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Berger schleppte sich von Stockwerk zu Stockwerk. Die Bisswunde in seiner Wade pochte. Er hatte sie gestern Abend noch notdürftig mit Alkohol versorgt und einen Verband darum gewickelt. Na, das würde schon wieder.

Die Bewohner des Mehrfamilienhauses waren nicht sehr auskunftsfreudig. Entweder kannten sie Julia Reinhardt kaum oder sie wollten sich keine Scherereien einhandeln und sagten so wenig wie möglich. Berger hatte bei allen Befragten, außer einem, der nicht zuhause war, seine Visitenkarte hinterlassen. Falls ihnen noch Sachdienliches einfiele, sollten sie sich bei ihm melden. Erfahrungsgemäß kam da aber nicht mehr viel. Den Bewohner, den er nicht angetroffen hatte, einen Rigobert Hallstadt, müsste er später noch einmal aufsuchen. Viel versprach er sich nicht von dessen Befragung. Außer der Tatsache, dass es vor Hallstadts Wohnungstür penetrant nach Üblem roch, deutete zunächst einmal nichts darauf hin, dass hier irgendetwas Interessantes auf ihn wartete.

Er griff sich an die schmerzende Stelle auf Höhe seiner Milz. Da, unter dem Rippenbogen, hatte Piotrowski ihn bei seinem Fluchtversuch mit einem Schlag erwischt. Gut das Niko auf Zack gewesen war und zumindest die Töle außer Gefecht gesetzt hatte. Piotrowski hatte die unübersichtliche Situation leider zur Flucht genutzt. Na, die Fahndung lief und sie würden ihn schnell finden, da war sich Berger ganz sicher. Der Junge würde sich mit entlastenden Argumenten schwertun.

In feiner Handschrift war der Name Freisberg auf das Zettelchen neben dem Klingelknopf geschrieben. Berger klingelte. Dritter Stock links, seine letzte Befragung für heute. Der Mann wohnte, so hatte die Recherche ergeben, alleine, war Witwer und siebenundachtzig Jahre alt. Ältere Menschen waren häufig aufmerksamer und gesprächsbereiter als jüngere. Vielleicht ging ja doch noch was, heute.

Ein großer, schlanker Mann mit schneeweißem Haar und einem offenen, interessierten Blick öffnete ihm. Obgleich in altersentsprechend leicht gebückter Haltung stehend, wirkte er nur wenig kleiner als Berger. Zweifelsfrei handelte es sich um Freisberg. Trotz seines hohen Alters machte er mit seiner vitalen Ausstrahlung einen ausgesprochen gesunden und keinesfalls gebrechlichen Eindruck.

Berger stellte sich und sein Anliegen vor. Herr Freisberg nickte und bat ihn einzutreten.

»Sie arbeiten also auch samstags?«, fragte Freisberg, als sie durch den kurzen Flur ins Wohnzimmer gingen.

»Wenn es der Fall oder die Umstände erfordern, ja.«

Die Wohnung war in einem tadellosen Zustand. Es war auf jeden Fall vor kurzem erst gesaugt und frisch geputzt worden. Alles schien seinen Platz zu haben und nirgendwo konnte Berger so etwas wie Unordnung entdecken. Wenn Freisberg das alles alleine machte, dann Hut ab! Anders, als Berger es aus sonstigen Wohnungen kannte, roch es hier auch nicht nach altem Essen, ranzigem Fett oder Abfällen. Dafür hing unschwer der süßwürzige und rauchige Duft fermentierter Pflanzenblätter und aromatischer Vanille wie ein passendes Odeur in der Luft. Freisberg war Pfeifenraucher!

Sie setzten sich ins Wohnzimmer. Eine Unzahl von gerahmten Schwarzweißfotografien bedeckte den größten Teil der gemusterten Tapete, die Berger auf frühe Sechziger oder sogar Fünfziger schätzte. Die Sitzgruppe mit Sofa und zwei Sesseln um ein Nierentischchen, Original Fünfziger. Eine Anrichte aus der gleichen Zeit. Nur unwesentlich verstellten zwei altmodische aber schneeweiße, vor die Fenster gezogene Gardinen den Blick auf einige Heddesdorfer Dächer und Hinterhöfe.

»Möchten sie vielleicht einen Tee?«

»Nein, danke. Ich hatte heute Morgen schon zu viel Kaffee«, lehnte Berger das freundliche Angebot ab.

»Vielleicht etwas Kaltes?«

»Nein nein, Herr Freisberg. Machen Sie sich keine Umstände. Ich bin auch nur kurz hier, um sie nach Frau Julia Reinhardt zu befragen. Sie wohnt im dritten Stock, also unter ihnen.« Berger beobachtete den alten Mann intensiv, dessen Mundwinkel nur kurz zur Seite zuckten.

»Ja, die Julia. Ich kenne sie, eine ganz nette Person.«

»Nun, Herr Freisberg, Frau Reinhardt wurde von ihrer Mutter als vermisst gemeldet. Seit Mittwochabend fehlt jede Spur von ihr. Haben Sie vielleicht etwas bemerkt? War etwas anders als sonst?«

»Ja … jetzt, wo Sie das sagen.« Er griff sich mit seiner Hand an die Unterlippe und fuhr mit dem Zeigefinger darüber. »Mir fällt auf, dass sie seit zwei Tagen nicht da ist. Ich habe mir aber eigentlich keine Gedanken darüber gemacht, weil … na ja, sie ist eine junge Frau, und sie könnte ja kurzfristig einen Urlaub gebucht haben oder jemanden besuchen.«

»Nein. Ihre Mutter vermutet, dass ihr etwas zugestoßen sein könnte. Sie glaubt, ihre Tochter hätte sich auf alle Fälle gemeldet, wenn sie etwas vorgehabt hätte, was sie aber nicht getan hat.« Berger stachen die beiden Pfeifen ins Auge, die neben dem Sofa auf einem kleinen Beistelltisch lagen. Pfeifen mit großen, klobigen Köpfen, wie sie passionierte Raucher bevorzugten, weil sie nicht so schnell heiß wurden. Davor stand ein solider, alter Kristallaschenbecher, und daneben lag eine Packung Pfeifentabak und ein Einwegfeuerzeug. »Sie rauchen?«

»Ja.« Freisberg sah zu seinen Pfeifen und lächelte unsicher. »Borkum Riff. Seit über vierzig Jahren.« Er griff nach der Packung Tabak und befühlte sie, als prüfe er die verbliebene Menge darin. »Vanille. Rauchen Sie auch?«

»Nein. Hab‘s mir abgewöhnt.« Berger ließ es sich kaum anmerken, aber er beobachtete den Mann ganz genau. Sein Mienenspiel, die Bewegung der feinen Fältchen um Mund und Augen, Körperhaltung, Bewegungs- und Sprachtempo, die Augenbewegungen, der Blick … Berger entging nichts, und er fragte sich, ob man diesem Mann trotz seines hohen Alters die abscheulichen Grausamkeiten und die zweifellos aufzubringende Kraftanstrengung zutrauen könnte.

»Da haben Sie recht«, entgegnete Freisberg auf Bergers Einlassung. »Aber ich kann‘s mir nicht mehr abgewöhnen.« Er lächelte schief und hob die Schultern, als müsse er um Verständnis für eine Unart bitten.

»Völlig in Ordnung, Herr Freisberg. Aber nochmal zu Frau Reinhardt. Wie gut kannten Sie sie?«

»Nun ja …« Er legte den Tabak zurück auf das Beistelltischchen. »Wenn man in einem Mietshaus zusammen wohnt … Ich meine, für mich ist das jedenfalls ein Grund, die Menschen näher kennenlernen zu wollen, wissen Sie? Ist ja heute vielleicht nicht mehr modern, aber ich bin jedenfalls so aufgewachsen. Und sie ist ja auch wirklich nett. Manchmal bringt sie mir was vom Einkaufen mit.«

»Sie müssen keine Angst haben, indiskret zu wirken, aber gibt es nicht irgendetwas Bemerkenswertes über Frau Reinhardt zu berichten?«

Freisberg faltete die Hände, blickte auf den gut gesaugten Teppich unter seinen Füßen und senkte die Stimme. »Na ja, normalerweise würde ich so etwas nicht erzählen, aber wo sie danach fragen … Ja, die Julia hat so einen neuen Freund und … ich glaube, der schlägt sie.« Freisberg sah Berger an und presste die Lippen zusammen.

»Woher wissen Sie das? Haben Sie Streit gehört?«

»Na ja, sie hat die Wohnung unter mir, und da bekommt man schon mal was mit. Der Mann, also ihr Freund, hat sie geschlagen, da bin ich mir ganz sicher. Wenn er gekommen ist, hat es manchmal keine halbe Stunde gedauert, bis er geschrien und sie geweint hat. Ab und zu ist auch irgendetwas runtergefallen.«

»Das ist ein wichtiger Hinweis …«

Freisberg rutschte etwas unruhig auf seinem Platz herum. »Aber, was ist denn nun eigentlich mit ihr? Ich meine, ist ihr etwas zugestoßen?«

»Das wissen wir nicht. Sie ist einfach verschwunden.« Es erschien ihm günstiger, hier noch keine Hinweise auf …

»Da wird doch wohl kein Zusammenhang mit dieser toten Person am Reitplatz bestehen?«, unterbrach ihn Freisberg erschrocken.

Klar, Freisberg las möglicherweise die Rheinland-Post. Und wenn nicht, hatte sich die Sache in Neuwied als grausame Neuigkeit sicher längst rumgesprochen. »Ob da ein Zusammenhang besteht, wissen wir noch nicht. Aber wir können natürlich auch nicht ausschließen, dass es sich bei einer toten Person um eben diese vermisste handelt.«

Im Grunde genommen war er sich der Sache fast sicher, aber die nächste Frage musste er, wie bei allen anderen infrage kommenden Personen, natürlich trotzdem stellen. »Herr Freisberg, ich muss Sie das fragen: Wo waren sie Mittwochabend zwischen zweiundzwanzig Uhr und ein Uhr Donnerstagmorgen?«

Freisberg presste die Lippen zusammen. Man merkte dem Mann an, dass er so etwas wie hier naturgemäß nicht gewohnt war. Das alles war ihm deutlich unangenehm und schien ihm an die Nieren zu gehen. Seine Mimik ließ vermuten, dass er verzweifelt grübelte, was er zu besagter Zeit getan hatte. Na, in seinem Alter verließ einen ja auch schon mal die Erinnerung.

Berger nutzte die Pause, die Freisberg brauchte, um in seinem Gedächtnis zu kramen und blickte sich im Wohnzimmer um. Auf der Anrichte, die ihm beim Eintritt in den Raum zwar bereits aufgefallen, der er allerdings nichts Außergewöhnliches hatte abgewinnen können, stach ihm nun etwas ins Auge, dass alle seine Sinne abrupt anspringen ließen. Neben einer Vase aus Steingut und auf einem weißen Spitzendeckchen glänzte ihm etwas entgegen, dass ihn eben bereits in Aufruhr hätte versetzen müssen. Ohne auf die nach wie vor ausstehende Antwort Freisbergs zu warten, sprang er schwungvoll aus seinem Sessel und trat vor die Anrichte.

Ja, es gab keinen Zweifel. Auf diesem selbstgehäkelten Deckchen lag eine Goldkette. Und daran hing ein Anhänger. Eine kleine kretische Doppelaxt.

-

Freisberg hatte bestätigt, dass Piotrowski gewalttätig werden konnte. Das könnte ein Täterhinweis sein, es könnte allerdings auch andeuten, dass er selbst durch die Beschuldigung eines Dritten von sich abzulenken versuchte. Dann die Kette der ermordeten Julia Reinhard, und nur um die konnte es sich handeln … nun, das war ein schwerwiegendes Moment, dass selbst Berger nicht vom Tisch wischen konnte.

Entsetzt hatte Freisberg auf den Verdacht reagiert, dass er etwas mit dem Verschwinden von Julia Reinhardt zu tun haben könnte. Reichlich erregt hatte er Berger erzählt, die Kette hätte vor zwei Tagen vor seiner Wohnungstür gelegen. Er sei davon ausgegangen, dass sie jemand verloren habe und sei zunächst einmal zu seinen Etagennachbarn gegangen, um sie zu fragen, ob sie ihnen gehöre. Die aber hätten verneint. Er sei zwar verwundert gewesen und hätte sich gefragt, woher das Schmuckstück stamme, habe es in Gedanken aber zunächst auf der Anrichte abgelegt und dann wohl vergessen. Das Klang zwar wie eine Ausrede aber Berger war sich unsicher, ob Freisberg nicht doch die Wahrheit sagte. Er, der sich ansonsten überwiegend auf seine Instinkte verlassen konnte, fühlte sich seltsam befangen und fand sich keinen Rat, was die Verortung dieses Mannes im Falle Reinhardt betraf.

Freisberg rauchte Pfeife, was ihn zusätzlich verdächtig machte. Bei den Tabakspuren am Leichenfundort hatte es sich um Pfeifentabak gehandelt, wie die Kriminaltechnik herausgefunden bestätigte. Aber warum in aller Welt sollte ein Täter seine Pfeife oder Tabak mitnehmen, wenn er jemanden bestialisch umbringt? So stark konnte die Sucht doch gar nicht sein, oder? Im Grunde genommen ergab das keinen Sinn. Berger konnte sich den alten Mann als Täter zwar partout nicht vorstellen, musste sich aber eingestehen, dass Vieles gegen den Rentner sprach.

Als er aus dem Wagen vor seiner Garage stieg, öffnete sich die Haustür des Nachbargebäudes. Kreuzberg!

»Ahh, Herr Nachbar! Na, was machen die Mordermittlungen?«

Dass der seine freie Zeit als pensionierter Lehrer nicht nutzen konnte, um irgendetwas Sinnhaftes anzustellen. Diese hinterfotzige Neugier ging Berger dermaßen auf den Senkel.

»Habt ihr schon einen Verdächtigen, hmm? Also, wenn du mich fragst, Ron, ist das ein Verrückter gewesen, ein Geisteskranker. Einwandfrei.« Er kreiste mit dem Zeigefinger über seiner Schläfe.

Dieser frühere Studienrat war grundsätzlich lästig, aber, dass er ihn »Ron« nannte, wie es Moni immer getan hatte, war unerträglich. Und woher wusste er das überhaupt?

»Also, wenn du, wie gesagt, mich fragst, Ron, solltet ihr die Patientenkarteien der Irrenärzte durchgehen. Da könntet ihr euch bei der Suche nach dem Mörder eine Menge Zeit sparen, glaub mir.«

Berger nickte und hob die Hand, um Kreuzberg anzudeuten, dass er in Eile sei und keine weitere Konversation wünsche. Aber Kreuzberg hatte noch mehr Themen auf Lager.

»Nochmal was von Monika gehört, hm? Ich hab‘ läuten hören, dass sie sich mit einem jungen Arzt, also diesem Mann aus ihrer Klinik, ein Häuschen kaufen will. Ich dachte, für dich wäre es doch auch besser, wenn du … Ich meine, mit dem Kollegen da …« Er nickte in Richtung Bergers Haus. »Das ist doch auch nix auf Dauer, oder Ron? Also, wenn Monika das kann, kannst du das doch auch. Ich meine eine neue Beziehung …«

Jetzt reichte es aber! Wütend stieß er den Haustürschlüssel Richtung Türschloss. Beim dritten ungeduldigen Versuch traf er den Schlitz, schloss auf und hechtete ins Haus. Mit einem lauten Knall fiel die Haustür ins Schloss.

»So ein Arschloch!«, brüllte er in den leeren Hausflur und warf den Schlüsselbund Richtung Dielenschrank. Klappernd fiel er daneben auf den Steinfußboden.

»Ronny?«, tönte es aus dem Wohnzimmer.

Berger atmete zweimal kräftig durch. Wenn sein Mitbewohner zuhause war, konnte er ihn gleich mal nach dem heutigen Speisenplan befragen. Die Kontinuität des Speisenangebots ließ auch schon langsam wieder nach.

Klaus Bohnert saß, die Fernbedienung in der Hand, vor der Glotze. Heute waren Heizdecken im Angebot. Na klar. Der Winter war vorbei, da wurden die Dinger nicht mehr gebraucht und würden billig verramscht. Die Begeisterung für Shoppingsender hatten sie Klaus bei der Entzugsbehandlung ganz offensichtlich nicht austreiben können.

»Ärger gehabt?«, meinte Bohnert, ohne seinen Blick von der Mattscheibe abzuwenden.

»Ach, unser Oberlehrer von nebenan …«

»Was machen die Ermittlungen?«

Berger ließ sich stöhnend neben seinen Mitbewohner aufs Sofa fallen und blickte auf den blankgeputzten Couchtisch. Zwar informierte er den krankgeschriebenen Kollegen regelmäßig über die Arbeit, im Augenblick verspürte er aber keine Lust, darüber zu sprechen. Er setzte sich aufrecht und fuhr sich mit der Hand übers Kreuzbein. Zwei Wochen hatte es ihn in Ruhe gelassen, jetzt schmerzte es wieder. »Gab es irgendwas Wichtiges?«

»Nö, alles in Ordnung so weit.« Bohnert räusperte sich und wischte mit der Hand über die glänzende Tischplatte, als hätt er da noch ein Staubkörnchen drauf entdeckt. Irgendetwas bewegte ihn. »Also, ich denke, wir könnten auch mal einen neuen Fernseher gebrauchen. Es gibt doch diese großen mit HD.«

Wir könnten auch mal …? Das durfte ja wohl nicht wahr sein. Er hatte Klaus vor einem halben Jahr aufgenommen, weil der in Gefahr gewesen war, in seiner eigenen Bude und im Suff völlig unterzugehen. Aber der Bursche war doch jetzt soweit wieder hergestellt und sollte sich nach etwas Eigenem Umschauen und nicht die Wohnungseinrichtung in Bergers Haus auswechseln. Außerdem wurde es Zeit, dass seine Krankschreibungen endeten. Der Kerl kam nur auf dumme Gedanken.

»Gibt‘s was zu essen?« Besser gar nicht auf die Vorschläge des Fernsehjunkies eingehen, dachte Berger.

Bohnert grummelte etwas Unverständliches vor sich hin. Also ging Berger in die Küche, um selbst nachzusehen. Aber hier war kein Topf auf dem Herd und im Kühlschrank auch nichts in Tupper. Also müsste es wohl eine Scheibe Brot sein. Als er sich eins der rustikalen Frühstücksbrettchen vom Schwarzwaldurlaub von vor gut zwanzig Jahren greifen wollte, stutzte er. Die Teile waren einfach weg. Stattdessen … zwei Plastikbrettchen mit glänzenden Kätzchenfotos. Wie entsetzlich! Ganz unmöglich von so etwas zu essen. Was hatte sich Klaus nur dabei gedacht? Jetzt schlug wohl auch noch seine kindliche Ader bei ihm durch. Es wurde höchste Zeit, dass Berger mit ihm …

Sein Mobiltelefon klingelte. Erstaunlicherweise schien es eingeschaltet zu sein. Es war Sorokin.

»Niko, was gibt’s! Ah, ja … Wo war er? In Ordnung, ich bin gleich da.« Er schob das Gerät zurück in seine Sakkotasche. »Das war Niko. Sie haben den Freund der Toten geschnappt.«

-

Er hatte sich gut darauf vorbereitet.

Man wusste, dass solche Handlungen schwerwiegende Folgen haben konnten. Insbesondere für denjenigen, der sie ausführte. Leben zu nehmen war mehr, als es der bloße Akt glauben machen wollte. Es steckte weit mehr hinter der Tätigkeit, als die meisten Menschen oberflächlich annahmen. Man ging in gewisser Weise eine Verbindung mit dem getöteten Wesen ein, tauchte ein in dessen Welt und nahm teil an dessen Schicksal. Lud Verantwortung für den Menschen auf die eigenen Schultern und musste mit belastenden Gedanken leben, die sich mit großer Wahrscheinlichkeit nach der Handlung einstellten. Wer das nicht wusste und unvorbereitet handelte, konnte nachhaltig Schaden nehmen.

Er hatte die Bilder der Hausschlachtungen vor Augen, die früher noch in vielen Familien durchgeführt worden waren. Er kannte den Augenblick, wenn das ahnungsvolle Lebewesen, das man quiekend an einem Seil aus dem Stall zog, von einem geliebten Haustier zu einem Nahrungsmittel mutierte. Und das in nur wenigen Augenblicken. Es war fast gespenstisch, wie schnell sich der Blick auf ein und dasselbe Wesen in Sekunden ändern konnte. Das über zwei Jahre gemästete Schwein, das einem in seiner Suche nach Nähe und Kontakt soeben noch die nasse Nase an die Hand gestupst hatte, war wenige Sekunden später unter heftigen Zuckungen bereits verstorben.

An solche Handlungen gewöhnte man sich, auch wenn sie einem zunächst brutal und abstoßend erscheinen mochten. Das hatte er gelernt. Man sollte nur vermeiden, den Augenkontakt herzustellen. Aber selbst das konnte zu einer interessanten Erfahrung werden …

Hatte das Messer erst einmal die Schwarte des mit gespreizten Hinterläufen ans Scheunentor genagelten Schweins durchstoßen, war im geöffneten Bauchraum die heilige Ordnung von glänzenden Därmen und inneren Organen zu bestaunen. Eine Anordnung von Innereien, die übrigens dem menschlichen Innenleben erstaunlich ähnlich war. Er wusste genau, wie es sich anfühlte, das Messer durch Haut, Bindegewebe, Muskeln, Sehnen und zwischen Knochengelenken hindurchzuziehen. War erfahren genug, die Kraft zu bemessen, die man zum Durchtrennen der verschiedenen Gewebeteile und Knorpel aufbringen musste.

Der Akt des Schweineschlachtens unterschied sich im Grunde genommen nicht sonderlich von der Tötung eines Menschens. Im Gegensatz zum Schlachten eines Tieres war natürlich die Angst vor Bestrafung da, aber sie hatte in seinem Fall einen mächtigen Gegenspieler: den Hass. Zudem war er ein penibler Planer. Die Handlung hatte er perfekt durchorganisiert. Es gab zwar naturgemäß Unwägbarkeiten, schlecht bis unplanbare Risiken. Aber mit denen musste er halt leben.

Das Auffallendste für ihn war der Geruch gewesen. Das Abschneiden des Kopfes hatte eine Geruchswelle ausgelöst, die ihn kurz und heftig mit einer emotionalen Flutwelle überrollt hatte. Blut war in Stoßwellen aus dem Hals geschossen, sodass er hatte zurückspringen müssen, um sich nicht damit zu kontaminieren. Damit hatte er gerechnet. Aber entweder hatte er den Geruch des Schweinebluts vergessen oder diese ungeheure Menge menschlichen Blutes roch einfach anders. Vielleicht waren es aber auch die halbverdauten Essensreste gewesen, deren Ausdünstungen aus der klaffenden Speiseröhre strömten.

Er blickte aus dem Fenster auf die umliegenden Dächer und rieb sich die Schläfen. Der stechende Kopfschmerz hatte vor einer Weile wieder eingesetzt. Er stand auf, um sich einen Pfefferminztee aufzugießen. Pfefferminztee helfe gegen Kopfschmerzen, hatte sie immer gesagt und ihn damit stets kuriert. Während der Tee exakt sechs Minuten zog und dabei das Wasser in der Steinguttasse grüngelb färbte, sinnierte er über die dürftigen Ermittlungserfolge der Polizei. Auch damit hatte er gerechnet. Aber sie kämen schon irgendwie auf die richtige Spur. Wenn nicht, musste er helfend eingreifen.

Die Tötung hatte ihn nicht befriedigt, aber sie war unumgänglich und hatte ihn seinem Ziel ein gutes Stück nähergebracht. Nun wurde es Zeit. Zeit, dass sie langsam die richtigen Schlüsse zögen!

-

Sie hatten ihm die Handschellen noch nicht abgenommen. Ein Kollege von der Schutzpolizei stand in der Ecke des Verhörraums und beobachtete ihn aufmerksam. Vornübergebeugt saß er am Tisch, die Augen starr geradeaus gerichtet, mit den Zähnen malend. Berger fuhr sich unwillkürlich mit der Hand über die schmerzende Stelle auf der Bauchdecke, über der Milz. Der Junge war unberechenbar.

»Nun, Herr Piotrowski … ist der kleine Landausflug also für sie beendet.«

Sie hatten ihn oberhalb von Heimbach, im Waldstück zwischen Golfplatz und Anhausen aufgegriffen, nachdem Wanderer einen offenbar erregten und verwahrlosten Menschen in einer Schutzhütte gesehen hatten. Ein Polizist war bei der Festnahme verletzt worden. Obwohl Piotrowski völlig durchfroren gewesen war, hatte er den Beamten überwältigt und ins Ohr gebissen. Der Mann war nicht nur gewalttätig, sondern auch dämlich.

Sein Blick war fahrig und unsicher. Er schaute zu Berger und biss sich dabei auf die Unterlippe. »Ich habe nix gemacht. Was wollen Sie eigentlich von mir?«

»Warum sind Sie denn geflüchtet, wenn Sie nichts verbrochen haben, hm?« Sorokin hatte sich am Besprechungstisch auf einen der Stühle dem Tatverdächtigen gegenübergesetzt und nun das Wort ergriffen. Berger stand noch.

»Na … was glauben Sie denn, wie das ist, wenn die Kripo in deinem Wohnzimmer steht und du nix verbrochen hast?« Die in Handschellen steckenden Hände gehoben, schaute er Verständnis heischend von einem zum anderen. »Ich war in Panik, klar? Ich dachte, sie wollen mir da was anhängen und … und man weiß ja, wie so was ausgeht. Da ist man doch unschuldig verurteilt, bevor man bis drei zählen kann. Ich war … ich hatte einfach Angst!«

»Also, bis dahin wollten wir sie als Freund der Vermissten einfach nur befragen. Sie haben sich durch Ihr Verhalten allerdings mehr als verdächtig gemacht. Das ist Ihnen doch wohl klar?«

Piotrowskis Hände schlugen mitsamt Handschellen polternd auf die weiße Resopalplatte. Er warf den Kopf in den Nacken und stöhnte laut, was wohl signalisieren sollte, das Unrecht treibe hier ein grausames Spiel mit ihm. Na, oscarreif war die Vorstellung jedenfalls nicht. Er richtete den Blick auf Berger und starrte ihn an, als wolle er ihn fressen. »I-c-h h-a-b-e n-i-x g-e-m-a-c-h-t!«

»Nehmen Sie ihm die Handschellen ab«, sagte Berger zu dem Uniformierten, der in der Ecke des Raumes stand und setzte sich neben Sorokin. »So, Herr Piotrowski, jetzt sollten Sie mal ausnahmsweise ganz ruhig und vernünftig mit uns reden. Ganz unabhängig davon, ob sie dafür Verständnis haben oder nicht. Aber uns interessiert natürlich zunächst einmal, wo sie Mittwoch zwischen zehn Uhr abends und ein Uhr Donnerstag waren und was sie gemacht haben.«

Was war bloß mit Berger los? Sorokin wunderte sich über seinen Chef. Irgendwie fehlte ihm seit Wochen die ihm eigene Dynamik. Einen solchen Krawallbruder, wie Piotrowski, hätte Berger früher innerhalb weniger Minuten zerlegt. Entweder lag es an seiner Lebenssituation oder das Alter machte sich doch so langsam bemerkbar.

Piotrowskis Blick hing noch immer an Berger. Wenn es für Blödglotzen einen Oscar gäbe, hätte er ihn jetzt doch noch bekommen. »Ja, also …«

»Das war eine einfache Frage, Herr Piotrowski. Ich bitte um eine ebensolche einfache Antwort. Kann doch nicht so schwer sein«, meinte Berger und ließ sich mit verschränkten Armen in die Stuhllehne zurückfallen.

»Ich will einen Anwalt. Da habe ich doch Anspruch drauf, richtig?«

»Haben Sie, richtig! Gleich bekommen Sie ein Telefon und können sich jemanden herbeirufen.«

»Ich kenn‘ aber gar keinen.«

»Dann bekommen Sie auch noch ein Telefonbuch und dürfen sich den mit dem schönsten Namen aussuchen. Vielleicht wären Sie jetzt trotzdem noch so freundlich, uns zu sagen, wo sie waren.«

»Ja, aber … wenn ich doch nix gemacht habe, warum soll ich …«

»Weil Sie verdächtig sind, Herr Piotrowski. Wir stellen Ihnen Fragen, weil sie als Freund von Julia Reinhardt verdächtig sind. Und Sie können den Verdacht ausräumen, indem sie uns entlastende Hinweise geben. Wenn Sie dazu in der Lage sind … Deshalb sollten Sie antworten! Also, wo waren Sie?«

Piotrowski zog demonstrativ eine Schnute und blickte zur Seite. »Ich sag‘ nix!«

»Jetzt ist‘s aber genug!« Bergers Faust schlug krachend auf den Tisch. Der kleine Mikrofonständer fiel um. Piotrowski schnellte erschrocken mit dem Oberkörper auf und saß augenblicklich kerzengerade. »So blöde kann man doch gar nicht sein. Beantworten Sie meine Frage, aber dalli! Wenn sie nicht kooperieren, kommen sie bis zu ihrer Verhandlung aus der Zelle nicht mehr raus, das verspreche ich Ihnen.«

Na, da ist er ja wieder, der alte Berger, dachte Sorokin zufrieden.

»Na …«, begann Piotrowski stotternd. »Also ich hatte mit ihr telefoniert«, rapportierte er. Der Groschen schien jetzt doch noch gefallen zu sein.

»Wann?«

»Also, so gegen neun am Mittwochabend.« Er kratzte sich ausgiebig am Kopf. Es schien ihm dabei zu helfen, sein Gehirn zu aktivieren.

»Worüber haben Sie mit ihr gesprochen?«

»Wir hatten … na ja, am Tag davor hatten wir Streit gehabt und …«

»So einen Streit, bei dem Sie sie wie üblich verprügelt haben?«

»Was?« Piotrowski riss die Augen weit auf, wand sich auf seinem Stuhl und fuchtelte mit den Händen, wie ein italienischer Markthändler. »Nein! Ich habe sie nicht geschlagen, wie kommen Sie denn darauf?«

»Das pfeifen doch die Spatzen von den Dächern, Herr Piotrowski. Wollen Sie uns ernsthaft den zärtlichen Liebhaber und unbescholtenen Bürger vorgaukeln.« Jetzt wurde Berger wieder laut. »Wir haben in Ihrer Wohnung Drogen gefunden, Sie sind gewalttätig, haben Ihre Freundin verprügelt, und als die Ihnen den Laufpass geben wollte, sind sie ausgerastet. War‘s nicht so?«

Piotrowski sprang auf und riss die Arme in die Luft. Der Schupo sprang hinzu und zwang ihn mit sanfter Gewalt zurück auf seinen Stuhl. »Ich … so war das nicht! Ich habe sie am Mittwoch überhaupt nicht gesehen!« Heftig kopfschüttelnd rang er nach Luft. Sein Blick sprang fiebrig zwischen Berger und Sorokin hin und her. »Ja, mein Gott. Streit hatte ich mit ihr. Ja! Aber schon am Dienstag. Und Mittwoch habe ich sie gar nicht gesehen. Wir haben …« Er breitete seine Hände auf der Tischplatte aus, als böte er sein Innerstes zum Verkauf an. »Wir haben telefoniert … und von Trennung war überhaupt keine Rede. Verstehen Sie, ich habe Mittwochabend das letzte Mal mit ihr geredet und … wieso fragen Sie mich überhaupt solche Sachen?« Bestürzt und so, als erfasse er erst in diesem Augenblick die mögliche Tragödie um Julia Reinhardt, wechselte sein Blick wieder hektisch zwischen Berger und Sorokin. »Ist sie denn immer noch nicht aufgetaucht? Was ist mit ihr? Ich meine, ist sie …?«

»Wir ermitteln im Fall einer Vermissten, das ist unser Job, Herr Piotrowski. Sie können uns dabei helfen, indem Sie ehrlich zu uns sind«, meinte Berger nun gelassen und verschränkte die Arme.

»Ist ihr etwas zugestoßen. Das können Sie mir doch wohl sagen?« Er schluckte nervös und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht, um die ersten Tränen abzuwischen, die nun wie an einer undichten Schlauchschelle hervorquollen.

»Wir wissen es nicht. Es wurde allerdings eine weibliche Leiche gefunden und wir können nicht ausschließen, dass es sich um Julia Reinhardt handelt.«

Piotrowski präsentierte eine entsetzte Grimasse, schluckte hektisch und fuchtelte mit dem Zeigefinger in Bergers Richtung. Dann begann sich sein Körper zu schütteln. Unter Heulen stieß er die Worte aus. »Das … das war dieser alte, geile Bock. Der, der bei ihr im Haus wohnt. Das sag‘ ich Ihnen. Der hat sie doch ständig so angestarrt … sich bei ihr eingeschmeichelt. Der war‘s! Den sollten Sie sich vorknöpfen!«

»Alles klar!« Berger blickte auf den eintätowierten Reif, dessen verschlungene Linien Piotrowskis Handgelenk umschlossen. »Eins noch, Piotrowski … Julia Reinhardt, hat sie vielleicht eine Tätowierung?«

Der Befragte glotzte Berger blöd an. »Ja«, sein Unterkiefer bewegte sich hin und her, als er mit der rechten Hand zur linken Schulter fasste. »Eine Elfe. Über dem linken Schulterblatt.«

Hasenfest

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