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Was bringt dieses Buch?

Unterrichten ist eine einzigartige Tätigkeit

Unterrichten ist eine einzigartige Tätigkeit

Unterrichten ist vielschichtiger als alle anderen beruflichen Tätigkeiten, die mit der Interaktion mit Menschen zu tun haben. Eine Ärztin hat es in der Sprechstunde mit einer einzelnen Person, vielleicht höchstens einmal mit mehreren Familienangehörigen gleichzeitig zu tun; ein Büroangestellter interagiert in Bürositzungen gleichzeitig mit wenigen, vielleicht höchstens zehn Kolleginnen und Kollegen; eine Geschäftsführerin einer Firma hat meist nur mit direkt unterstellten Kadermitarbeitenden zu tun, also sechs bis zehn Personen; eine Verwaltungsratspräsidentin interagiert an Verwaltungsratssitzungen vielleicht mit zehn Verwaltungsratsmitgliedern und dem CEO der Firma. Sitzungen und Besprechungen sind einzelne Anlässe, sie bestimmen nicht jeden Arbeitstag, außer bei Ärztinnen und Ärzten. Zwischendurch arbeiten die meisten Berufsleute individuell oder in kleinen Teams an ihrem Arbeitsauftrag.

Eine Lehrperson hingegen interagiert jeden Tag mehrere Stunden direkt mit 20 und mehr Kindern oder Jugendlichen. Sie muss gleichzeitig allen gerecht werden, alle berücksichtigen, individuelle Lernprobleme im Auge behalten, Entwicklungsschritte beobachten und festhalten, die einzelnen Schülerinnen und Schüler fördern und fordern, erziehen, begleiten, ermutigen, beurteilen und vieles mehr. Vor allem aber muss die Lehrperson in jeder einzelnen Unterrichtsstunde mit höchster Präsenz die Klasse so führen, dass eine wirkungsvolle Lernatmosphäre entsteht. Sie muss also fachliche und pädagogisch-psychologische Aufgaben gleichzeitig bewältigen. Dabei tritt in jeder Unterrichtsstunde Unvorhergesehenes auf, der Verlauf des Unterrichts ist nur bedingt planbar.

Fallbeispiele aus der Praxis von Lehrpersonen für Maturitätsschulen

Fallbeispiele aus der Praxis von Lehrpersonen für Maturitätsschulen

Wie herausfordernd Unterrichtssituationen erlebt werden, haben wir mit angehenden und bereits im Beruf tätigen Lehrpersonen über Jahre an Fallbeispielen aus deren Praxis untersucht. Die Fallbeispiele und die Analysen, so zeigte es sich in Weiterbildungsveranstaltungen, sind aber nicht nur für Berufsanfängerinnen und -anfänger interessant, sondern auch für Lehrpersonen mit längerer Unterrichtserfahrung.

Die Fallbeispiele stammen aus dem Pflicht-Modul mit der wenig aussagekräftigen Bezeichnung Kolloquium, das wir seit vielen Jahren für die Kandidatinnen und Kandidaten des Lehrdiploms für Maturitätsschulen anbieten. Hinter diesem «Kolloquium» verbirgt sich systematische Fallstudienarbeit während eines Semesters. Jede Studentin, jeder Student beschreibt ein eigenes Fallbeispiel, in Gruppen von 10 bis 12 Studierenden werden aus der Sicht der Studierenden relevante Fälle ausgewählt und in den Semesterplan eingefügt. Jedes Semester werden auf diese Weise insgesamt acht Fallbeispiele genau analysiert, Lösungsansätze erarbeitet und gemeinsam in einem Plenum von 50 bis 60 Studierenden diskutiert. Jede Woche bereiten sich alle Studierenden auf das Fallbeispiel, das laut Semesterplan analysiert werden soll, vor. Im Kurs arbeiten die Studierenden zunächst in Kleingruppen, die über das Semester in fester Zusammensetzung formiert sind, anschließend werden die Analyseergebnisse und Lösungsansätze im Plenum präsentiert und diskutiert, wobei die Moderation von einer Studentin oder einem Studenten, welche sich Anfang des Semesters für das betreffende Thema und Datum eingeschrieben hat, übernommen wird.

Tabelle 1 zeigt die in den vergangenen 15 Semestern mit den Studierenden durchgeführten Fallanalysen, gruppiert nach Schulfächern.

Anzahl Fälle (Total 116) % Fächer
26 22 Deutsch
19 16 Englisch
14 12 Geschichte
12 10 Geografie
11 9 Französisch
7 6 Biologie
7 6 Mathematik
6 5 Wirtschaft & Recht
4 4 Latein
3 3 Chemie
1 1 Moderne Sprachen
1 1 Religion
1 1 Italienisch
4 4 Keine Angabe

Tabelle 1 Zusammenstellung aller analysierten Fallbeispiele aus 15 Semestern. Insgesamt stammen 83 der 116 Fälle (72 %) aus geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächern, 29 Fälle (25 %) aus mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern, und zu 4 Fällen (3 %) liegen keine Angaben vor.

Die vorgelegten Fallbeispiele stellen an alle Beteiligten hohe Ansprüche: Genau hinschauen, wie die Situation beschrieben ist, Auffälliges benennen, Besonderes herausheben, den ganzen Kontext der Situation verstehen und dann auf diesem Hintergrund die Fallsituation analysieren und schließlich Lösungsansätze suchen. Das ist mit jedem neuen Fallbeispiel eine neue Herausforderung.

Es ist nicht nur unser Ziel, Fallanalysen im Sinne von möglichst adäquaten Lösungsansätzen zu präsentieren. Auch für unsere Diplomkandidatinnen und -kandidaten ist dies nur ein Teilziel. Wir möchten mit den vorliegenden Fallanalysen Vorgehensweisen aufzeigen, die für eine umsichtige Lösungssuche zielführend sind. Natürlich hat man während des Unterrichtsgeschehens niemals Zeit, sich analytisch derart ausführlich mit der Situation zu befassen, wie wir das im vorliegenden Buch aufzeigen. Da gilt es eben meist, unter Druck rasch zu handeln. Aber je mehr man sich außerhalb des Unterrichts mit konkreten Fällen in genauen Analysen auseinandersetzt, desto flexibler und angemessener kann man in konkreten Situationen auch handeln.

Themenkreise der Fallbeispiele

Themenkreise der Fallbeispiele

Aus den Fallbeispielen, die wir im Laufe der Jahre zusammen mit den Studierenden analysiert haben, wählten wir für das vorliegende Buch solche Fälle aus, die wir im Blick auf die Praxis von möglichst vielen Lehrpersonen der Sekundarstufe II als besonders relevant erachten. Die Fallbeispiele stammen aus unterschiedlichen Unterrichtsfächern und Klassenstufen. Die ausgewählten 20 Fallbeispiele lassen sich den drei großen Themenkreisen Unterrichtsplanung und -durchführung, Klassenführung, Leistungsbeurteilung und Förderung zuordnen (Tabelle 2).

Themenkreise Fallbeispiele
Unterrichtsplanung und -durchführung Heterogene Klassenzusammensetzung Mündliche Beteiligung Verweigerung von vertiefter Arbeit Trittbrettfahrer bei der Arbeit in Gruppen Fachliche Vorbereitung Klassenfeedback Konflikt mit Lehrplan
Klassenführung Den Unterricht sabotierendes Verhalten Eine impulsive Klasse oder das «Chaos» Kleider machen Schülerinnen Rivalitäten zwischen Jugendlichen Angespanntes Verhältnis Klasse – Klassenlehrperson Mögliche Rollenkonflikte Lehrperson – Privatperson
Leistungsbeurteilung und Förderung Benotung der mündlichen Beteiligung Benotung von Gruppenarbeiten Gestaltung und Korrektur einer schriftlichen Prüfung Notenpolitik der Schulleitung Nachprüfungen Betreuung einer Maturitätsarbeit Umgang mit Teilleistungsschwächen (z. B. ADHS)

Tabelle 2 Zuordnung der ausgewählten 20 Fallbeispiele zu drei Themenkreisen

Anregungen zum Studium der Fallbeispiele

Anregungen zum Studium der Fallbeispiele

Zunächst mögen die Titel, welche die Studierenden als Überschrift für ihr Fallbeispiel gewählt haben, zum Lesen einladen. Manche Titel erinnern an eigene Unterrichtssituationen; damalige Gefühle werden wieder wach, Lösungsvorschläge tauchen spontan auf. Vermutlich haben wir deshalb bei unseren Studierenden in jedem Kurs erlebt, dass manche so rasch wie möglich Lösungen finden und Ratschläge erteilen wollten. Mit diesem Rückgriff auf eigene Erfahrungen geht aber auch eine gewisse kritische Distanz verloren: Wir möchten mit unserer Schritt-für-Schritt-Vorgehensweise zeigen, dass es sich lohnt, eine Fallsituation genau anzuschauen und der emotionalen Lage der Lehrperson, wie sie in der Schilderung dargestellt wird, nachzuspüren. Man muss in das Geschehen eintauchen können, natürlich immer unter der Optik der betreffenden Lehrperson.

Vielleicht ziehen Sie es als Leserin oder Leser vor, zunächst möglichst rasch in den Lösungen zu blättern. Mit der Zeit werden Sie aber zweifelslos mehr über Hintergründe und Erklärungen wissen wollen, oder Sie möchten nachvollziehen, wie man grundsätzlich an eine Fallanalyse herangeht. Dazu finden Sie bei jedem Fallbeispiel situationsbezogene Überlegungen.

Wenn Sie bei Ihrer Lehrtätigkeit in eine schwierige Situation geraten, so mögen Sie durch die Fallstudien angeregt werden, Ihre Situation für sich so zu beschreiben, wie es für die vorliegenden Fallbeispiele gemacht wurde, mit einem prägnanten Text und einem Titel. Dies kann ein erster Schritt sein, um Lösungen zu erarbeiten, allein oder mit Kolleginnen und Kollegen. Wenn Sie sich dann Zeit für die Problemanalyse nehmen und Schritt für Schritt vorgehen, wie wir dies mit den vorliegenden Fallstudien exemplarisch zeigen, werden sich schließlich Lösungsmöglichkeiten abzeichnen. Die nützlichen Erfahrungen, welche die angehenden Studierenden bei der Fallstudienarbeit machten, haben uns veranlasst, eine Auswahl von Fallstudien einem größeren Kreis von Lehrpersonen als Anregung zugänglich zu machen, wie sich herausfordernde Unterrichtssituationen bewältigen lassen.

Unterrichtssituationen meistern

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