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Noch eine letzte Runde!

Sie war spät dran. Das Telefonat mit Robert hatte sie länger aufgehalten, als ihr lieb war. Und unnötig war es ohnehin gewesen, denn nach ihrem Streit am gestrigen Abend hatte er ihre Wohnung wutentbrannt verlassen. Hatte demonstrativ die Wohnungstür zugeknallt, sodass sich ihre Katze Minka in Panik unters Sofa geflüchtet hatte. Aber, wie fast immer nach einem Streit, meldete er sich spätestens am nächsten Tag reumütig, um sich zu entschuldigen. Dieses wankelmütige Verhalten war dermaßen albern und wie gesagt unnötig. Auch wenn sie wusste, dass er seine Emotionen schlecht im Griff hatte und ein paar Stunden Abstand Wunder bei ihm wirkten, verabscheute sie mittlerweile sein inkonsequentes und infantiles Verhalten. In seiner Wut konnte er dermaßen den harten Kerl raushängen lassen, aber dann …

Im Grunde genommen war Robert ein sensibles kleines Kind. Und sie hatte keine Lust mehr, seine Mutter zu spielen. Ohnehin schien er nicht auf die Beine kommen zu wollen und Verantwortung für sein Leben zu übernehmen. Vorsichtig hatte sie ihm im Telefonat zu verstehen gegeben, dass ihre Beziehung keine Zukunft hätte. Aber wahrscheinlich hatte sie sich dabei nicht klar genug ausgedrückt, denn er war überhaupt nicht auf ihre Andeutungen eingegangen. Sie würde sich mit ihm treffen müssen, um ein Klärungsgespräch zu führen, auch wenn ihr bewusst war, dass das mehr als schwierig würde.

Im Laufen hob sie ihren Arm, auf dessen Haut sich aufgrund der Anstrengung mittlerweile ein feiner Schweißfilm gebildet hatte und schaute auf das großflächige Zifferblatt ihrer Armbanduhr.

Kurz vor halb zehn.

Die Temperatur lag unter zehn Grad. Ab und zu nieselte es und eine kühle Windböe wehte lose, feuchte Blätter der aktuellen Ausgabe des Neuwieder Stadtanzeigers vom Asphalt auf und häufelte sie vor der Jugendstilfassade eines Hauses.

Kein Mensch auf der Straße.

Spätabends in Neuwied.

Sie umrundete die Ecke Hofgründchen und bog in die Heddesdorfer Straße ein. Imbiss Hoffmann hatte noch geöffnet. Durch das gelbbraune Strukturglas konnte sie drei Typen vor dem Tresen stehen sehen. Einer hob sein Bier und trank es so schnell aus, dass er das geleerte Glas »Nette Pils« bereits wieder abgesetzt hatte, als sie noch nicht ganz am Lokal vorbeigelaufen war. Im letzten Augenblick drehte er den Kopf zur Straßenseite und schaute in ihre Richtung. Ihr schauderte und ein schwacher Schauer überzog die Haut zwischen ihren Schulterblättern wie die von einer Windböe gekräuselte Oberfläche eines stillen Sees. Den interessierten Blick des Biertrinkers glaubte sie noch zu spüren, als sie bereits gute zweihundert Meter weiter am früheren Bürgermeisterhaus von Vater Raiffeisen vorbeilief.

Wie sorglos manche Menschen mit ihrer Gesundheit umgehen, versuchte sie das unangenehme Gefühl durch einen rationalen Gedanken zu vertreiben. Abends um halb zehn essen. Vermutlich Nierengulasch mit Pommes. Und dann möglichst noch Majo dazu. Nein, das hatte sie Gott sei Dank hinter sich. Sie war froh, dass ihr Ernährungsplan mittlerweile kein Fleisch und kaum noch Süßigkeiten enthielt. Ganz im Gegenteil zu dem von Robert, um auf dieses unangenehme Thema zurückzukommen. Ganz unbewusst schüttelte sie ihren Kopf. Nein, mit der von ihr beabsichtigten Trennung wollte sie sich im Augenblick überhaupt nicht befassen.

Das Laufen war ihr zur liebgewordenen Freizeitbeschäftigung geworden. Seit sie vor drei Jahren damit begonnen hatte, lief sie meist mit Melanie, die aber heute Abend keine Zeit hatte, weil sie sich mit Arbeitskollegen traf. Außerdem wäre Melanie wohl ohnehin nicht mehr mitgekommen, nachdem sich das Telefonat mit Robert dermaßen lange hingezogen hatte.

Dreimal die Woche drehten sie ihre Runden um Eishalle, Heddesdorfer Straße und Schwimmbad, und sie fühlte sich richtig gut seitdem.

Mit beiden Händen griff sie nach dem Haargummi, um ihn zu lockern. Er zwickte sie. Ihr langer goldblonder Pferdeschwanz wippte dabei mit jedem Laufschritt auf und ab. Ohne auf der Heddesdorfer Straße auch nur einem Menschen begegnet zu sein, passierte sie das Gebäude von Sozialamt und Volkshochschule gegenüber der Russendisko und bog vor der Unterführung nach rechts ins Weidchen ein, dem verwahrlosten Fußweg neben dem Bahndamm. Einige blassgelbe Lichtstrahlen der Parkplatzbeleuchtung fielen durch die Büsche und Bäume, die den Weg vom Gelände der Volkshochschule auf der rechten Seite begrenzten. Wie der Widerhall eines Echos aus einer fremden Welt spiegelten sie sich auf den zahlreichen matschigen Pfützen des Wegs. Fenster in eine andere, eine völlig friedfertige und harmonische Welt. Eine Welt, in die sie sich flüchten mochte, dachte sie an die Konflikte mit Robert.

Der Hang des Bahndamms auf der linken Seite war übersät mit vielerlei Unrat. Plastiktüten, ein alter Turnschuh, nasse, dreckige Kartons, die spärlichen Überbleibsel eines demolierten Fahrrads, zwei Autoreifen, Schnapsflaschen …

Der Weg wurde dunkler, da der beleuchtete Parkplatz nun bereits rechts hinter ihr lag. Ein kurzes Stück unbeleuchteten Wegs nur, der hier einen leichten Knick nach rechts machte. Als sie in eine knöcheltiefe Pfütze trat und ihr der einschießende Schmerz in der Lendengegend die fehlende Körperspannung signalisierte, strauchelte sie. Mit einem raschen Ausfallschritt konnte sie sich so eben noch davor bewahren, auszugleiten und auf den matschigen Boden zu stürzen. Sie gab ein lautes Schnaufen von sich, was ihren Unmut über die eigene Dummheit darüber bekunden sollte, die Taschenlampe zu Hause liegen gelassen zu haben. Auch das wäre ihr wahrscheinlich nicht passiert, hätte Robert sie mit seinem reumütigen Anruf nicht so lange aufgehalten.

In etwa einhundert Metern Entfernung konnte sie nun vor sich die Straßenbeleuchtung der Andernacher Straße erkennen, die hier das Weidchen durchschnitt. Von rechts fiel bereits schwaches Licht vom Altenheim der AWO durch die Bäume. Als sie die Straße erreichte, bremste sie ihr Lauftempo ab, warf den Kopf von links und rechts, um sich zu vergewissern, dass sich kein Fahrzeug näherte und überquerte die vierspurige Straße im Laufschritt. Auf der anderen Straßenseite führte das Weidchen weiter Richtung Bundesstraße 42, vorbei am Parkplatz des neuen Neuwieder Schwimmbads »Deichwelle«.

Mit Blick auf das Gelände verspürte sie einen leichten Anflug von Wehmut, weil sie sich an Zeiten erinnerte, in denen sie mit den Freundinnen im alten Freibad, das sich mit seinen großen Liegeflächen an genau dieser Stelle befunden hatte, ihre Freizeit verbracht, den ersten Freund geküsst und das Schwimmen erlernt hatte. Wie viele andere Neuwieder auch, hatte sie es nicht verstanden, dass sich die Politik für den Abriss des beliebten Freibads und den Bau des neuen Freizeitbads entschieden hatte. Dem Argument, die Modernisierung der Schwimmbadtechnik sei zu teuer und Neuwied brauche ein eingehaustes Allwetterbad, schenkte sie keinen Glauben. Ebenso, wie die vielen anderen Kritiker des Neubaus, war sie eher davon überzeugt, dass sich einige Lokalpolitiker ein Denkmal durch das neue Bad hatten setzen wollen. Ein teures dazu.

Die Laufstrecke folgte nun einer leichten Biegung nach rechts. Als der Weg sich teilte, ein linker Pfad bei der Unterführung unter dem Bahndamm zum Klärwerk abbog und der Hang auf der rechten Seite steil zum Jahnplatz anstieg, lief sie geradeaus weiter in das dunkelste Stück des Weidchens. Ähnlich einem Hohlweg, über dem Bäume und Sträucher beiderseits der Hänge oben dicht zusammenwachsen, verwandelte sich der Weg hier nachts in einen fast schwarzen, uneinsehbaren Tunnel. Eine gespenstige Kathedrale düsterer Ahnungen und verdrängter Urängste. Wäre sie nicht seit drei Jahren auf dieser Laufstrecke unterwegs und wüsste nicht, dass dieses Teilstück nach zwei-, dreihundert Metern immer ohne jeden Zwischenfall unmittelbar vor der hell beleuchteten und auch spät abends noch belebten Bundesstraße endete, hätte sie hier bereits abgedreht. Wäre zurück- oder nach links durch die Unterführung auf den Feldweg gelaufen, von dem man nach wenigen Metern hinter dem nächsten Damm bereits die Lichter der ersten Häuser auf der Prinz-Victor-Straße sehen könnte. Aber so lief sie weiter, wenngleich von einer plötzlichen Unruhe befallen und ungewohnt ängstlich und angespannt. Hektisch tasteten ihre Augen den Boden ab, um auch die kleinsten Lichtreflexe bemerken zu können, die von den nassen Oberflächen der Pfützen schwach widergespiegelt wurden. Noch einmal wollte sie nicht in eins der matschigen Schlaglöcher treten und sich dabei Sehnen und Muskeln zerren. Wie so oft während des Laufens, hatte sie auch in diesem Augenblick wieder den Eindruck, fremde menschliche Gerüche wahrnehmen zu können, die von irgendwoher den Weg zu ihr fanden. War da nicht der sich mit Modrigem vermischende Duft eines Rasierwassers? Oder jetzt … menschlicher Schweiß?

Sie erhöhte das Tempo, getrieben von einer unerklärlich in ihr aufsteigenden Panik. Abrupt begann ihr Herz zu rasen. Mehr, als ihr gut trainierter Körper es ihm eigentlich abverlangte. Ängstlich aber hochkonzentriert versuchte sie fremde Bewegungen in den Augenwinkeln wahrzunehmen. Doch die tiefe Dunkelheit ließ sie nichts weiter als vage Schemen erahnen, gleichwohl aber diese unbestimmte Angst verspüren. Irrational, sagte sie sich trotzig und warf trotzdem einen gehetzten, bangen Blick über die Schulter, weil der Biertrinker von eben, aus Hoffmanns Imbiss, plötzlich und mit boshaft grinsender Grimasse in ihren Gedanken auftauchte. Hatte der ihr nicht irgendwie gierig nachgeschaut? Wenn der …

Blitzartig und taghell flammte es vor ihren Augen auf! Für den Bruchteil einer Sekunde schien es, als käme ihr diese Situation, die sie urplötzlich in ein fremdes Paralleluniversum katapultierte, seltsam bekannt vor. Jäh und mit einem ahnungsvollen Knirschen explodierte der Druck in ihrem Kopf, bevor sie von den Beinen gerissen wurde und mit dem Hinterkopf hart auf dem Boden aufschlug.

Minka hat noch kein Fressen!, war ihr letzter Gedanke, bevor sie das Bewusstsein verlor.

Die Gestalt, die rechts aus dem Hang auf sie zugesprungen war und das Eisenrohr, das ihr Gesicht just in dem Augenblick mit zerstörerischer Wucht traf, als sie den Kopf wieder nach vorne wandte, hatte sie überhaupt nicht wahrgenommen.

-

»Guinness!«

»Großes oder kleines?«

Berger hob eine Augenbraue und schaute den Mann hinter dem Tresen an, als hätte der ihn nach seiner Volljährigkeit gefragt. Sein Blick sollte Antwort genug sein. Der Barmann, wenn Berger nicht alles täuschte, der Besitzer des neu eröffneten Pubs Thirsty Lion, der sich selbst Mister Martin nannte, schien ein Schnellversteher zu sein. Jedenfalls zog er sofort diensteifrig am Guinnesshebel, unter dem bereits ein Pintglas stand, und hob entschuldigend die Schultern.

Der Thirsty Lion, der hier zuletzt schlicht als Irish Pub von Jock, dem Iren, betrieben worden war, war längere Zeit geschlossen gewesen. Mit Jock hatte Berger eine gewisse Freundschaft verbunden, obwohl der ein waschechter irischer Gauner und Dickschädel war. Die Kids, die Jock im Service eingesetzt und die es niemals unversucht gelassen hatten, einen zu bescheißen, dürften zusammen mit Jocks fragwürdigem Hygieneverständnis zum Tod der Gaststätte geführt haben. Was schade war, wie Berger fand, weil ihn mit Jock auch das Schicksal einer gescheiterten Beziehung verband. Jock hatte stets unter der Trennung von seiner irischen Frau gelitten und Bergers Ehefrau Moni hatte die Beziehung nach dreiunddreißig Ehejahren und andauernder Kritik an seiner Unzuverlässigkeit, wie sie es nannte, für beendet erklärt. Mit Jock hatte er daher schon etliche Guinness, Macallan und Connemara auf die Liebe, besser gesagt, auf die unglückliche Liebe geleert.

»Bitte sehr, der Herr. Wohl bekomm´s!«, meinte Mister Martin herzlich und mit einem etwas zu gewollt wirkenden kernigen Timbre in der Stimme, nickte und stellte das Glas vor Berger auf den Tresen.

Na, in Puncto Freundlichkeit überbot der Neue seinen Vorgänger jedenfalls, auch wenn das kleine irische Nationalsymbol, das Shamrock, als Beleg für die Kunstfertigkeit des Zapfers, im Schaum des Obergärigen fehlte. Berger nickte dankend und nahm einen großen Schluck. Die helle Crema des dunklen Bieres blieb ihm im Siebentagebart auf der Oberlippe hängen. Er wischte sie mit dem Handrücken ab und wandte sich dem Gastraum zu. Hier zumindest hatte sich mit Mister Martin nicht allzu viel verändert: Dunkles Pubmobiliar, holzvertäfelte Wände, kitschige Guinnessutensilien, schummriges Licht, knarrende Holzdielen und etwas zu laute Musik. Zurzeit lief Stevie Ray Vaughan. Der hatte es auch schon hinter sich.

Bergers Gedanken wanderten zu Moni, seiner Nochehefrau. Moni hatte ihm vor einem guten halben Jahr, genau gesagt letzten September, tatsächlich und endgültig den Laufpass gegeben. Kurz nachdem die SOKO Seerose den Mord an der Abiturientin Katharina Seifert aufgeklärt hatte. Der aus einem religiösen Wahn heraus handelnde Mörder würde wohl nicht mehr in die Freiheit entlassen, denn nach Verbüßung seiner Haftstrafe käme er höchstwahrscheinlich in unbegrenzte Sicherungsverwahrung. Dass es sich bei ihm um einen Mann aus Monis Umfeld gehandelt hatte, hatte ihr mächtig zugesetzt. Berger hatte den fehlgeleiteten Gottesmann lediglich auftragsgemäß zur Strecke gebracht und seiner gerechten Strafe zugeführt, so, wie es ihm sein Beruf gebot. Moni hatte ihm aber das Gefühl gegeben, er hätte sich an ihrem Freundeskreis vergangen und war völlig von ihm abgerückt. Hatte den Kontakt regelrecht abgebrochen und sich wochenlang weder gemeldet, noch irgendeine Kontaktaufnahme seinerseits zugelassen. Irgendwie musste sich der Schock über die Entlarvung des Irren, der bis dahin zu ihrem engeren Freundeskreis gehört hatte, mit ihrer Abneigung gegen Bergers Beruf vermischt haben. Völlig an der Sache vorbei das Ganze. Und als sie sich wieder gemeldet hatte, hatte sie ihm die endgültige Trennung präsentiert. Wer sollte das verstehen? Irgendwie hatte sich Moni verändert seitdem. Berger war sich unsicherer denn je, ob es die Umstände dieses prekären Falls gewesen waren oder ganz einfach die Widrigkeiten seines Berufs, die für Moni letzten Endes untragbar geworden waren. Gut, sein Techtelmechtel mit Lydia Dragowar, der jungen Koblenzer Staatsanwältin, durfte dabei ja wohl keine Rolle gespielt haben. Immerhin schien Moni sich nach wie vor mit einem jungen Arzt aus ihrer Klinik zu vergnügen. Auch eine Beziehung auf »Arbeitsebene«.

Bergers trübe Gedanken wurden unterbrochen, als die Eingangstür des Thirsty Lion aufflog und ein schlanker Mann mit hoher Stirn und im leichten Trenchcoat, schätzungsweise Bergers Alter und einige Zentimeter größer als er, die knarrenden Dielen des Gastraums betrat. Selbstbewusst wie ein Gockel auf Brautschau stapfte er auf die Theke zu und stellte sich in drei Metern Entfernung neben Berger an den ansonsten leeren Tresen. Eine Gruppe Pennäler am Runden Ecktisch schien sich für ein Rugbyspiel auf Eurosport zu interessieren, das Mister Martin auf einem Flachbildschirm laufen ließ. Die Schulbuben begleiteten die für Berger unverständlichen Aktionen in der Glotze mit lauten Kommentaren.

Unglaublich, dachte Berger, wie sich die Zeiten verändern. Ab seinem fünfzehnten Lebensjahr war die legendäre Neuwieder Schlossklause so etwas wie sein Wohnzimmer gewesen. Da war alles vertreten gewesen, was Rang und Namen gehabt hatte. Aber die Glotze wäre da doch niemals gelaufen. Da waren ganz andere Filme abgelaufen …

Nachdem eine weitere enorme Menge des schwarzen Obergärigen seine Kehle hinabgerauscht war, setzte er sich, da immer noch vor der Theke stehend, auf einen der ungemütlichen Barhocker, um sich ganz dem entspannenden Wohlgefühl hinzugeben, dass der irische Exportschlager warm strömend in seinem Körper verbreitete.

»Ronald?«

Berger riss die soeben genüsslich geschlossenen Augen wieder auf und blickte den Schlanken im Trenchcoat an, der ihn aus der Entfernung ebenfalls mit großen Augen musterte. Was wollte der Typ? Musste er den kennen?

»Na, kann das denn sein? Ronald!« Der Mann schien plötzlich ganz euphorisch. »Kennst du mich nicht mehr?« Der Fremde schnappte sich sein Guinness und kam zu Berger rübermarschiert.

»Ja … also …« Berger wusste noch immer nicht, wer da vor ihm stand, obwohl die Stimme in ihm irgendetwas zum Klingen brachte.

»Na, ich bin’s, der Christoph … Hertling!«, rief der offensichtlich doch nicht Unbekannte und unterstützte seine Worte mit einer auffordernden Geste, die Berger wohl auf die Sprünge helfen sollte.

»Der … ja, Mensch …« Berger setzte sich aufrecht hin und vorsichtshalber eine heitere Miene auf. Nach und nach schienen sich die Erinnerungsfetzen in seinem löchrigen Gedächtnis zu einem einheitlichen Bild zusammenzufügen.

»Ja, mein Gott, der Ronald.« Hertling wirkte ganz aufgeregt, was einen spannenden Kontrast zu dem konfus zurückhaltenden Berger bot, der offensichtlich nur zäh aus seiner einsamen Bierseligkeit herausfand.

»Christoph …« Berger bemühte sich, wach zu werden. »Ja, Mensch … nicht erkannt, mit der …« Er rieb sich mit der Hand über seine eigene, noch ausreichend behaarte Stirn.

»Die Haare?, ja. Werden jeden Tag weniger«, entgegnete Hertling mit einem verzweifelten Blick nach oben zu seiner sich nach hinten ausdehnenden Stirn und einer entschuldigenden Geste. »Dafür sind deine kaum kürzer geworden, was?« Er deutete auf Bergers mittlerweile über den Hemdkragen wuchernde graue Haarpracht.

Berger, der seit fast drei Monaten nicht mehr beim Frisör gewesen war, drapierte seine ergraute Mähne seitdem mit einer Spur Haarwachs nach hinten. Die Länge hätte gut und gerne für ein kleines Existenzialistenzöpfchen ausgereicht. Jetzt griff er sich verlegen in den Schopf und rückte ihn zurecht.

»Mensch, wie geht´s dir denn, Ronald? Nun sag doch …« Hertling fuchtelte ganz aufgeregt mit einer Hand, während die andere das Pint in Bergers Richtung wuchtete.

»Ja … ganz gut.« Zuviel spontane Offenheit wäre fehl am Platz. Aber trotzdem stand ja mit Christian ganz offensichtlich einer seiner ältesten Kumpels vor ihm. »Du … das tut mir leid jetzt, aber ich hab‘ dich gar nicht …«

»Ist doch nicht schlimm, Ronald«, bemühte sich Hertling um Wiedersehensfreude und rieb, wie zur Entschuldigung für Bergers Unkenntnis, mit der Hand über seine hohe Stirn. »Wie lange ist das jetzt her? Zwanzig, dreißig Jahre?« Seine weit aufgerissenen Augen strahlten euphorisch, als hätte er soeben von sechs Richtigen im Lotto erfahren.

»Na, das dürften bestimmt schon dreißig Jahre her sein, dass wir uns gesehen haben … mindestens.«

»Bist du noch bei der Kripo?«

Berger nickte. »Und du bist noch Psychiater?«

»Ja! Noch immer und noch immer in der Kölner Uniklinik. Aber ich wohne nicht mehr in Bonn. Nach der Trennung von meiner Frau … Jessica, hast du sie gekannt?«

Nachdem Berger gierig den Rest Guinness runtergekippt hatte, schüttelte er den Kopf. »Nein.«

Hertling zog seinen Mantel aus und legte ihn über die Lehne eines Barhockers. »Ja … jedenfalls bin ich jetzt wieder in die alte Heimat gezogen. Vor einer Woche, genau gesagt. Und da dachte ich mir, gehst du mal in den Pub.« Sein Blick durchwanderte interessiert einmal quer das Rund des Lokals, um dann auf Bergers leerem Bierglas hängenzubleiben. »Nimmst du noch eins?«

»Na klar!«

Hertling hob zwei Finger und Mister Martin, der mit flink umherhuschenden Blicken in diesem Laden alles unter Kontrolle zu haben schien, zog bereits wieder pflichteifrig am Guinnesshebel.

»Bist du öfters hier im Thirsty Lion?«, fragte Hertling, während sein Arm eine raumgreifende Geste beschrieb.

»Das erste Mal. So, wie du.«

-

Das Keuchen!

Außer den unsagbaren Schmerzen vermeldeten ihre Sinne lediglich diesen alles durchdringenden Pfeifton. Und das Keuchen. Irgendjemand hat sich fürchterlich überanstrengt, dachte sie.

Was war nur geschehen? Ohne auch nur an eine Bewegung der Gliedmaßen oder ihres grotesk fremd wirkenden Kopfes denken zu können, bemühte sie sich, wenigstens ansatzweise etwas sehen zu können. Ihre Augenlider schienen verklebt und voller Sand. Unter Qualen versuchte sie die Augenbrauen zu heben und zog dabei die Stirn in Falten, um den Lidern zu helfen, sich voneinander zu lösen.

Die Schmerzen waren zwar da, dessen war sie sich irgendwie bewusst, aber das war nicht das Schlimmste, denn sie waren trotz ihrer unglaublichen Intensität seltsam weit weg. Das Schlimmste war die in ihr Bewusstsein einsickernde Gewissheit, dass mit ihr etwas ganz Grauenvolles geschehen war und zweifellos noch weiterhin geschähe.

Die schmalen Sehschlitze, die ihre Lider nun freigegeben hatten, ließen nichts erkennen. Alles um sie herum war schwarz. War sie vielleicht erblindet? Zu all dem, was sie an sich spürte, käme auch noch Blindheit dazu? Oder war es bloß Nacht und kein Licht in der Nähe?

Ihr Mund schien eine gequollene Masse, groß wie ein pochender Medizinball, der an Wuchs zunahm, wie ein langsam wachsender Krebs. Die Zunge darin hing trocken und schwer, irgendwo zwischen Nase und Kehlkopf und zu keiner Bewegung fähig. Anders hätte sie das Empfinden nicht beschreiben können. Und genauer hätte sie es auch nicht beschreiben wollen, wenn sie sich hätte sehen können. Denn objektiv betrachtet bildete ihr Gesicht Nase abwärts lediglich einen undefinierbaren Klumpen blutigen, fransigen Fleischs und zersplitterter Knochen.

Diese Woche ist Karfreitag, dachte sie, und Karfreitag bin ich bei Mutter zum Essen eingeladen. War das morgen? Oder übermorgen? Sie musste Mutter Bescheid geben. Mutter …

Ihre gesamte Körperwelt pulsierte und wankte. Ihr war, als bewegte sie sich wie in einem zähen, anstrengenden Traum. Aber nein. Sinnesfetzen drängten unsanft in ihr Bewusstsein. Jetzt spürte sie es: Es war nicht sie selbst, die ihren Körper rucken ließ. Jemand bewegte sie, zerrte an ihr! Sie verspürte den Impuls zu schreien, war aber viel zu schwach, um auch nur ein Stöhnen von sich geben zu können. Ihr Mund hätte ihr zudem auch nicht den Gefallen getan, einen Laut zu erzeugen. Sie fühlte sich wie in Wachs eingegossen, zu keiner Regung und – das verwunderte sie – noch nicht einmal zu Panik fähig. Doch sie spürte, dass da etwas an ihren Beinen zog oder … ihr die Hose vom Leib zerrte. Nun glaubte sie es deutlicher zu spüren. Sie war nackt. Es fühlte sich nass auf ihrem Körper an und kalt, obwohl sie eigentümlicherweise nicht fror.

Ihre Gedanken schweiften ab, flogen wie kleine Schäfchenwolken an einem schönen, warmen Sommertag, sanft, friedlich und selbstverständlich. Schmerz und Angst waren seltsam weit weg. Sie hörte ihre Mutter rufen.

Zieh dir etwas Warmes an, du wirst dich erkälten!

Ja!, rief sie zurück. Aber es ist gar nicht schlimm. Es ist doch warm.

Ihre Freundinnen aus der Schulzeit waren da. Sie umschwebten sie wie die Posaunenengel der kerzenbetriebenen Weihnachtspyramide, die Mutter in der Adventszeit immer im Wohnzimmer aufgestellt hatte. Und um sie herum waren Klang und Gesang und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen …

Das Keuchen!

Da war es wieder, und es schien nun mehr in ein Hecheln überzugehen. Sie sah es nicht und sie fühlte es nicht, aber sie war sich bewusst, was mit ihr geschah und sie betrachtete es wie ein Fremder von außen.

Sie erinnerte sich an Jenny. Vater hatte den kleinen Hund angeschafft, als sie drei Jahre alt gewesen war. Sie hatte sie geliebt, die kleine Jenny, die immer gehechelt hatte, wenn man sie schmuste.

Und als das warme, helle Licht die Dunkelheit vertrieb und sie sich selbst betrachtete, nahm sie ihre letzte Träne wahr, die sacht und glänzend aus einem Augenwinkel quoll.

Hasenfest

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