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Fallstudien in der Forschung
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Soziale Situationen, wie z. B. Unterricht, Krankenpflege, Beratung und Therapie, Change-Management-Situationen in Unternehmungen und Firmen, Familienhaushalte, Betriebe, sind hochkomplex und vielschichtig. Menschen mit ihren Erfahrungen, Einstellungen, Werthaltungen, früheren Erlebnissen, Entwicklungen und Ideen prägen die jeweiligen Situationen. Zusätzlich spielen die gegebenen gesellschaftlichen und rechtlichen Rahmenbedingungen wie Wertvorstellungen, Normen, Gesetze und kulturelle Routinen eine handlungsrelevante Rolle. Den Beteiligten sind Hintergründe und Einschränkungen für das Denken und Handeln oft nicht bewusst. In Fallstudien lassen sich die komplexen Zusammenhänge Schicht für Schicht aufdecken und zur Erklärung und Lösung von Problemen heranziehen. Anders als mit einer distanziert-abstrahierenden Forschungsmethodik, wie sie zum Beispiel bei einer Fragebogenerhebung angewendet wird, ist das Ziel einer Fallstudie, so nahe wie möglich an das Geschehen heranzukommen. Fragebogendaten können zwar ebenfalls in eine Fallstudie einfließen, sie mögen die Sicht ergänzen. Aber für eine vertiefende Analyse braucht es andere Instrumente, wie etwa die Analyse von Dokumenten, Gespräche in Form von Interviews, Fokusinterviews, Erzählungen und moderierte Gruppengespräche. Weitere Methoden sind die teilnehmende Beobachtung und das «Shadowing», d. h. die Begleitung von einzelnen Personen über einen bestimmten Zeitraum (Stake 1995). In einer Fallstudie wird nicht nach dem «Wie viel» gefragt, sondern nach dem «Was» und «Wie» und schließlich auch nach dem «Warum» in der betreffenden Situation.
Fallstudien als Forschungsmethodik haben eine längere Tradition in den Wirtschafts- und Rechtswissenschaften und in der Soziologie. Ein Standardwerk zur Fallstudienforschung ist «Case Study Research: Design and Methods» des amerikanischen Sozialwissenschaftlers Robert K. Yin (2012, 2014). Die wohl berühmteste Fallstudie ist William F. Whytes jahrelange Untersuchung eines Chicagoer Viertels mit Bewohnern italienischer Herkunft, der sogenannten «Street Corner Society» (1955, 1996 auf Deutsch). Dem Autor ist es hier gelungen, in präziser, beschreibender, analytischer und interpretierender Weise die Besonderheit des Lebens in einem Quartier italienischer Migrantinnen und Migranten zu erfassen.
Durch Fallstudien wollen Forscherinnen und Forscher durch ein explorierendes Vorgehen zu beschreibenden und möglichst auch zu erklärenden Aussagen über den Untersuchungsgegenstand gelangen. Durch die Methode der dichten Beschreibung wird versucht, ein ganzheitliches Verständnis des Untersuchungsgegenstandes unter Einbezug von möglichst vielen als relevant erkannten Variablen zu erreichen. Der Analyse- und Interpretationsvorgang soll dabei jederzeit für Außenstehende nachvollziehbar und plausibel sein, vergleichbar einer Indizienkette in einem Gerichtsverfahren (Kyburz-Graber 2004, 2016).
Eine oft diskutierte Frage ist, ob sich die mit Fallstudien gewonnenen Erkenntnisse auf neue Fälle übertragen lassen. Mit einer oder mehreren Fallstudien lassen sich, zum Beispiel wie bei einem naturwissenschaftlichen Experiment, verallgemeinernde Hypothesen generieren, die sich durch weitere Fallstudien oder andere forschungsmethodische Vorgehensweisen überprüfen lassen. Die Hypothesen gelten so lange als wahr, als sie sich nicht falsifizieren lassen. Fallstudien dienen aber auch oft als sogenanntes Sozialreportage-Modell, d. h. sie stehen exemplarisch für vergleichbare soziale Situationen, ohne dass sie den Anspruch erheben, allgemein gültig zu sein. Yin (2013) spricht hier von analytischer, theoriegeleiteter Generalisierung im Vergleich zu statistischer Generalisierung.