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Was fällt auf?


Die Lehrperson unterrichtet seit neun Jahren Geschichte an einer Berufsmaturitätsschule. Laut ihrer Erfahrung ist die mündliche Beteiligung generell ein großes Problem, besonders aber bei den Detailhandels-Berufsmaturitäts-Klassen.

Die Lehrperson beschreibt einen bestimmten Fall, an dem sie die Probleme der mündlichen Beteiligung in Detailhandels-BM-Klassen exemplarisch verdeutlicht.

Der Unterricht der besagten Klasse findet jeweils am Freitagmorgen statt. Die Klasse sitzt in einer Hufeisenform, die Platzwahl ist frei. Auf der linken Seite der Hufeisenform sitzen fünf Mädchen, denen die Lehrperson unterstellt, sie wollten sich mündlich nicht am Unterricht beteiligen. Sie ergänzt, ohnehin würden sich «nur etwa 20 bis 25 Prozent der Klasse regelmäßig mündlich beteiligen». Drei bis vier Schülerinnen und Schüler beteiligen sich in der Wahrnehmung der Lehrperson konstant, zwei bis drei weitere «nach Lust und Laune». Vom «Rest», die linke Reihe eingeschlossen, berichtet die Lehrperson, dass die Schülerinnen und Schüler «auch nach mehrmaligem Nachhaken nicht zum Mitmachen zu bewegen» seien. Die Ausdrucksweise legt nahe, dass es die Lehrperson viel Kraft kostet, die mündliche Beteiligung vermehrt über die ganze Klasse zu verteilen. Auch das Wissen, dass sich die mündliche Beteiligung «notenmäßig auf die Semesternote auswirken würde», worin die Lehrperson einen gewissen «Druck» sieht, «verleite» die Mädchen nicht zur aktiven Beteiligung. Mit dieser Aussage stehen wiederum die Mädchen auf der linken Seite im Fokus, die in der Wahrnehmung der Lehrperson eine Gruppe mit gruppenkonformem Verhalten (sich nicht mündlich am Geschichtsunterricht zu beteiligen) zu bilden scheinen. Auch der Hinweis, dass es von Vorteil sei, den mündlichen Unterricht als Trainingsmöglichkeit für die mündliche Berufsmatur zu nutzen, kann «nicht zum Mitmachen animieren». Die Lehrperson beschreibt den mündlichen Unterricht als eine Situation, in der sie mit verschiedenen Lockmitteln sozusagen zum Mitspielen anregen will. Ein eigentliches pädagogisches Ziel der mündlichen Beteiligung bleibt dabei unausgesprochen.

Die bis zu diesem Punkt des Falles beschriebene mangelnde mündliche Beteiligung bezieht sich auf die Quantität der Wortmeldungen. Wie beiläufig kommt die Lehrperson in einem einzigen Satz auf die Qualität der Antworten zu sprechen: Wenn sie den Mädchen in der linken Reihe spontan Fragen stellte, waren die Antworten «ungenügend». Ob das wirklich jedes Mal zutraf und wie die Lehrperson auf die ungenügenden Antworten reagierte, schreibt sie nicht, auch nicht, wie sie die Fragen gestellt hat und um welchen Schwierigkeitsgrad es sich bei den Fragen handelte. Dass es für die Schülerinnen eher schwierig ist, aus dem Stegreif heraus eine sprachlich und inhaltlich qualitativ hochstehende Antwort zu geben, ist nachvollziehbar.

Die Lehrperson schildert zum Schluss, dass sie die Mädchen auf die mangelnde Mitarbeit anspricht, wobei nicht klar wird, ob sie sie direkt vor der Klasse, nach dem Unterricht, als Gruppe oder einzeln anspricht. Die dokumentierten Antworten der Mädchen beziehen sich einerseits auf den Unterricht («die Fragen sind zu schwierig»), auf ein fachunabhängiges Verhalten («ich habe im Unterricht noch nie mündlich mitgemacht, auch in anderen Fächern nicht») oder auf ein mangelndes inhaltliches Interesse («Geschichte interessiert mich nicht»). Die Lehrperson hat diese Aussagen offenbar einfach zur Kenntnis genommen, ohne mit den Schülerinnen weiter über ihre Erfahrungen mit mündlicher Beteiligung zu sprechen. Zusätzlich holt die Lehrperson ein Feedback ein. Sie stellt fest, dass der «Großteil der Klasse […] allerdings mit dem Unterricht zufrieden war». Auf welche Weise dieses Feedback erhoben wurde, ob es sich um eine mündliche oder schriftliche generelle Einschätzung oder eine Befragung anhand eines Fragebogens mit vorgegebenen Kriterien handelte, beschreibt die Lehrperson nicht.

Das Problem der mangelhaften mündlichen Beteiligung aus der Sicht der Lehrperson wird von den Schülerinnen und Schülern nicht negativ beurteilt, vielleicht auch nicht einmal wahrgenommen. Für sie steht vermutlich im Vordergrund, ob der Unterricht interessant ist.

Was ist das Problem?

Das Fallbeispiel beschreibt die mangelhafte mündliche Beteiligung von Lernenden im Geschichtsunterricht. Bei einer hufeisenförmigen Sitzordnung wird die linke Reihe von fünf Mädchen gebildet, die sich auch durch Nachhaken nicht mündlich am Unterricht beteiligen wollen. Lediglich drei bis vier Schülerinnen und Schüler sind aktiv, zwei bis drei weitere «nach Lust und Laune». Für die Nichtbeteiligung am Unterricht geben die Schülerinnen verschiedene Gründe an. Obwohl die mündliche Mitarbeit benotet wird und am Ende der Schulzeit eine mündliche Abschlussprüfung bevorsteht, können die Schülerinnen nicht zum Mitmachen bewegt werden. Wie ein Feedback zeigt, ist der Großteil der Klasse mit dem Unterricht zufrieden.

Zwei Probleme lassen sich erkennen:

–Die Vorstellung der Lehrperson von einem guten mündlichen Unterricht deckt sich nicht mit der Vorstellung der Lernenden von gutem Unterricht.

–Was ist ein guter mündlicher Unterricht und wie lässt er sich umsetzen?

Erklärungsansätze und Hintergründe

Annahmen der Lehrperson über die «Detailhandels-BM-Klasse»

Die Lehrperson sieht die mangelnde mündliche Beteiligung als besonders großes Problem bei Detailhandels-BM-Klassen. Es ist denkbar, dass sie oft ähnliche Erfahrungen mit früheren Klassen gemacht hat. Vielleicht aber findet sie die mündliche Beteiligung bei dieser Berufsrichtung auch ausgesprochen wichtig und wünscht sich deshalb eine besonders gute Beteiligung. Die Art und Weise, wie sich die Lehrperson ausdrückt, lässt ein Vorurteil vermuten: Detailhandels-Klassen beteiligen sich immer mangelhaft am mündlichen Unterricht.

Einflüsse auf die mündliche Beteiligung der Schülerinnen und Schüler im Unterricht

So wie die Erfahrungen der Lehrperson latent als Vorurteil in den Unterricht einfließen, so gilt dies auch für die Lernenden: Ihre Erfahrungen mit dem mündlichen Unterricht dürften einen direkten Einfluss auf ihre Beteiligung bzw. Nichtbeteiligung im Unterricht haben («ich habe im Unterricht noch nie mündlich mitgemacht, auch in anderen Fächern nicht»). Weitere Faktoren, die einen Einfluss auf das Verhalten im mündlichen Unterricht haben können, sind: persönliche Einstellung gegenüber dem von der Lehrperson gewünschten Verhalten; wahrgenommene Schwierigkeit, dieses Verhalten ‹korrekt› auszuführen; Annahme über die Akzeptanz oder Ablehnung des gezeigten Verhaltens durch andere, z. B. die Mitschülerinnen und -schüler oder die Lehrperson (vgl. hierzu die «Theorie des geplanten Verhaltens» [Ajzen und Fishbein 1977; Tonglet, Phillips und Read 2004]).

Gründe für die Nichtbeteiligung am Unterricht aus der Perspektive der Lernenden

Die Schülerinnen beschreiben verschiedene Gründe, warum sie sich nicht am Unterricht beteiligen:

–«Geschichte interessiert mich nicht»: Diese Aussage kann einerseits eine bequeme Rechtfertigung sein, sich dem Unterricht entziehen zu können, oder ein echtes Interesse fehlt tatsächlich. Bei einem fehlenden Interesse können eine Vielzahl von Faktoren dafür verantwortlich gemacht werden: z. B. mangelndes Sachinteresse; mangelnde Selbstwirksamkeit; fehlende Relevanz des Inhalts für die Schülerin; Kritik an der Qualität des Unterrichts, die zu einem tiefen situationsbedingten Interesse beiträgt (siehe Krapp 1992, 2002 zum Interessenbegriff).

–«Die Fragen sind zu schwierig»: Wenn die Schülerin die Fragen als zu anspruchsvoll erlebt, geht dies mit der Erfahrung einher, dass ihre Fähigkeiten und ihr Wissen ungenügend sind, um die Fragen beantworten zu können. In der Folge sinkt die Anstrengungsbereitschaft (Wahl et al. 2001). Vielleicht will sie sich auch nicht exponieren und benützt die angebliche Schwierigkeit der Fragen als Ausrede.

Denn im mündlichen Unterricht wird das Können oder Nichtkönnen direkt für andere sichtbar.

Es gibt weitere Gründe, warum sich Lernende kaum oder gar nicht am mündlichen Unterricht beteiligen. Darüber sprechen die Lernenden im Fallbeispiel allerdings nicht.

Überlegen Sie für sich selbst: Melden Sie sich gerne und jederzeit bei einer Diskussion in einer Seminar-Veranstaltung oder in einem großen Plenarraum vor versammelter Zuhörerschaft? Mussten Sie sich im Studium ab und zu oder dauernd überwinden, um ein Votum abzugeben? Oder gehören Sie zu denjenigen, die lieber zuhören?

Gründe für eine passivere Rolle können sein: Angst, sich zu exponieren; Angst, ausgelacht zu werden; Angst vor den besseren Leistungen anderer; Angst vor Misserfolg; Scheu, vor anderen zu sprechen; Bescheidenheit. Es kann von Lernenden, die sich nicht freiwillig melden, nicht sicher gesagt werden, ob sie etwas nicht können, sich nicht getrauen, nicht motiviert sind oder andere Gründe haben. Eine Nichtbeteiligung darf somit niemals gleichgesetzt werden mit Nichtkönnen.

Zur Frage der Qualität von Antworten im mündlichen Unterricht

Die Lehrperson schreibt in einem einzigen Satz, dass die Schülerinnen auf spontan gestellte Fragen nur Antworten von ungenügender Qualität geben. Worauf sich die mangelnde Qualität bezieht, die inhaltliche Sachkenntnis oder die Formulierung, beschreibt sie nicht. Ebenso erläutert sie nicht, was sie unter einer guten Antwort versteht. Wie die Lehrperson auf die ungenügenden Antworten reagiert, geht ebenfalls nicht aus der Beschreibung hervor. Wenn Schülerinnen und Schüler ungenügende Antworten geben, ist zunächst danach zu fragen, wie die Fragen gestellt werden: Entspricht das Anforderungsniveau den Lernenden? Ist die Frage interessant genug für die Lernenden, um sich konzentriert damit zu befassen? Ist die Frage klar genug gestellt? Welche Erwartungshaltung geht aus der Art der Fragestellung hervor? Sollen die Lernenden mit einem Wort, einem Satz, einer längeren Erklärung antworten? Nimmt sich die Lehrperson die Zeit, die Schülerin ausreden zu lassen, oder erwartet sie lediglich ein Stichwort? In der Reaktion auf die Antwort kann die Lehrperson ebenfalls verschiedene Verhaltensweisen zeigen: Sie kann eine Antwort einfach als falsch taxieren, sie kann eine andere Schülerin oder einen anderen Schüler aufrufen, sie kann die Frage in eine besser verständliche Form umformulieren, sie kann nachfragen, wie die Schülerin die Frage verstanden hat; sie kann aber auch mangelhafte Antworten aufgreifen und gemeinsam mit der Schülerin und/oder anderen Lernenden eine gute Antwort entwickeln.

Mangelnde bzw. mangelhafte Antworten können der Lehrperson also auch ein Feedback zu ihrer Frageweise geben und bilden in jedem Fall eine Herausforderung, sich stetig in der fragend-entwickelnden Unterrichtsform zu verbessern. Ungenügende Antworten können ebenso ein Problem der betreffenden Lernenden wie auch des methodischen Geschicks der Lehrperson sein.

Was ist guter mündlicher Unterricht?

Die Lehrperson legt ihrer Fallbeschreibung eine Vorstellung von gutem Unterricht zugrunde, die sie aber nicht erläutert und auch nicht begründet. Vordergründig scheint es ihr darum zu gehen, dass möglichst alle Schülerinnen und Schüler durch mündliche Beiträge den Unterricht anregen. Man könnte daraus schließen, dass für sie der Unterricht umso besser ist, je mehr er durch die Mitarbeit der Lernenden belebt wird. Warum die offenbar zahlreich gewünschten Beiträge notwendig sind und welcher Art die Beiträge sein sollen, wissen wir nicht.

Es gibt Lehrpersonen, die bei ihrem Unterricht die Interaktion ins Zentrum stellen. Ihnen ist es wichtig, dass möglichst lebhaft und interessant diskutiert wird. Das systematische Wissen wird daneben über Lehrmittel, Skripts, Arbeitsblätter, u. ä. vermittelt.

Andere Lehrpersonen bauen ihren Unterricht auf das fragend-entwickelnde Verfahren auf. Das systematische Wissen wird durch Vermittlung der Lehrperson direkt im Unterricht aufgebaut, unterbrochen durch Fragen an die Lernenden. Die Qualität dieses Unterrichts ist abhängig von der Qualität der Fragestellungen, der angemessenen Reaktion auf die Antworten der Lernenden und der Fähigkeit der Lehrperson, den roten Faden in allen Phasen des Unterrichts zu verfolgen und für die Lernenden sichtbar zu machen (vgl. die etwas plakative, im Kern aber durch viele Studien belegte berechtigte Kritik an der fragend-entwickelnden Unterrichtsmethode, vgl. Gudjons 2011).

Dubs (2009) beschreibt verschiedene Spielarten und die Qualitätsanforderungen der fragend-entwickelnden Unterrichtsform, wie klare Zielorientierung, vorbereitete und im Schwierigkeitsgrad angemessene Fragestellungen, Trennung von Information und Anregungen zum Nachdenken. Gudjons (2011) legt dagegen eher Gewicht auf eine gute Einbettung des Frontalunterrichts und plädiert für fragend-entwickelnde Unterrichtsphasen in Form von nur kurzen Einschüben.

Grell und Grell (2010) legen weniger Gewicht auf die mündliche Beteiligung selbst als vielmehr auf interessante, anspruchsvolle und im Schwierigkeitsgrad angemessene Aufgabenstellungen während des Unterrichts. Sie beschreiben mit ihren Unterrichtsrezepten ein konkretes Unterrichtsvorgehen, das von Berufsanfängerinnen und -anfängern wegen seiner Praktikabilität sehr geschätzt wird. Diese Unterrichtsform kann jedoch auch zu einem eintönigen und wenig interaktiven Unterricht verleiten.

Schwierigkeiten beim fragend-entwickelnden Unterrichtsgespräch

Die Lehrperson muss im fragend-entwickelnden Unterrichtsgespräch vielen Bedürfnissen gleichzeitig gerecht werden und zudem das Lernziel erreichen (Dubs 2009; Grell und Grell 2010; Gudjons 2011).

Im Klassenverband fühlen sich die Schülerinnen und Schüler nicht wirklich verantwortlich für das Ergebnis, weil die Lehrperson den Lernprozess in den Händen hat. Die Lernenden können eine passive Haltung einnehmen oder umgekehrt die Klasse als ‹Bühne› für Selbstinszenierungen verwenden. Den Lernenden ist aber auch oft nicht klar, was von ihnen erwartet wird. Sie sehen in ihren eigenen Beiträgen keinen Lerneffekt für sich selbst und für die anderen. Es geht – aus ihrer Sicht – im Hinblick auf das Endprodukt des Unterrichts genauso gut und mit geringerem Aufwand auch ohne Beiträge. Manchmal machen sie auch die Erfahrung, dass die Lehrperson am Schluss doch alle wichtigen Inhalte nochmals selbst formuliert, sodass sich die Anstrengung der Schülerinnen und Schüler nicht zu lohnen scheint. Erschwerend für die Teilnahme am Unterrichtsgespräch kann zudem sein, dass sich in einer Klasse mit der Zeit Rollenmuster herausbilden. Die Lernenden wissen gegenseitig, wer jeweils einen Beitrag leistet, um wenigstens peinliche Situationen zu vermeiden. Ohne Unterstützung von Lehrpersonen kann die Klasse kaum aus einer eingespielten Struktur herauskommen.

Mündliche Beteiligung – wozu?

Manche Lehrpersonen würden spontan argumentieren, dass die mündliche Mitarbeit für einen lebendigen Unterricht notwendig sei. Mündliche Mitarbeit unterstützt das Konzept eines interaktiven Unterrichts, das sich die Lehrperson vorgibt. Mitarbeit der Lernenden soll die didaktische Arbeit der Lehrperson bereichern. Eine pädagogische Begründung ist damit aber noch nicht gegeben. Jugendliche, die merken, dass sie lediglich der Lehrperson zuliebe am mündlichen Unterricht teilnehmen sollen, werden sich eher zurückhalten, außer sie wollen die Lehrperson nicht im Regen stehen lassen. Schülerinnen und Schüler, die sich aus solchen altruistischen Gründen mündlich beteiligen, gibt es in der Regel in jeder Klasse.

Mündliche Mitarbeit muss aber mehr sein als Unterstützung des Unterrichtskonzepts der Lehrperson. Interaktion zwischen der Lehrperson und den Lernenden wie auch unter den Lernenden wird in didaktischen Modellen als eine zentrale Komponente von Unterricht beschrieben. Interaktion ist Teil des didaktisch arrangierten Lehr-/Lernkonzepts. Dabei ist entscheidend, dass mit Interaktion pädagogische Ziele angestrebt werden, die sich mit anderen Unterrichtsformen wie Einzelarbeit oder Lehrvortrag nicht erreichen lassen: einen Sachverhalt erfassen und paraphrasierend wiedergeben, eine Aussage analysieren, einen Sachverhalt interpretierend darstellen, begründende Argumente darlegen, auf Beiträge anderer reagieren, sich verständlich ausdrücken, etwas erklären, klare Fragen formulieren, modellierend einen Lösungsweg vorstellen u. a.

Aus der Perspektive der Lehrperson dient die Interaktion mit den Lernenden zudem der Vergewisserung, ob und wie sie einen Sachverhalt oder eine Aufgabenstellung verstanden haben. Interaktion hat somit auch viel mit Nachfragen, Paraphrasieren von Fragen und Antworten sowie mit Metakommunikation zu tun, also mit dem Miteinander-Reden über die kommunikative Interaktion.

Anforderungen bei der Führung von Unterrichtsgesprächen

Vom fragend-entwickelnden Gespräch (siehe oben) ist das interaktive Unterrichtsgespräch, auch Klassendiskussion genannt, zu unterscheiden. Bei dieser Form nimmt die Lehrperson (oder gelegentlich auch eine Schülerin oder ein Schüler) eine moderierende Rolle ein. Wichtig ist, dass die Lernenden miteinander diskutieren und die Lehrperson nicht laufend korrigierend eingreift. Sie kann sich die Voten (auch falsche Aussagen) notieren und später bei der Auswertung des Gesprächs wieder einbringen (Gudjons 2011).

Es geht aus der Fallbeschreibung nicht hervor, wie die Lehrperson methodisch vorgeht. Es handelt sich offensichtlich um eine frontale, von der Lehrperson geleitete Unterrichtssituation. Ob sie ein fragend-entwickelndes Vorgehen oder ein interaktives Unterrichtsgespräch gewählt hat, ist unklar. Es ist Teil jeder didaktischen Vorbereitung zu entscheiden, welche Ziele mit welcher methodischen Vorgehensweise erreicht werden sollen. Man darf aus der Fallbeschreibung schließen, dass diese Klärung für die Lehrperson nicht im Vordergrund steht. Vielleicht versuchte sie eine Mischform von einem fragend-entwickelnden und einem interaktiven Unterrichtsgespräch zu realisieren und verbindet damit implizit die Vorstellung: Je lebendiger, desto besser; je mehr Lernende sich beteiligen, umso lebendiger.

Lösungsansätze

Klärung der pädagogischen Ziele und bewusste Wahl der Unterrichtsmethode

Die Lehrperson muss sich selbst im Klaren sein, was sie in einer bestimmten Lektion an Lernzielen und an lektionsübergreifenden Richtzielen erreichen will. Darauf aufbauend entscheidet sie über die genauen Inhalte und über das methodische Vorgehen im Unterricht. Dabei ist es notwendig, dass sich die Lehrperson in die Situation der Lernenden versetzt: Wer sind meine Schülerinnen und Schüler? Wo kommen sie her? Welchen Erfahrungshintergrund haben sie? Welche Ziele können für sie wichtig sein? Wo haben sie Stärken, wo haben sie Schwächen? Was ist für sie interessant? Was ist ihnen wichtig? Mit welchen Vorgehensweisen kann ich sie optimal unterstützen? Was sind besondere Herausforderungen, welche diese Lernenden an mich als Lehrperson stellen?

Möglicherweise zeigen solche Überlegungen, dass das fragend-entwickelnde Unterrichtsgespräch nicht die optimale Unterrichtsform ist, jedenfalls nicht über die gesamte Länge von ein oder sogar zwei Lektionen.

Zur Frage der Motivation der Schülerinnen und Schüler

Aus der Motivationsforschung ist bekannt, dass die Bereitschaft, eine persönliche Leistung zu erbringen, wächst, wenn ein persönlicher «Gewinn» sichtbar ist. So tragen Aspekte wie Selbsterkenntnis (ich lerne mich besser kennen), Belohnung (materiell, immateriell), Erfahrungen der eigenen Tüchtigkeit (ich bringe etwas fertig), Wirksamkeit (die Leistung zeigt eine erkennbare Wirkung), Selbstverwirklichung (ich kann meine Stärken und Fähigkeiten entdecken und entwickeln), Lust (Leistungstätigkeit als lustvoll erleben) zu einer Steigerung der Motivation bei (Heckhausen und Heckhausen 2010). Die Lernenden müssen somit erleben können, dass sie von ihrer Gedankenarbeit selbst profitieren und sie als sinnvoll wahrnehmen. Damit die Lernenden den «Profit» für sich erkennen, müssen sie wissen, welche Ziele erreicht werden sollen bzw. ob sie die Ziele erreicht haben (Rückmeldung zu den individuellen Leistungen). Zu den Zielen gehören nicht nur inhaltliche Lernziele, sondern auch zu erwerbende Kompetenzen wie z. B. Selbstständigkeit, Teamfähigkeit oder Kommunikationsfähigkeit.

Im Fallbeispiel scheint ein an den Lernzielen orientierter persönlicher Gewinn für die Schülerinnen nicht ersichtlich zu sein. Das Argument der Notenrelevanz scheint zu wenig gewichtig (und ist pädagogisch fragwürdig); der Hinweis auf das «Berufsmatur-Training» greift vermutlich nicht, weil sich die Lernenden noch nichts darunter vorstellen können. Sie müssen direkt erfahren können, was ihnen die mündliche Beteiligung bringt: fachlich besser werden (Kompetenzerfahrung), sich frei ausdrücken, gut formulieren und mit anderen argumentieren können (Kommunikationsfähigkeit). Dazu braucht es Phasen im Unterricht, in denen spezifisch an diesen Zielen gearbeitet wird und in denen die Lernenden auch Feedback zu ihrem Wissen und Können erhalten. Diese Phasen werden in der Regel nicht volle Lektionen umfassen, weil sie für alle Beteiligten – Lehrperson wie Lernende – anspruchsvoll und anstrengend sind. Die Phasen können in Lehrvorträgen, in medialer Wissensvermittlung oder in Einzel- oder Partnerarbeit eingebettet werden. Interaktive Phasen sind mit gut überlegten Fragestellungen und genügend Zeit für die Erarbeitung von Antworten zu gestalten. Das herkömmliche fragend-entwickelnde Gespräch kann dann ergänzend zur Klärung weiterer Fragen, jedenfalls aber in eng begrenztem zeitlichem Umfang, eingefügt werden. Damit werden eine Rhythmisierung des Unterrichts sowie eine Transparenz der Ziele erreicht, was den Lernenden die aktive Teilnahme am Unterrichtsgeschehen erleichtert.

Ein konkreter Vorschlag für die Gestaltung eines eingebetteten Unterrichtsgesprächs

Um ein Unterrichtsgespräch in Gang zu bringen, ist es oft hilfreich, ein Sachgebiet zuerst in Stillarbeit oder in Partnerarbeit erarbeiten und diskutieren zu lassen und erst in einer zweiten Runde zu einem Plenumsgespräch überzugehen. Die Schülerinnen und Schüler erhalten dadurch Gelegenheit, sich mit dem Themengebiet bekannt zu machen und sich in der Diskussion mit einem Banknachbarn oder einer Banknachbarin gegenseitig auszutauschen und Sicherheit zu gewinnen, bevor man sich mit seinem Beitrag vor die gesamte Klasse wagt (das «Sichexponieren» wird einfacher). Die Ergebnisse dieser Vorbereitungszeit kann man beispielsweise auf einzelne Blätter schreiben lassen und an der Tafel anheften und gruppieren. Die Lernenden ergänzen mit Argumenten und die Lehrperson gibt Rückmeldungen zu den Ergebnissen. Am Schluss kann die Lehrperson eine Zusammenfassung mit den wichtigsten Erkenntnissen an der Tafel festhalten oder die Lernenden formulieren die wesentlichen Aspekte selbstständig. Dabei ist es wichtig, dass die Ergebnisse von Partner- und Gruppenarbeiten nicht «nachgebessert» werden, sondern anhand von Zielvorgaben geprüft wird, ob die gesteckten Ziele erfüllt werden. So kann es gelingen, dass die Lernenden Verantwortung für die Qualität der Inhalte (mit-)übernehmen und merken, dass ihre Beiträge inhaltlich wichtig sind und zielorientierten Ansprüchen gerecht werden müssen. Des Weiteren werden durch diese Arbeitsweise Lehrperson und Lernende vom Druck entlastet, dass die Stunden lebendig sein sollen (der stille Vorwurf, dass sich Lernende mehr beteiligen müssen, soll aufgehoben werden). Grundsätzlich gilt es daher, die Unterrichtsgespräche zeitlich kurz zu halten und in andere Formen einzubetten (siehe z. B. Gudjons 2011).

Grundsätzliche Veränderungen in der Unterrichtsgestaltung durch einen systemischen Ansatz

Es ist eine Tatsache, dass das fragend-entwickelnde Unterrichtsgespräch eine weit verbreitete und sehr häufig eingesetzte Unterrichtsform ist. Gleichzeitig verlaufen solche Stunden nicht selten in der Weise, wie sie aus dem Fallbeispiel zu erahnen ist. Eine fragend-entwickelnde Form lässt sich aufbrechen, wenn anstelle eines Frage-Antwort-Verfahrens im Frontalunterricht generell mehr Partner-, Einzel- und Kleingruppenaufträge sowie vorbereitete Kurzvorträge durch die Lehrperson (und auch Lernende) eingesetzt werden. Bei Partner- und Kleingruppenarbeit ist der Zusammensetzung der Gruppen besondere Beachtung zu schenken (siehe Fallbeispiel «Trittbrettfahrer bei der Arbeit in Gruppen»).

Wenn andere Lehrpersonen ähnliche Probleme haben, wird eine grundsätzliche systemische Verbesserung nötig: Die Lehr-/Lernkultur in der Schule ist unter den Lehrpersonen zum Thema zu machen, z. B. im Klassenkonvent oder bei der Planung schulinterner Fortbildung. Fragen zur guten Gestaltung von Unterrichtsgesprächen, zum Stellenwert, zur Bewertung und zur Förderung der mündlichen Beteiligung im Unterricht sollten vom Lehrerkollegium thematisiert werden. Die Beschlüsse können dann von der Schule als Ganzes getragen werden. Die Lernenden werden über das gemeinsame Vorgehen des Lehrerkollegiums informiert und erfahren eine gezielte Förderung und Verbesserung.

Eine gute und kurzfristig praktizierbare Möglichkeit ist die Zusammenarbeit unter Lehrpersonen, auch in Form von Praxis-Forschungskooperationen (Kyburz-Graber 2013). In solchen Kooperationen lassen sich Probleme der mangelnden mündlichen Beteiligung untersuchen und gemeinsam Lösungen umsetzen. Z. B. können sich Lehrpersonen in Unterrichtsmethoden oder in der Moderationstechnik weiterbilden, da Kompetenzen in diesen Bereichen notwendig sind, um u. a. gute Diskussionen in Gruppen zu führen.

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