Читать книгу Hasenfest - Reiner Karl Litz - Страница 7
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Manchmal passte es eben.
Na, das war ja mal ein Abend gewesen! Ein glücklicher Umstand, dass Berger Christoph getroffen hatte, seinen alten Schulfreund. Und er war ja nicht nur Schulfreund gewesen. Christoph war zusammen mit ihm in Hanroth aufgewachsen. So viele Menschen konnten das ja nicht von sich behaupten. Hanroth, ein Westerwälder Dorf mit nicht einmal siebenhundert Einwohnern. Als Kinder hatten sie gemeinsam die Wiesen und Wälder ihrer Heimat, dem Puderbacher Land, erkundet. Hatten jede Kuh mit Namen gekannt, die Bäche der Umgebung aufgestaut, dass die freiwillige Feuerwehr ausrücken musste, wenn die Felder überflutet wurden. Waren auf die höchsten Bäume geklettert und hatten die Nachbardörfer unsicher gemacht: Raubach, Elgert, Woldert und Niederdreis. Wenn sie besonders forsch waren sogar Maroth oder Puderbach.
Es hatte Berger gutgetan, nach all den Tiefschlägen der letzten Zeit mit jemandem zu reden, der ihm und seinen eigenen Wurzeln so nah stand. Auch wenn sie sich seit tatsächlich gut dreißig Jahren nicht gesehen hatten, und auch wenn Christoph immer ein sehr ruhiges, fast verschlossenes Kind gewesen war, war der Funke zwischen ihnen sofort übergesprungen. Berger konnte seinen Frust über die Trennung von Moni loswerden, und Christoph hatte nach seiner Scheidung auch nicht allzu viel Gutes über das Thema Glückliche Ehe zu berichten. Natürlich war das gemeinsames Jammern, aber es war immerhin ein Austausch und somit auch wohltuend gewesen. Nach dem dritten oder vierten Guinness und dem zweiten Macallan war jede Zurückhaltung gefallen und sie hatten sogar über Themen gesprochen, die üblicherweise nur Frauen unterhaltsam fänden. So ähnlich hätte Berger zumindest die Schilderungen ihrer Lebensumstände und den Tratsch über gemeinsame frühere Bekannte beschrieben, wäre er zu diesem Zeitpunkt noch nüchtern gewesen.
Jedenfalls hatte Berger Hertling von seiner Tochter Lana erzählt, die ihn für die Trennung von seiner Frau, ihrer Mutter, verantwortlich machte. Und von seiner Männerwohngemeinschaft, in der sein Kollege Bohnert nach dessen Suchtentwöhnung noch immer für die Fernbedienung der Glotze und fürs Kochen zuständig war. Hertling berichtete von seinem Berufsleben als Psychiater in der Kölner Uniklinik, dem Tod seines Vaters und von seinem jüngeren Halbbruder Michael, mit dem er kaum Kontakte pflegte, der aber ebenfalls in der Region wohnte und als Richter beim Landgericht Koblenz arbeitete. Eins kam zum anderen und gegen ein Uhr nachts hätten sie mit ihren Geschichten ein Buch füllen können. Wahrscheinlich ein Drama. Keine Frage, dass sie ihre wiederbelebte Freundschaft dabei kräftig begossen und sich anschließend für weitere Treffen verabredet hatten. Und Berger hatte sich dabei ertappt, dass ihm die Gesellschaft tatsächlich besser gefiel als die Einsamkeit an der Theke. Ja, dachte er, manchmal passt es eben und man schafft es, irgendwie der Tristesse zu entkommen.
»Morgen Ronny!«
Berger, unsanft aus seinen Gedanken gerissen, fuhr erschrocken um. »Mein Gott, Klaus, du kannst einen aber vielleicht erschrecken.«
»Was machst du denn noch hier? Ist doch schon halb elf.« Klaus Bohnert kam in die Küche geschlurft. Der wilden Haarpracht nach zu urteilen, musste sein Übergangsmitbewohner schlecht geträumt haben. Warum er seit seiner Entwöhnungsbehandlung in Daun nachts einen Schlafanzug trug, war für Berger unerklärlich. Der heute war jedenfalls blau gestreift. Vor seiner Verwandlung in einen Alkohohlgegner durfte man sich seiner ausgebeulten Boxershorts und der beliebten Feinrippunterhemden erfreuen. An diesen Anblick hatte sich Berger ja immerhin gewöhnt.
»Hab genug Überstunden … ist später geworden, gestern«, presste Berger zwischen den Zähnen hervor, trank den letzten Rest Kaffee aus seinem Becher, stand auf und ging zur Saeco, um sich einen zweiten zu brühen.
»Kurz vor zwei war‘s, als du heimgekommen bist. Zehn vor, um genau zu sein.« Bohnerts Augenbrauen hatten sich tadelnd gehoben, was wohl bedeuten sollte, dass Berger gegen irgendwelche, ihm nicht bekannten Kommunenregeln verstoßen hatte.
»Das … das geht dich ja wohl ‚nen feuchten Dreck an, wann ich nach Hause komme. Wird mir mittlerweile hier schon nachspioniert? Da hört sich doch wohl alles auf!« Bergers Stimme hatte einen rauen Ton angenommen, was ihm augenblicklich wieder leidtat, hatte er sich doch zur Nachsicht gegenüber dem labilen Kollegen verpflichtet. Klaus, der nach seiner deftigen Depressionsphase und der kräftezehrenden Entwöhnungsbehandlung noch nicht völlig er selbst zu sein schien, brauchte offenbar viel Zuwendung. Bei allem Mitleid, das Berger seinem Kollegen gegenüber empfand, konnte und wollte er Bohnert allerdings keine therapeutische Extrabehandlung zukommen lassen. »Das nervt«, entfuhr es ihm dann auch ganz unwillkürlich mit einem allerdings versöhnlicheren Klang in der Stimme. Um das Friedensangebot zu untermauern, setzte er noch ein konziliantes aber unartikuliertes Grummeln hinzu, drehte sich zur Saeco und hantierte an den Knöpfen.
»Könntest du vielleicht ein Frühstücksbrettchen benutzen? … Ist alles voller Krümel auf dem Tisch.«
Damit war der Waffenstillstand ja wohl schon wieder gebrochen! Mit tadelndem Blick schob Bohnert die Brösel von der Tischplatte in seine Hand und trug sie zum Abfalleimer.
»Immer locker bleiben, lieber Klaus. Nur, weil du plötzlich den Saubermann in dir entdeckst, müssen es dir nicht alle anderen gleichtun!« Berger kam sich durchaus schäbig vor, Bohnert auf seine therapiebedingte Verhaltensänderung anzusprechen, aber die Stimmung war ja ohnehin nicht mehr zu retten. Da konnte er seinen Kommunarden auch gleich noch einen bedrohlichen Blick von der Seite zuwerfen. Die Saeco begleitete die aufgeladene Stimmung mit einem kreischenden Malgeräusch, bevor sie das heiße Wasser zischend durch das Kaffeemehl im Filtersieb presste.
Vor seinem Entzug war Bohnert zwar ein völlig abgehalfterter Säufer, aber auch ein liebenswürdiger, offener und witziger Typ gewesen, der alles Mögliche beherrscht hatte, nur nicht Ordnung. Das alles hatte sich mit seiner Behandlung in der Therapieeinrichtung gänzlich geändert. Die Klinik in Daun hatte einen anderen Klaus Bohnert entlassen, als sie aufgenommen hatte. So sehr dieser Umstand natürlich auch gewünscht und beabsichtigt war, so sehr musste man sich an den neuen Menschen gewöhnen. Der neue Klaus Bohnert war krankhaft ordnungsliebend, fast pedantisch sauber und fürchterlich genau. Wenn man es negativ sehen wollte, war der Säufer in die Klinik rein- und der Klaus mit dem Stock im Arsch wieder rausgekommen. Der Vorteil dieser Verwandlung war, dass die Bude jetzt stets sauber und das Essen immer pünktlich gekocht war. So schnell, wie der Staubsauger brummte, wenn vom Wohnzimmertisch mal ein paar Chips oder Plätzchenkrümel runterfielen, konnte man die Füße gar nicht anheben. Hatte Berger früher der verdreckte Zustand des Haushalts gestört, nervten ihn jetzt Klaus‘ Umtriebigkeit und Hygienewahn.
Er setzte sich mit seiner dampfenden Tasse wieder an den Küchentisch. Bohnert schien die angespannte Situation nicht weiter zu beschäftigen. Oder vielleicht doch? Jedenfalls wienerte er mit einem Fließtuch an der Spüle herum, wie ein Schneefeger beim Eisstockschießen. Das Waschbecken schien ihm offensichtlich nicht sauber genug. Als er die Oberfläche heiß gerieben zu haben schien, wandte er sich der Saeco zu. Mit wenigen flinken Handgriffen waren die ersten Teile aus dem Gehäuse gelöst, die wohl einer antiseptischen Behandlung bedurften. Wahrscheinlich auskochen, wie der Griff zum großen Kochtopf im Unterschrank verriet. Bevor Berger intervenieren konnte, klingelte das Telefon im Flur. Berger sprang auf, aber Bohnert war schneller. Beherzt hatte er die Brühgruppe des Kaffeevollautomaten in der soeben blankpolierten Spüle abgesetzt, war mit drei ambitionierten Sprüngen im Flur und nahm den Hörer in die Hand. Berger stand mit einer genervten Grimasse unmittelbar hinter ihm. Immerhin war das hier ja noch sein Haus.
»Ja, bei Berger? Ah, grüß dich Niko. Ja, genau, haha … nein … noch nicht ganz wach … nein, ist er nicht … mmh, ja genau, bei dem Lebenswandel. Jaja, haha … Gut, mach ich … ich geb ihn dir, ja? Tschüss dann, gell …« Das Telefon in der ausgestreckten Hand vor sich haltend, blickte er demonstrativ an Berger vorbei Richtung Küche. »Hier, der Niko für dich!«
Berger griff sich das Gerät und meldete sich. »Niko? Morgen! Ja … was? Nein, der spinnt doch. Weiß gar nicht, was der will, ich bin topfit. Nein nein, was gibt’s denn?«
Die eintretende Stille nutzte Bohnert, um weitere Einzelteile aus der Saeco zu lösen und zur Spüle zu bringen. Die verräterische Geräuschlosigkeit, mit der er dabei hantierte, ließ allerdings keinen Zweifel daran aufkommen, dass er sich mehr für den Inhalt des Telefongesprächs als für mögliche Schimmelsporen im Filtersieb interessierte.
»Wo?« Berger hatte stumm einige Sekunden Sorokins Informationen gelauscht, war nun aber zweifelsfrei erregt. »Am alten Reitplatz? Ja, logisch kenn‘ ich den. Ich bin in zehn Minuten da!« Er presste das Handgerät energisch zurück in die Ladeschale und reckte kurz den Kopf in den Türrahmen. »Tote am alten Reitplatz. Ich bin weg!«
-
Der alte Reitplatz war ein zwei Fußballfelder großes Hochplateau nahe des Weidchens, einem düsteren Verbindungsweg zwischen der Heddesdorfer Straße und der Bundesstraße 42. Das Gelände lag zwischen Klärwerk und dem früheren Bismarckpark, einer noch in den sechziger Jahren ordentlich gepflegten Grünanlage, die Neuwieder Bürger zum Lustwandeln und Eltern mit ihren Kindern aufgrund des attraktiven Spielplatzes zum Verweilen und Sandburgen bauen eingeladen hatte. Mittlerweile war der Park in ein verwildertes Gelände mutiert, das östlich ans Icehouse Neuwied und südlich ans Raiffeisenstadion heranwucherte.
Bereits bei Sorokins Hinweis auf den Ort des Leichenfunds waren Berger die Schlagzeilen eines Mordfalls aus den siebziger Jahren ins Gedächtnis gerufen worden: In der Nacht zum 13. Januar 1973 hatten vier Jugendliche, drei Neuwieder Jungs und ein Mädchen, den ihnen bis dahin unbekannten achtzehnjährigen Ulrich von Heymann bestialisch ermordet. Der junge Arbeiter war gegen drei Uhr morgens auf die Gruppe der Jugendlichen gestoßen und eine Stunde später tot gewesen. In dieser letzten Stunde seines Lebens war er aufs Brutalste gequält und wie ein Stück Vieh nackt in den Bismarckpark getrieben worden. Dort hatten ihn alle vier nacheinander mit vierunddreißig Messerstichen in Brust und Rücken getötet. Soziologen und Kriminologen hatten von »perfekt kaputten Menschen« und einem »psychischen Vakuum zerstörter Familien« gesprochen. Die vier Jugendlichen stammten aus »katastrophalen geborgenheitssterilen Verhältnissen«. Selbst dem damals zuständigen und erfahrenen Staatsanwalt hatte der Fall einen »Schauer des Entsetzens über den Rücken gejagt«. Der Mainzer Kriminologie-Professor Armand Mergen konnte gar nur wenig Vergleichbares finden und dachte »allenfalls an Charles Manson und Sharon Tate, wenn man hier nach Vergleichen sucht«. Für alle am Verfahren Beteiligten blieb aber vor allem das Motiv für den Mord nachhaltig unauffindbar.
Die vier Täter hatten bei den Vernehmungen kaum Gefühle, Reue oder Schuldgefühle gezeigt und die Tat lapidar als »Kaputtmachen« beschrieben. Damals waren sich die Experten noch uneins gewesen, ob es sich bei dem Mord um die scheinbar zufällige und motivlose Tat depravierter Jugendlicher aus hoffnungslos gesellschaftsfernem Milieu oder dem Beginn einer allgemeinen, gesellschaftszerstörerischen Entwicklung gehandelt hatte.
Berger glaubte sicher sein zu können, welche der beiden Varianten sich durchgesetzt hatte. Damals hatte er selbst kurz vor dem Ende seines Wehrdienstes gestanden und bereits seinen beruflichen Weg vor Augen, der ihn zur Polizei führen sollte. Möglicherweise waren die besonderen Umstände der Tat auch eine letzte Bestärkung seines Berufswunsches gewesen. Denn auch er hatte in seiner Jugend die eine oder andere raue Auseinandersetzung auf Neuwieds Straßen geführt, und mit zunehmender Reife die Hoffnung gehegt, dass die Einhaltung gesellschaftlicher Regeln das Überleben dieser Gesellschaft sichern würde.
Er bog von der Bundesstraße auf den mit tiefen Pfützen übersäten Feldweg ein. Sein Dienstkombi hüpfte im Takt der quietschenden Stoßdämpfer durch die Phalanx regenwassergefüllter Schlaglöcher. Die ersten Wagen der Kollegen der Schutzpolizei waren bereits nach wenigen hundert Metern am Hang zum alten Reitplatz zu sehen. Berger parkte hinter dem letzten der blausilbernen Dienstfahrzeuge. Als er entlang des Hangs unterhalb der Hochebene auf das rotweiße Absperrband zuschritt, entdeckte er seinen jungen Kollegen aus der Mordkommission, der ihn ebenfalls bemerkt hatte und bereits auf ihn zugelaufen kam.
»Morgen Ronny! Schon gefrühstückt?« Sorokins Mimik nach zu urteilen fiele bei diesem Ortstermin keine Vergnügungssteuer an. Berger zog die Augenbrauen hoch und Sorokin hob das Absperrband, um seinem Chef hindurchzuhelfen. »Da hinten, am zweiten Aufgang zum Gelände …«, wies er Berger mit einem Kopfnicken zur Fundstelle.
Sie folgten dem Feldweg, der sich friedlich und wie unbeteiligt entlang des Hanges zog.
Wie klar diese Situationen doch die unterschiedlichen Welten aufzeigen, in denen Menschen sich bewegen, dachte Berger. Das hier zeigte im Gegensatz zu der scheinbar heilen Welt der Normalbürger die Extreme, mit denen die allermeisten niemals konfrontiert wurden. Immer und immer wieder musste Berger an diesen Umstand denken und daran, dass sie als Kriminalbeamte ständig an dieser Grenze zur Welt des Bösen standen. Und vielleicht war es auch diese Nähe zum Fatalen, zum Schlechten und Bedrohlichen, die unzählige Polizistenehen zum Scheitern brachte. Vielleicht waren diese immer wiederkehrenden Gedanken aber auch nur der Versuch, sich selbst der Verantwortung für eine glückliche und nachhaltige Beziehung zu entziehen. Berger war sich da mittlerweile unsicherer denn je.
Sorokin wies mit der Hand zu einer Stelle auf dem vor ihnen liegenden Weg, und Berger sah die Kollegen der Spurensicherung, deren weiße Schutzanzüge einen fast störend wirkenden Kontrast zum lichten Grün der rundum aufkeimenden Natur bildeten. Die gut einsehbare Fundstelle lag unmittelbar am Aufgang zum Reitplatz, nur wenige Meter vom Durchgang des Bahndamms und unter den frisch begrünten Ästchen eines riesigen Hartriegelstrauchs. Einige der Spusileute hockten über Bodenspuren, andere begutachteten das Gestrüpp um den Stichweg herum, der links hinter ihnen nach oben führte.
»Da liegt das erste Segment der …«
»… Frau«, presste Berger durch die Zähne und verschloss die Lippen sogleich wieder zu einem schmalen Strich, als er den blonden, langen Pferdeschwanz sah, der abrupt eine beißende Emotion in ihm auslöste und trotzdem gänzlich fremdartig wirkte, so ganz ohne den restlichen Körper.
Diese goldblonden Haare!
»Außerdem, hier …« Sorokin ging um den abgeschnittenen Kopf herum und betrachtete die Seite des Schädels, an der sich das Gesicht hätte befinden müssen. Als Berger die vordere Kopfseite sah, riss er unwillkürlich den Handrücken vor die Lippen. Ganz kurz nur, aber es war eine Reaktion, die man von dem alten Haudegen eigentlich nicht kannte.
»Mein Gott, was ist …«
»Ja, das Gesicht wurde mehr oder weniger zerstört. Wahrscheinlich ein oder mehrere brutale Schläge mit einem harten Gegenstand.«
»Außer der Augenpartie ist nicht mehr viel übrig.« Berger schüttelte den Kopf, nachdem er in wenigen Sekunden das ganze Ausmaß an Zerstörung im Antlitz der Frau sah, die vor der Tat hübsch gewesen sein mochte. Das rechte Auge war gänzlich grünblau zugeschwollen. Das linke vielleicht eine Streichholzstärke weit geöffnet und blutunterlaufen wie ein dunkler Halbmond. Die untere Gesichtspartie war als solche nicht mehr erkennbar und ganz eindeutig Ergebnis bestialischer Zerstörungswut. Bergers Mundpartie verzog sich zur Grimasse, ähnlich einer nepalesischen Göttermaske. Seine Gedanken hingen ganz offensichtlich auch noch irgendwo anders als an diesem grausamen Ort, wie sein flackernder Blick verriet.
»Irgendjemand muss eine unermessliche Wut gegen die Frau gehegt haben, anders ist diese Brutalität nicht zu erklären. Vielleicht ein eifersüchtiger Freund oder Liebhaber?«, versuchte sich Sorokin mit einer ersten Deutung.
»Na ja, wenn jemand eifersüchtig ausrastet, schlägt er sie vielleicht … Vielleicht bringt er sie im Extremfall auch um. Aber das hier, ich meine diese hasserfüllte Tat … das Gesicht zu zerstören, was hat das zu bedeuten? Und warum schneidet man ihr auch noch den Kopf ab?«
»Vielleicht ein Ritual?«
»Oder ein Irrer. Laufen ja immer mehr rum von denen.« Ja, Berger war mit seinen Gedanken nicht nur an der Fundstelle, sondern noch irgendwo anders. Das war nicht zu übersehen. Die Augen des Kommissariatsleiters tasteten die Umgebung ab, wanderten vom Kopf zum Reitplatz hinauf, über den Stichweg zurück und bis zum Durchgang des Bahndammes. Dabei schien sich in seinem Kopf aber irgendetwas abzuspielen, was er aus unbekannten Gründen noch nicht mitteilte. Als sein visueller Rundgang durch die Umgebung beendet zu sein schien, verweilte sein Blick wieder auf dem vor ihnen liegenden Kopf. Nachdenklich kaute er an seiner Unterlippe. Er grübelte über irgendetwas. »Warum der Kopf?« Bergers Stimme klang monoton und abwesend.
»Was meinst du, Ronny?«
Wie, um sich selbst aus einer ungewollten Lethargie zu befreien, straffte Berger die Schultern und sah Sorokin entschlossen an. »Ich meine, wenn der oder die Täter diese Tat nur ansatzweise verheimlichen wollten, was ja anzunehmen wäre, warum haben sie den Kopf hier unten liegenlassen? Warum ist er nicht versteckt worden … und wenns nur oben auf dem Reitplatz gewesen wäre … weg von diesem Weg? Hier unten kommt doch ständig irgendwer vorbei.« Er schien sich langsam wieder ins Hier und Jetzt zu arbeiten.
»Vielleicht ist der Kopf von da oben runtergerollt.« Sorokin zeichnete mit seiner Hand die Hangstrecke von dem über ihnen liegenden Hochplateau bis unten zur Fundstelle nach. »Möglicherweise wollten der oder die Täter den Kopf ja nicht mehr anfassen, als er nach hier unten gerollt war.«
»Du meinst, sie schneiden ihr den Kopf ab und scheuen sich dann, ihn wieder anzufassen, weil sie sich davor ekeln?« Berger lächelte mitleidig. »Nein nein. Das hat was anderes zu bedeuten …« Den Blick gesenkt, schien er gedanklich wieder vom Kollegen fortzuschweben. Sorokin konnte geradezu sehen, wie sich die Rädchen im Hirn seines Chefs drehten und ratterten. Wahrscheinlich hatte er schon eine Theorie entwickelt, die er noch nicht preisgeben wollte. Nein, ein Teamspieler war Berger wirklich nicht.
»Ach, bevor ich’s vergesse. Ein Spaziergänger hat den Kopf gefunden und uns informiert, als er den ersten Schock überwunden hatte und wieder sprechen konnte.« Sorokin kramte in der Innentasche seiner Jacke und zog das Mobiltelefon hervor, von dem er nach einigen Klicks und Wischern ablas: »Gerhard Kochhäuser … wohnt hier hinten.« Er wies mit dem Arm in Richtung der Prinz-Victor-Straße. Und genau dort stand auch eine winkende Figur mit Fotoapparat hinter dem Absperrband.
»Herr Berger! Hallo … gibt es Informationen zu der Toten? Wissen Sie schon Näheres?«, rief der Mann, als er Bergers Blick begegnete. Offensichtlich ein Reporter der Rheinland-Post.
»Mein Gott, einer von den Blutegeln«, zischte Berger und warf dem Winkenden noch einen bissigen Blick zu, ehe er sich demonstrativ abwandte, um ihm seine ehrliche Abneigung zu veranschaulichen.
»Was ist das denn für Einer?«
»Du meinst der Kochhäuser? Derjenige, der den Kopf gefunden hat?«
Berger nickte.
»Na, ein Rentner … verheiratet. Wohnt da seit dreißig Jahren. Er ist mit den Nerven am Ende. Wir haben ihm psychologische Hilfe angeboten, die er aber abgelehnt hat.«
»In den nächsten Tagen wird er sie vielleicht zu schätzen wissen und sie annehmen«, brummte Berger. »Aber du nimmst dir den bitte trotzdem nochmal vor, Niko«, instruierte er Sorokin während er flüchtig zum blonden Pferdeschwanz hinübersah.
»Habe ich bereits geplant«, entgegnete Sorokin leicht pikiert.
Wie von einer plötzlichen Unruhe befallen blickte sich Berger hektisch nach allen Seiten um. »Wo ist denn …« Zweifellos suchte er nach etwas oder jemandem.
»Unser junger Kollege?«
»Ja, verdammt. Wo steckt der Fassbender denn schon wieder? Ist der noch nicht aufgetaucht?«
»Nein, Ronny. Der ist heute und morgen auf einem Lehrgang. Operative Fallanalyse und Neue Ermittlungsmethodik.«
»Wie bitte. Was will der denn mit den neuen Erkenntnissen anfangen, wenn der sich um jeden Leichenfundort herumdrückt?« Bergers Augen funkelten. Eine Freundschaft zwischen ihm und dem Kollegen Fassbender, den er als völlig ungeeignet für ihren Beruf einstufte, würde das nicht mehr, soviel stand fest.
Sorokin zuckte mit den Schultern und verzog die Lippen.
»Gut, also …« Berger legte den Kopf in den Nacken und schaute mit verkniffenem Blick gen Himmel, der soeben einen leichten Nieselregen nach unten entließ. Es arbeitete in ihm, wie seine grüblerische Mimik verriet. »Lass uns mal raufgehen, um uns den Rest anzusehen.«
Den Kopf in den hochgestellten Kragen seiner Jacke eingezogen und seine Fäuste in die Seitentaschen gerammt, trottete er den Aufgang zum Reitplatz hinauf, Sorokin im Schlepptau. Von den beiden Beamten ignoriert, winkte ein einsamer Lokalreporter hinter dem Absperrband ein letztes Mal, bevor er resigniert aufgab.
Schulz vom Erkennungsdienst kam ihnen im weißen Overall, die Kamera in seinen Händen, entgegen. Er grüßte knapp und wies mit einem Kopfnicken zum hinter ihm liegenden Gelände. Berger und Sorokin ließen ihn an einem etwas breiteren Wegstück passieren und durchschritten das aufgebrochene Tor des Auffangzauns, der das gesamte Gelände des ehemaligen Reitplatzes umsäumte. Eine Krähe flog laut krächzend vom Boden des Reitplatzes auf. Berger blickte ihr hinterher und bemerkte einen weißen Fleck über ihrem rechten Auge.
Der kopflose Leichnam lag auf dem ehemaligen Hartplatz der Spielvereinigung, gut zwanzig Meter vom Fangzaun entfernt, mittig unter dem dort stehenden Rahmen eines vergessenen, netzlosen Fußballtors. Die Beine der Leiche waren gespreizt wie bei einem Hampelmann. Einer dieser bunt angemalten, der Arme und Oberschenkel nach oben riss, wenn man an der Schnur zog. Berger kannte dieses Spielzeug noch aus seiner Kindheit und den Kindergartentagen seiner Tochter Lana. Das Opfer war völlig nackt und lag auf dem Rücken. Auch die Arme waren weit geöffnet, so, als hätte die junge Frau ihren Liebhaber empfangen wollen. Wie man zudem unschwer erkennen konnte, war auf Höhe des kopflosen Halses Blut in den Boden gesickert. Etliches Blut. Den Kopf hatte man ihr zweifelsfrei an dieser Stelle abgeschnitten. Und sie musste dabei noch gelebt haben.
Die beiden Beamten waren am Rand des Spielfelds bis auf Höhe des Leichnams herangetreten. Vorsichtig, um nicht unnötig Spuren zu verwischen. Berger stand nun gut zwei Meter vor dem Körper und wirkte irgendwie angegriffen. Sorokin sah ihm an, dass ihn dieser Fall persönlich betroffen machte. Er konnte es sich auch beinahe ausmalen, denn Bergers Tochter Lana hatte in etwa das gleiche Alter, wie es das Opfer gehabt haben musste. Es wird die Sorge eines Vaters um sein Kind sein, dachte sich Sorokin. Auch, wenn das Kind schon über die Dreißig war. Die Gedanken um das eigene Kind ließen einen doch niemals los, das wusste jeder.
Wie, um dem Opfer eine letzte Pietät zu erweisen, wendete Berger den Blick von der offengelegten Scham ab und starrte abwesend ins Nichts. Er war über die Umstände dieser Tat zweifelsfrei bestürzt und wirkte ratlos. Ein Zustand, den Sorokin an seinem Chef nicht kannte.
»Das ist …«
»Ja, das ist abscheulich!«, ergänzte Sorokin.
Berger bog den Rücken durch und sog hörbar Luft in seine Lungen. Aber er schien sich langsam wieder zu fangen. »Wahrscheinlich ist sie eine attraktive Frau gewesen … etwa das Alter von Lana, wenn ich mich nicht täusche.«
Sorokin nickte. Er hatte also nicht falsch gelegen, mit seiner Vermutung. Berger hatte immer stark an seiner Tochter gehangen. Und jetzt, nach der Trennung von Moni, würde Lana sicherlich noch eine größere Bedeutung für ihn haben. Die blonden Haare und das jetzt hier … die Tote musste ihn an sie erinnert haben.
Berger trat einen weiteren, vorsichtigen Schritt auf den leblosen Körper zu und reckte den Hals. »Wirkt alles in allem arrangiert«, knurrte er beiläufig durch die Zähne ohne, dass Sorokin darauf eingegangen wäre. »Außer der Schleifspur von dort nach hier sehe ich keine Kampfspuren.« Er wies mit dem Finger auf die Bodenspur, die sich vom grasbewachsenen Rand des Spielfelds bis zur Toten über den rotbraunen, feinkörnigen Split zog.
»Nein.« Sorokin ließ seinen Blick über den Schotter schweifen und schüttelte den Kopf. »Das ist seltsam. Ob sie sich nicht gewehrt hat?«
»Die war bereits weggetreten. Sie ist hierhin geschleppt und abgelegt worden. Irgendwo in der Nähe hat man sie vorher erwischt, außer Gefecht gesetzt und dann hierhin getragen oder gezogen.« Er hob seine rechte Hand und zog einen Halbkreis über die Fläche vom weit unter ihnen liegenden Hohlweg bis zu dieser Stelle. »Die Spusi soll das Gelände weiträumig absuchen, insbesondere im Weidchen und an der Bahnunterführung.«
Sorokin nickte.
»Ein Ring am rechten Ringfinger«, murmelte Berger und zeigte auf die ausgestreckte Hand.
»Ja, ein auffälliges Stück mit grünem Stein.«
»Das soll der Fotograf gleich groß aufnehmen und uns heute noch einen Ausdruck davon geben.« Bergers Augen überflogen das Gelände um die Tote, dann wandte er sich seinem Kollegen zu. »Das Gesicht …« Er kratzte sich über die unrasierte Gesichtshaut. »So wie ihr Gesicht aussah, war sie sofort weg. Ich meine, da war nix mehr mit Gegenwehr, Niko.«
»Da wirst du recht haben«, bestätigte Sorokin.
Berger blickte wieder zur Leiche und auf den sie umgebenden feinen Lavasplit des Sportplatzes. Er legte den Kopf zur Seite und wies mit dem Zeigefinger auf kaum erkennbare Schleifspuren zwischen den Beinen der Toten, die durch den nächtlichen Regen leicht verwischt und den Beamten nicht sofort aufgefallen waren. »Da, sieh! Auch unter den Oberschenkeln … da ist was über den Boden gezogen worden.« Und nach einigem Lippenkauen: »Man hat ihr hier die Kleider vom Leib gerissen.«
»Ja, eindeutig.« Sorokin nickte beiläufig und ging einen vorsichtigen Schritt weiter. Ihm schien etwas Bedeutsames im Schulterbereich der Toten aufgefallen zu sein. »Da fehlt ein Stück Haut. Hier, Ronny.«
Berger trat neben ihn und folgte dem Blick des Kollegen.
»Da, unterhalb der linken Schulter … wie mit einem Messer rausgeschnitten.« Sorokin wies mit dem Zeigefinger auf eine Stelle in Höhe des Schulterblattes, an der man den Ansatz einer rechteckigen, knapp postkartengroßen Stelle erkennen konnte, die sich durch ein marmoriertes Dunkelrot von der blassen Umgebungshaut abhob.
»Ja, da wurde Haut entfernt. Sehr akkurat. Wir werden mehr sehen, wenn sie gleich umgedreht wird.« Berger seufzte und ließ den Blick weiter über den Boden wandern. Er blinzelte und schien eine weitere Auffälligkeit entdeckt zu haben. Angestrengt spähte er auf eine Stelle neben der Toten. »Ich hab da eben was … ich glaube, so langsam brauche ich auch eine Brille zum Weitsehen, aber wenn ich mich nicht täusche liegen da auf dem Boden doch Tabakkrümel, oder?«
Sorokin reckte ebenfalls den Hals um einen Flecken Sportplatz neben der Achselhöhle des Leichnams zu begutachten. Als er auch sah, was Berger gemeint hatte, nickte er. »Ja, richtig, Ronny! Nicht gut zu erkennen im braunen Sand, aber sieht aus wie Pfeifentabak.«
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Grandios.
Ja, das war genau das richtige Wort für seine Empfindungen. Er fühlte sich verjüngt, befreit, erregt und voller Erwartung auf etwas Großes. Etwas Grandioses eben.
Zunächst war er sich unsicher gewesen, ob er diesen Weg überhaupt gehen sollte. Skrupel hatten ihn beschlichen und eine lähmende Unsicherheit befallen, ob er nicht über das Ziel hinausschösse und ob er die Präzision und Souveränität aufbrächte, die Tat sicher auszuführen. Alles nur Emotionen, die durch nichts gerechtfertigt waren, aber sie waren einfach da gewesen. Es hatte ihn viele Wochen gekostet, die Bilder in seinem Kopf zu verdrängen. Bilder eines unschuldigen Opfers, das für ein übergeordnete Dimension von Unrecht geopfert werden musste. Aber letztlich hatte sie ihn von den Zweifeln an seinem Handeln befreit.
Mein Seelentrost …
Er atmete tief und nahm einen Schluck Kaffee, der mittlerweile nur noch lauwarm in der Tasse dümpelte, die er seit Minuten gedankenverloren in der Hand hielt. Angewidert verzog er sein Gesicht und wischte die Kaffeereste mit einer Stoffserviette von den Lippen.
Vor seinem inneren Auge erschienen Bilder aus der Zeit in der Gruppe. Dort war er erst richtig wach geworden. War zu dem herangereift, was ihn heute als denkendes Individuum ausmachte. Damals, in dem drögen Kaff, in dem er seine Kindheit und Jugend verbringen musste, hatte er die ganzen Trottel dermaßen gehasst. Die Typen, die sich jedes Wochenende bis zum Umfallen die Kanne gegeben hatten. Und die Weiber, die sich blöd kichernd, ihrem Schicksal ergebend mit neunzehn ein Kind hatten machen lassen und mit spätestens vierundzwanzig fett wie ein Mastschwein hinter dem Herd standen. Bis er selbst zwanzig gewesen war, hatte er diesen üblichen Firlefanz auch noch mitgemacht. Oder besser gesagt: ertragen. Gelitten hatte er aber immer unter diesem Stumpfsinn im Tal der Ahnungslosen. Aber das war alles anders geworden, als er das Dorf verlassen und sich der Bewegung angeschlossen hatte. Dort hatte man ihn verstanden und er hatte die anderen verstanden. Die Zeit war aufregend gewesen. Bis nach Berlin waren sie gefahren, um an Aktionen teilzunehmen. Alles, was ihn jemals bedrückt hatte, fand in der Bewegung Lösungen. Und alles, an was er jemals geglaubt hatte, war dort dokumentiert, begründet und logisch geordnet. Es gab große Vorbilder, an denen man sich orientieren konnte und heldenhafte Operationen, die einen anspornten und motivierten, auch wenn sie schon viele Jahrzehnte zurücklagen und in fernen Regionen der Welt durchgeführt worden waren. Die Gruppe hatte ihn ausgefüllt. Es war eine Phase der Erfüllung gewesen. Eine Phase, die ihn hatte reifen lassen und in der er sich selbst besser verstehen lernte. Doch irgendwann erschienen ihm die Aktivitäten der Gruppe zu dürftig und zu wenig diszipliniert. Ja, irgendwie auch zu pubertär. Es wurde doch irgendwie langweilig und es war vor allem nutzlos, ständig auf Straßen herumzubrüllen oder sich zu prügeln. Er war letztlich davon überzeugt gewesen, dass diese Handlungen nur der Selbstbefriedigung dienten und keine vorzeigbaren Ergebnisse brachten. Ergebnisse und Resultate, die von den Menschen begriffen und die niemals vergessen werden sollten.
So war sein Plan langsam gewachsen.
Ein Plan, der ein Fanal setzen würde und mit dessen Umsetzung er heute begonnen hatte.