieht und sie nur auf Interessenabwägung und Konsens gründet.

Doch haben Menschen eigentlich das Recht, den Lebensraum des gesamten Planeten für sich zu beanspruchen? Wenn, wie die Evolutionstheorie lehrt, auch andere Kreaturen bereits ein Moment der Subjektivität besitzen und qualifizierte Perzeptionen ebenso wie Lust und Schmerz unterscheiden können, dann muss ein rein anthropozentrisches Interesse an der Erhaltung der Natur überschritten werden. Zumindest die belebte Natur ist nicht das ganz Andere, Fremde. Durch die Möglichkeit, mit anderen Lebewesen zu kommunizieren, erweitert sich der Lebenshorizont in emotionaler und kognitiver Hinsicht. Sieht man zudem in den unterschiedlichen Manifestationen des Lebenswillens eine implizite Bejahung des eigenen Seins, dann ist die belebte Natur kein wertindifferenter Funktionszusammenhang, sondern hat, wie Jonas betont, ein sittliches Eigenrecht. Während sich die kontinentaleuropäische Tradition auf die Idee der Würde der Kreatur beruft, argumentiert die angelsächsische Tradition in Anlehnung an Locke, dass jedes Mitglied einer Gemeinschaft ein Recht auf den Schutz seines Lebens habe. Trotz unterschiedlicher Ausgangspunkte konvergieren die Argumente in der Überzeugung, dass der Radius ethischer Pflichten erweitert werden muss.

Da man Individuen und Arten nur schützen kann, wenn man auch ihr Lebensumfeld erhält, muss letztlich die Biosphäre insgesamt, zumindest soweit es in der Hand der Menschen liegt, erhalten werden. Sie ist das umfassendste System dieses Planeten und die Lebensgrundlage aller Kreaturen, sodass nationale und kulturelle Grenzen überschritten werden. Wie die Häute einer Zwiebel umfasst die Ethik daher immer mehr Dimensionen: Sie reicht von einer anthropozentrischen über eine patho- und biozentrische bis zu einer holistischen Perspektive. Zumindest in einigen Ländern hat inzwischen auch die Gesetzgebung einem veränderten Verständnis der Natur Rechnung getragen.

Es wäre jedoch einseitig, würde man nur die bedrohliche Dimension der Entwicklung betonen und Furcht zum entscheidenden Motiv der Veränderung machen. Die Erkenntnis der Verletzlichkeit der Natur birgt die große Chance, sie in völlig neuer Weise zu entdecken. Noch nie zuvor wurden weltweit so viel Engagement und Kapital eingesetzt, um bedrohte Arten zu schützen, intakte Ökosysteme zu bewahren und zerstörte Landschaften zu renaturieren. Nicht nur das Gefühl der Verantwortung, auch die Freude an der Schönheit der Natur und das Bedürfnis, den Schattenseiten der Zivilisation zu entrinnen, wird inzwischen für zahllose Menschen zur Motivation, ein neues Verhältnis zur Natur zu erproben. Weltweit wurden die Ideen des Nationalparks und der Wildnis, die am Ende des 19. Jh. in den USA entstanden, zu Modellen für den bisher umfassendsten Schutz von Ökosystemen, die durch die in den 1960er-Jahren einsetzende Ökologiebewegung noch einmal einen neuen Akzent erhielten.

Die Tatsache, dass die Menschen in die Biosphäre eingebettet sind, sollte allerdings nicht mit der romantischen Vorstellung verwechselt werden, dass sie in den Mutterschoß der Natur zurückkehren können. Soweit sich die Geschichte der Hominiden zurückverfolgen lässt, gehört die Technik zu ihrer Lebensweise. Doch die Veränderung im Verhältnis des Menschen zur Natur fordert auch eine veränderte Einstellung zur Technik. Ziel ist die Entwicklung von Technologien, die sich in die Biosphäre einfügen und anderen Kreaturen den Raum für ihre Entwicklung gewähren. Sieht man in der Anerkenntnis von Grenzen die Bedingung ihrer Überschreitung, dann erweitert sich durch den Verzicht auf eine einseitige Durchsetzung menschlicher Interessen der Lebenshorizont.

Das Naturverständnis, so wird sich immer wieder zeigen, lässt sich nicht von der Anthropologie und den das Handeln leitenden Werten trennen. In gewisser Weise kann man daher dieses Buch als den dritten Teil einer Trilogie ansehen: Die Bücher ‚Was ist Leben?‘ (Darmstadt 2003) und ‚Person‘ (Darmstadt 2007) ergänzen die Überlegungen dieses Bandes, dessen Schwerpunkt auf der Einbettung des Menschen in die Natur liegt. Abgesehen von der Fragestellung wurde die Auswahl der Autoren daher auch von dem Bemühen bestimmt, Überschneidungen zu vermeiden.

Die Wiederentdeckung der Natur

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