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Prolog

Bilder kamen.

Bilder von Mutter, als er noch klein und sie noch jung gewesen war, fluteten seinen Geist und verdrängten für einen Augenblick die gehetzten Gedankenfetzen von düsteren Landschaften und geschundenen Leibern.

Drei Jahre mochte er damals alt gewesen sein. Er saß im Sandkasten, den Vater im Innenhof der Siedlung im Neuwieder Sonnenland für die Kinder angelegt hatte.

Vater war arbeitslos, so, wie sechs Millionen anderer Menschen auch. Die dreigeschossigen Siedlungsbauten umschlossen den mit Wäscheleinen, Grasflächen und kleinen Gemüsebeeten ausgefüllten Garten- und Hofbereich der Wohnsiedlung wie eine uneinnehmbare Festung. Mutter stand keine fünf Meter neben ihm, die Bauchtasche ihrer Kittelschürze voller Holzklammern, und hängte Bettlaken auf, die sich im sanftwarmen Juniwind aufblähten wie die wollüstige Oberlippe von Edvard Munchs Madonna. Mutters Haut war weiß wie Schnee.

Weiß wie Schnee und rot wie Blut. Welches Märchen war das noch gewesen? Er wusste es nicht mehr … Aber es war auch egal.

Mutter war ihm ohnehin immer erschienen, als sei sie einem Märchen entstiegen. Oder eben einem Gemälde von Edvard Munch, der erst kürzlich auf Ekely gestorben war. Kein anderer, so empfand er, vermochte die Bandbreite menschlicher Stimmungen und Gefühle besser auf Leinwand zu bannen als Edvard Munch. Er war sein Idol. Von seinem Tod hatte er aus dem Nationalblatt erfahren, dass nur zwei kurze Sätze für den Künstler der entarteten Kunst übriggehabt hatte. Aber er war von der Nachricht wie gelähmt gewesen, hatte sich zurückgezogen und tagelang getrauert.

Das musste nun gut sechs Wochen her sein. Zwei Tage später hatten sie ihn geschnappt …

Er fror. Der Winter 1943/44 war zwar nicht sonderlich frostig, aber hier, in dieser Stein gewordenen Grausamkeit, harrte der Frost in den Mauern aus wie ein eisiger, todbringender Virus.

Vielleicht hatte er auch Fieber. Er war sich nicht sicher, ob die Schmerzen, die seinen ganzen Körper schüttelten, vom Zittern kamen oder vom Fieber einer ihm unbekannten Krankheit.

Die ersten sechs Wochen hatten sie ihn im Gefängnis der Innenstadt gefangen gehalten. Aber vor zwei Tagen hatten sie ihn hierhergebracht. Wenn es stimmte, was er von den beiden Männern, die den Laster gefahren hatten, aufgeschnappt hatte, wäre er hier in der Nähe von Göttingen. Und das alles nur, weil …

Ein lähmender Schmerz drängte sich in seinen Kopf. Er zog eine Hand unter der kratzigen Pferdedecke hervor und befühlte die geschwollene Stelle an seinem Hinterkopf. Als sie ihn bei seiner Ankunft im Dunkeln durch die Tür gestoßen hatten, hatte ihm dieser Tyrann sogleich einen Knüppel über den Kopf gezogen.

Er schloss die Augen und gab sich dem wärmenden Gefühl der gnädigen Erinnerung hin. Fühlte sich dreizehn, vierzehn Jahre zurückversetzt. Zum Innenhof der Wohnanlage und dem Sandkasten.

Eine laue Frühlingsbrise spielte mit seinem Haar. Eine Locke fiel ihm in die Stirn und kitzelte. Er konnte gar die lieblichen, sanft betörenden Duftwolken des lilafarbenen Flieders wahrnehmen, der neben der Bank am Rand der Kräuterbeete in voller Blüte stand.

Bernhardt!

Rief Mutter? Nur zäh und mühsam begannen sich seine Gedanken aus der warmen und friedvollen Welt seiner Kindheit zu lösen. Wirklich ankommen wollten seine Sinne aber nicht in der hässlichen Gegenwart. Die Arme versagten ihm fast den Dienst, als er versuchte, die schmerzenden Glieder von der harten Unterlage zu erheben. Er schluckte Speichel durch den engen, kratzenden Schlund, wollte schon Antwort geben, aber das durchdringende Kreischen der rostigen Türangeln veranlasste ihn innezuhalten und riss ihn endgültig aus seinen Träumen. Er kannte das hässliche Geräusch trotz seiner erst kurzen Verweildauer an diesem Ort gut. Aus den Augenwinkeln nahm er den sich ausweitenden Lichtschein wahr, der sich aus dem Flur und durch den Türspalt wie eine unbarmherzige Offenbarung in seine kleine dunkle Zelle ergoss. Schemenhaft erkannte er die Umrisse des Mannes, der sich dort in seiner Stiefelhose breitbeinig positioniert hatte. Und er sah den Knüppel, den der Schinder lässig in der Hand schwang.

Hasenfest

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