Читать книгу Die Wiederentdeckung der Natur - Regine Kather - Страница 18
4.2 Intelligentes Leben als Moment eines grenzenlos-unendlichen Universums
ОглавлениеDie Überzeugung, dass die Menschen mit ihrer Vernunftbestimmtheit ein Teil der Natur sind, hat, wie bei Hildegard, eine kosmologische und eine anthropologische Dimension: Zum einen ist die Natur nicht geistlos, sodass die Menschen überall auf Spuren des Geistes stoßen, den sie von sich selbst kennen; zum anderen sind sie leibgebundene Wesen und können ihre Identität nicht, wie Descartes glaubt, nur auf das denkende Ich gründen. Das menschliche Individuum ist eine Einheit von Geist, Seele und Körper. „Wir schauen die Kraft oder Einheit der Seele nicht in ihr selbst, sondern in sinnlicher Weise in ihrer körperlichen Ausfaltung. Genauso erfassen wir auch die Vernunft-Einsicht nicht in ihr selbst, sondern in der Seele, und die erste einfachste und absoluteste Einheit nicht so, wie sie ist, in ihr selbst, sondern in der Vernunft-Einsicht wie in einer Zahl und in einem Zeichen. Gott ist also die Gestalt der Vernunft-Einsicht, diese die der Seele, die Seele die des Körpers.“144 Auch bei Cusanus lassen sich die körperlichen Funktionen noch nicht mechanisch erklären; in ihnen drückt sich das Leben von Seele und Geist aus. Dadurch können Menschen mit anderen Kreaturen kommunizieren und diese sich ihrerseits auf die Stimmungen, Absichten und Ziele ihres menschlichen Gegenübers einstellen. Da sich im Körper seelisch-geistige Prozesse manifestieren, ist nicht nur der Geist, sondern auch der Körper einzigartig. Es ist der Leib dieses Individuums. Jeder Mensch ist durch seinen Leib, seine Seele und seinen Geist ein einzigartiger Teil des Universums. Obwohl qualifizierte Sinneswahrnehmungen für den Wissenserwerb nicht ausreichen, sind sie, anders als bei Descartes, unverzichtbar.145
Aus der Dezentrierung des Universums ergibt sich eine weitere Konsequenz: Der unwiederbringliche Verlust des räumlichen Zentrums beinhaltet für Cusanus nicht den Verlust von jeglichem Mittelpunkt. Indem er die Differenz zwischen dem materiell-räumlichen und dem geistigen Mittelpunkt betont, wird die Bedeutung der Immanenz des Geistigen sogar klarer herausgearbeitet als bei Hildegard. Wenn nämlich Gott, wie die Bibel lehrt, Geist ist und im Geist verehrt werden soll, dann kann er gar nicht an einer Stelle im Raum lokalisiert und in seiner Anwesenheit auf einen bestimmten Zeitpunkt begrenzt werden. Er ist nicht erst hier und dann da, sondern jenseits des Gegensatzes von hier und dort, früher und später. Dadurch ist er das immaterielle und azeitliche Zentrum des gesamten Universums. Und nur durch ihn ist es in einem nicht-räumlichen Sinne begrenzt: Nur im Vergleich zur göttlichen Schöpferkraft ist es endlich. Gott selbst ist daher nicht nur der allgegenwärtige Mittelpunkt, sondern auch Grenze und Umkreis des Universums. Cusanus zitiert eine Aussage, die aus der neuplatonischen Philosophie stammt und auf die sich auch Bruno und Leibniz stützen werden: „Darum verhält sich der Weltbau so, als hätte er überall seinen Mittelpunkt und nirgends seinen Umkreis, da sein Umkreis und sein Mittelpunkt Gott ist, der überall und nirgends ist.“146 Dadurch kann man Gott nicht nur auf der Erde, sondern überall im Universum, an jedem Platz und zu jeder Zeit finden. „Derjenige, der Mittelpunkt der Welt ist, Gott, der Gepriesene, ist auch Mittelpunkt der Erde, der Sphären und alles dessen, was in der Welt ist. Und zugleich ist er aller Dinge unendlicher Umfang.“147
Wenn alle Gestirne gleichrangig sind, liegt der Gedanke nahe, dass es auch auf ihnen intelligente Bewohner geben könnte. Bei Cusanus verbindet sich die platonische Überzeugung, dass die Kosmologie die Aufgabe hat, den Aufbau der Natur mitsamt der Vielfalt an Kreaturen zu thematisieren, mit der modernen Vorstellung, dass das Universum homogen ist. „Dabei nehmen wir an, daß keine Region der Bewohner entbehrt.“148 Es könnte allerdings sein, dass sich die Bewohner unterschiedlicher Sterne im Grad ihrer Geistigkeit unterscheiden. Möglicherweise sind sie sogar bewusster als Menschen und nehmen intensiver an der Wirklichkeit teil. Auch nach mittelalterlicher Vorstellung galt der Mensch nur auf der Erde als Krone der Schöpfung; in Hinblick auf die Gottesnähe war er jedoch keineswegs das höchste der Geschöpfe: Als reine Geistwesen standen die Engel über ihm. Aufgrund der Dezentrierung des Universums dreht es sich bei Cusanus jedoch nicht mehr um Intelligenzen in anderen Sphären, sondern um Wesen innerhalb des von Menschen bewohnten Universums. Cusanus vertritt demnach keinen Speziezismus: Der Wert einer Lebensform hängt nicht an der Zugehörigkeit zur biologischen Gattung, sondern am Grad ihrer Geistigkeit.
Nicht, wozu andere Lebensformen fähig sind, ist entscheidend, sondern dass sie durch die Form ihrer Geistigkeit in eine unmittelbare Beziehung zu Gott treten können. Da er als Seinsgrund allgegenwärtig ist, ist jede von ihnen in Gott gegründet. Sie partizipiert auf ihre besondere Weise am geistigen Mittelpunkt des Alls, der trotz der Dezentrierung des Universums und der Relativbewegung aller Himmelskörper eine Orientierung verleiht. „Denn die Bewegung aller ist auf Gott gerichtet.“149 Für Cusanus wäre also die von modernen Astrophysikern ersehnte Kommunikation mit anderen Intelligenzen aufgrund einer gewissen Ähnlichkeit ihrer geistigen Struktur möglich gewesen.
Im Jahr 1972 wurde eine Pioneer-10-Sonde ins Weltall gesandt, die eine Plakette trug, die eine Kontaktaufnahme mit außerirdischen Intelligenzen ermöglichen sollte. 1997 verließ sie das Sonnensystem mit einer Geschwindigkeit von 54 000 Kilometern pro Stunde. Die Zeichnung auf der Plakette bedient sich der Symbolik früher Bildschriften und vermittelt grundlegende Daten über die Menschheit: Wie wir aussehen, wie groß wir sind, dass es zwei Geschlechter gibt und wo im Universum unser Heimatplanet ist. Offensichtlich waren die Autoren der Botschaft, die Nasa und der Wissenschaftler Carl Sagan, überzeugt, dass wir nicht die einzigen intelligenten Wesen sind, sondern dass noch andere Wesen in der Lage sind, symbolisch verschlüsselte Botschaften zu verstehen und eine hoch entwickelte Technologie besitzen, mit deren Hilfe sie Radioteleskope und Raumschiffe konstruieren können. Vielleicht wäre ihre Technologie sogar weiter entwickelt als unsere, sodass sie ihr Sonnensystem verlassen und unsere Sonde auf ihrem Weg durchs Universum abfangen und anschließend mit uns Kontakt aufnehmen könnten. Offensichtlich glaubten die Konstrukteure der Sonde auch, dass wir diese Intelligenzen friedlich begrüßen und diese ihrerseits uns in freundlicher Absicht aufsuchen würden. Es handelt sich um ein erstaunlich optimistisches Menschenbild, wenn man sich vergegenwärtigt, wie sich die Besiedlung anderer Kontinente seit der Renaissance tatsächlich vollzogen hat und dass die ersten bemannten Reisen ins All ebenso wie die erste Mondlandung einen erbitterten Wettkampf um Prestige und Macht zwischen den USA und der damaligen UdSSR auslösten. Ebenso wenig wie bei unserer eigenen Spezies wird bedacht, dass auch andere Intelligenzen zum Guten wie zum Bösen fähig und deshalb bei der Kontaktaufnahme von niederen Motiven, von der Gier nach Macht, Prestige oder Besitz, geleitet sein könnten. Außerdem waren die Autoren der Botschaft überzeugt, dass die Vernunft nicht nur die Einheit der Menschheit, sondern sogar die aller intelligenten Wesen im Weltall ermöglicht. Damit würde sie zur Grundlage für eine die Gattungen übergreifende ethische Orientierung, für gegenseitigen Respekt und den friedlichen Austausch von Erfahrungen und Gütern.
Dass der Sonde eine symbolisch verschlüsselte Botschaft mit auf den Weg gegeben wurde, verrät daher ein weiteres Motiv: Es dreht sich nicht nur um die wissenschaftlich distanzierte Erforschung der Frage, ob es noch woanders intelligente Lebewesen gibt, sondern auch um den Wunsch, mit ihnen zu kommunizieren. Wenn es, wie Cusanus und moderne Astrophysiker vermuten, vernunftbestimmte Wesen gibt, die nicht zur menschlichen Spezies gehören, erweitert sich allerdings auch der Radius ethischer Pflichten: Wir hätten ihnen gegenüber Pflichten und müssten ihre Rechte respektieren. Außerdem könnte man ihre Existenz nicht mehr durch ein zufälliges und äußerst unwahrscheinliches Zusammentreffen voneinander unabhängiger Bedingungen erklären. Der Mensch wäre nicht, wie Monod glaubte, ‚ein Zigeuner am Rande des Universums‘, der einsam und verloren in der unermesslichen Weite des Weltraumes auf einem unscheinbaren Planeten eine durchschnittliche Sonne umkreist. Wie die Erde wäre das ganze Universum ein Ort, der Lebewesen beheimaten kann. Die Entstehung des Lebens und dessen Entwicklung zu immer komplexeren Formen, so glauben viele Astrophysiker heute, kann sich zwar nur unter bestimmten Bedingungen vollziehen; wenn diese jedoch vorhanden sind, dann entwickelt es sich vermutlich mit Notwendigkeit.
Doch auch die Erklärung durch Zufall und Notwendigkeit wirft Fragen auf, die sich allein mit der Methode der Naturwissenschaften nicht mehr beantworten lassen und eine nicht geringe Zahl von Astrophysikern zu Metaphysikern macht: Wie konnten das Universum und die Naturgesetze, die seine Entwicklung steuern, entstehen? Was geschah ‚im Anfang‘ von allem? Die Astrophysik ist die Disziplin, bei der das Denken unweigerlich an seine Grenzen stößt. R. Kippenhahn schreibt: „Galaxien und mit ihnen Menschen können nur in einem Weltall entstehen, in dem Unregelmäßigkeiten, die nicht zu Galaxien führen, mit der Zeit abklingen. Es scheint mir wichtig zu sein, daß man festhält, daß, wer immer die Welt entstehen ließ, eine Auswahl getroffen hat. Der Anfangszustand des Weltalls [ist] außerhalb der Physik. Wer war es, der die Welt in die Physik warf? Die Physik kann uns dazu nichts sagen, so wie uns die Ballistik nicht den Namen des Schützen verrät, der auf uns zielte. Die Frage nach Ursache und Urheber, sosehr sie sich uns aufdrängt, können wir nicht naturwissenschaftlich beantworten. Je mehr ich darüber nachdenke, um so weniger verstehe ich, warum naturwissenschaftliche Erkenntnisse Glaubensvorstellungen verdrängen sollen.“150