Читать книгу Hasenfest - Reiner Karl Litz - Страница 8
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Dreimal umrundete er die Stellflächen des Stiftsplatzes, ehe er sich genervt zwischen einem Transporter und dem unsozial die Parkmarkierungen ignorierenden Daimler SUV in den einzig freien Parkplatz quetschte. Die Distanz zu dem Daimler war so gering, dass er nicht umhinkam, der Beifahrertür der silbergrauen Luxuskarosse eine kleine aber zweifelsfrei wertmindernde Delle beizubringen. Berger zuckte mit den Schultern. Wer dermaßen asozial parkt … dachte er, nahm sich aber trotzdem vor, nach dem Termin bei Gutjahr einen Zettel mit seinen Personalien hinter dem Wischerblatt des Daimlers zu hinterlassen. In einem kleinen Laden namens Stadtbäckerei Rott besorgte er sich einen Pappbecher mit Kaffee und ein »Scharfer Kurfürst« benanntes Brötchen, dass mit gekochtem Schinken und Krautsalat aufwartete. Aus Erfahrung wusste er, dass es vorteilhaft war, vor dem Besuch in der Rechtsmedizin zu essen, da einem hinterher nicht mehr der Sinn danach stand. Er aß den Kurfürsten auch sogleich mit Heißhunger im Stehen und vermied es dabei, die vielen unschönen Bilder zuzulassen, die ihm im Zusammenhang mit Gutjahrs Profession in den Sinn drängten. Von den Gerüchen im Sezierraum ganz zu schweigen.
Das Bonner rechtsmedizinische Institut war ein schmuckloser, in ockerfarbene Sandsteinplatten verpackter fünfstöckiger Bau, der gut ein Drittel der südlichen Straßenfront des Bonner Stiftsplatzes ausmachte. Berger kannte Gutjahr, der nur wenig älter als er selbst war, seit dreißig Jahren. Die beiden Männer verstanden sich, obwohl niemals so etwas wie eine echte Männerfreundschaft entstanden war und sie nicht einmal per du waren.
Im Kellergeschoss angekommen, hechtete Berger mit ausladenden Schritten an der Glastür vorbei, die die Aufschrift trug:
Vorzimmer Prof. Dr. Severin Gutjahr
Bitte hier anmelden!
Die schnippische Art des Vorzimmertigers namens Eleonore Engelhardt könnte er heute Morgen noch weniger ertragen, als den ohnehin schon vorhandenen Geruch von Verwesung und Desinfektionsmitteln. Zwar nahm er im Augenwinkel den erstaunten Blick und die abrupt erhobenen, Einhalt gebietenden Hände der Dame hinter der Glasscheibe wahr, ignorierte sie aber trotzig und beeilte sich, um schnellstmöglich den elektrischen Türöffner des Sektionssaals am Flurende betätigen zu können.
»Ah, mein Lieber. Wie immer voller Tatendrang.« Gutjahr hatte sofort den Kopf gehoben und stand, in seinen lindgrünen Arbeitsanzug gekleidet, hinter einem der Sektionstische. Offenbar war er mit Papierkram beschäftigt, wie die beiden Vordrucke auf dem Tisch belegten. Unmittelbar daneben lag, wie unschwer zu erkennen, die Frau von gestern, oder besser gesagt: ihr in zwei Teile tranchierter Körper, der nunmehr auch die Spuren der durchgeführten Sektion in Form des deutlich erkennbaren Eingriffs in Brust und Bauchhöhle sowie eine eigentümlich verrutsche Kopfhaut aufwies. An einem Schreibtisch im hinteren Bereich des Saales saß eine weitere Rechtsmedizinerin versonnen vor ihrem Klapprechner und hämmerte gedankenverloren auf die Tastatur ein.
»Morgen Professor, ich …«
»Das ist ja wohl unmöglich … entschuldigen sie, Herr Professor, aber dieser Herr …« Das schrille Kreischen der Engelhardtschen Stimme übertönte sogar den nervigen Brummton der elektrischen Türöffnung, die sich hinter Bergers Rücken nicht entscheiden konnte, ob sie schließen oder öffnen sollte. Die Sekretariatsdame stand im Türrahmen wie eine Furie. Selbst ihre Haarpracht schien wie elektrisiert Funken zu sprühen. Dass die sich aber auch immer dermaßen aufführen musste.
»Schon gut, Frau Engelhardt. Herr Berger hier …« Gutjahr wies mit einer jovialen Geste auf seinen Gast. »… wurde von mir hergebeten. Aber danke!« Er rieb sich die Hände, und sein raues Lachen ließ sämtliches metallene Sezierbesteck im Raum scheppernd mitklingen.
Frau Engelhardt, Berger mit einem bissigen Blick und Gutjahr mit einem Kopfschütteln bedenkend, drehte beleidigt ab.
»Eine ganz Fleißige, die Engelhardt.« Gutjahr schüttelte schmunzelnd den Kopf, während er seine Unterschrift auf eines der Dokumente setzte. »Aber manchmal etwas übereifrig, die Gute.«
Berger war kein kleiner Mann, aber mit seinen Einsdreiundneunzig überragte ihn der äußerst schlanke Gutjahr noch um fast zehn Zentimeter. Die nach allen Seiten wild abstehenden grauweißen Locken boten dabei einen gewissen Gegensatz zu der ansonsten äußerst gepflegt wirkenden Erscheinung.
»Treten sie näher, lieber Berger.« Er breitete die Arme über den Körperstücken aus, als wolle er Berger ein von ihm geschaffenes Kunstwerk präsentieren. »Sie kennen die Dame ja bereits, nicht wahr? Das übrigens …« Er drehte den Kopf zu der im Hintergrund sitzenden Kollegin. »… ist übrigens Frau Doktor Merhazadi.«
Die junge Ärztin, eine etwa dreißigjährige attraktive Frau mit glänzenden schwarzen Locken und einem bronzefarbenen Teint, erhob sich leicht genervt von ihrem Bürostuhl und gesellte sich zu ihnen, indem sie sich mit einer verdrießlichen Mimik neben Gutjahr platzierte, der ihr Berger vorstellte.
»Nun, dann wollen wir ihnen unsere Erkenntnisse nicht länger vorenthalten.« Er nickte seiner Kollegin zu, die sogleich ein Klemmbrett mit allerlei Papier darauf hervorzog.
Na, sollte Gutjahr etwa nun die Arbeit von Anfängern durchführen lassen? Der Rechtsmediziner schien den kritischen Blick Bergers und den dahinter lauernden Argwohn zu bemerken.
»Frau Doktor Merharzadi ist trotz ihres jugendlichen Alters in Fachkreisen übrigens bereits eine kleine Berühmtheit und als Spezialistin für die Auswertung postmortaler Computertomografie bekannt. Eine ganz interessante Analysemethodik übrigens …« Sein beschwingtes Lächeln war entwaffnend und Berger nickte gnädig, während Frau Doktor sich ein Paar Latexhandschuhe überstreifte und damit begann, die für diese Untersuchungen üblichen Informationen vorzulesen: unbekannte Tote, Fundort und Fundzeit, wahrscheinlicher Todeszeitpunkt, körperlicher Zustand, Größe, Haarfarbe und so weiter. Eben all das, was für die Ermittlung von Bedeutung sein konnte. Das Alter des Opfers wurde auf fünf- bis neunundzwanzig Jahre geschätzt. Interessant wurde es, als die Rechtsmedizinerin von den Ergebnissen der Obduktion zu sprechen begann.
»Fangen wir mit dieser Verletzung an.« Sie hob die linke Schulter etwas an, damit man die dort vorhandene großflächige Hautabtragung sehen konnte. »Also, im Bereich der linken Schulter wurde Haut entfernt … prämortal.« Sie hob den Kopf und sah Berger an. »Vor dem Todeseintritt.«
Berger sah sie an und hob dabei die Augenbrauen. Wie konnte die junge Rechtsmedizinerin annehmen, er kenne nach fast vierzig Jahren Polizeidienst nicht die wichtigsten Begrifflichkeiten ihres Berufsstandes? Frau Doktor fuhr indessen fort.
»Ein etwa handflächengroßes Stück, rechtwinklig. Wahrscheinlich wurde die Abschälung mit einem großen scharfen Messer vollzogen. Dazu komme ich noch zu sprechen. Ansonsten …« Sie lupfte das oberste Blatt auf ihrem Klemmbrett und überflog das darunterliegende. »… keine inneren Verletzungen im Brust- oder Bauchbereich, an Gliedmaßen und so weiter, bisher keine Hinweise auf Intoxikationen, was allerdings noch bestätigt werden muss, nur …« Sie wies auf die Scham der Toten. »Das Opfer wurde penetriert.«
»Vergewaltigung?«, fragte Berger.
»Nein. Schwere Verletzungen im Genitalbereich durch …« Sie deutete zwischen der freien Hand und dem Klemmbrett Länge und Durchmesser eines Gegenstands an. »Es muss sich um einen harten, runden aber auch scharfkantigen Gegenstand gehandelt haben. Möglicherweise ein Metallrohr. Das allerdings ante mortem, also noch vor dem Todeseintritt.« Frau Doktor Merharzadi schien Bergers Begriffssicherheit begriffen zu haben, da sie nun ohne weitere Erklärung auskam.
»Wirkt immer mehr wie ein Ritualverbrechen.« Die Entwicklung, die dieser Fall nahm, schien Berger aus irgendeinem Grund nicht zu gefallen. Kopfschüttelnd betrachtete er den Seziertisch samt Toter von unten bis oben.
Die junge Rechtsmedizinerin räusperte sich. Offensichtlich litt sie unter Zeitdruck und hatte heute noch anderes zu tun, weshalb sie auch unbeirrt fortfuhr. »Die schweren Verletzungen im Gesicht der Toten …« Sie zeigte auf den abgeschnittenen Kopf, der eine Handbreit über dem Restkörper lag. »… wurden ihr mit einem massiven, runden Gegenstand beigebracht. Aufgrund der vermuteten Wucht, mit der der Schlag ausgeführt wurde, wird es sich dabei um einen längeren Gegenstand, höchstwahrscheinlich auch ein Metallrohr gehandelt haben.« Sie hob den Arm und imitierte einen Schlag wie mit einem Baseballschläger. »Die dabei erzeugten Verletzungen haben zwar nicht unmittelbar zum Tod der Frau geführt, werden allerdings eine spontane Bewusstlosigkeit bewirkt haben. In Gänze oder zumindest partiell.«
»Also der Tod trat nicht durch die Gesichtsverletzungen ein, sondern durch …«, Berger vollzog einen Schnitt mit seinem Daumen über den Hals.
Die Ärztin nickte. »Ja, richtig, das hätte ich ihnen auch noch mitgeteilt.« Sie wies mit der Hand auf die Schnittkanten am Hals der Toten. »Der Tod trat unmittelbar nach dem Durchtrennen des Halsgewebes, der Halsschlagadern, Luft- und Speiseröhre und des Wirbelkanals ein.« Durch Bergers Einlassung über die Todesursache in ihrem Vortrag gestört, wirkte sie ein wenig irritiert und musste ihre Dokumente nochmals durchblättern, bevor sie fortfuhr. »Also … bei dem Schnittwerkzeug wird es sich um ein großes, schweres Messer gehandelt haben. Wahrscheinlich ein sehr großes, scharfes Küchenmesser, vielleicht ein Fleischmesser und vermutlich das gleiche, das beim Entfernen der Haut über dem Schulterblatt verwendet wurde. Und, bevor ich es vergesse: Hier …« Sie zog ein Asservatenbeutelchen aus ihrer Kitteltasche und reichte es Berger. »… der Ring der Toten.«
Berger nahm das Verwahrstück an sich. Es handelte sich um den Ring mit dem grünen Stein.
»Und nochmals en détail: Der Tod trat ein zwischen zweiundzwanzig Uhr Mittwoch, 14. April 2010 und null Uhr dreißig, Donnerstag, 15. April 2010. Wahrscheinlich eher früher, als später in diesem Zeitfenster.« Mit einem für diese forsche Ärztin untypisch zerknirschten Blick zu Gutjahr gestand sie sich mittlerweile wohl die fehlende Systematik ihres Vortrags ein.
Berger hatte sich jetzt ein Spiralblöckchen aus seiner Jacke gezogen und machte sich Notizen. Die junge Ärztin schaute noch einmal entschuldigend zu Gutjahr und fuhr dann fort.
»Wir haben Trümmerfrakturen im Bereich von Maxilla und Mandibula, den dahinter liegenden Os ethmoidale, Os palatinum und Os hyoideum sowie Os zytomaticum und Os nasale.«
Na ja, so kann man das auch nennen, dachte Berger und betrachtete dabei das furchtbar zugerichtete Gesicht. Es erinnerte ihn an den hälftig abgefrästen Kopf eines Motorradfahrers, den sie nach einem Unfall von der Leitplanke gepflückt hatten, über die er bei hoher Geschwindigkeit etliche Meter mit Mund- und Nasenpartie geschrammt war.
»Alles in allem schwerste Verletzungen«, fuhr Gutjahrs rechte Hand fort. »Waren, von den angesprochenen Verletzungen im Gesichtsbereich einmal abgesehen, Schädel und Gehirn ansonsten unauffällig, mussten wir das Fehlen dreier Zähne im Kiefer feststellen. Und ich meine Zähne, die nicht durch die unmittelbare Wirkung des Schlags abgebrochen oder herausgebrochen wurden. Sie wurden post mortem, also nach dem Todeseintritt entfernt, das heißt herausgebrochen. Wir gehen davon aus, dass hierzu ebenfalls das schwere Fleischmesser benutzt wurde, so, wie Zahnfleisch und Kiefer an den entsprechenden Stellen aussehen. Mhh …« Sie spitzte ihre vollen Lippen und durchkämmte die Dokumente auf dem offensichtlich unersetzbaren Klemmbrett, um irgendein Detail zu finden, aber Gutjahr legte ihr sanft seine Hand auf den Unterarm.
»Die exakte Bestimmung der Zahnpositionen wird Herrn Berger nicht interessieren, liebe Kollegin.« Er setzte ein väterlich-gütiges Lächeln auf und veranlasste sie mit einem gutmütigen Nicken zum Fortfahren.
»Äh, ja …« Ihre kurzzeitige Irritation ob der wiederholten Unterbrechung legte sie mit einem Stirnrunzeln ab. »Also, sobald wir wissen, um wen es sich handelt, bemühen wir uns um den behandelnden Dentisten, der uns Auskunft über die diesbezüglichen Zahnpositionen geben kann. Vielleicht gibt es einen besonderen Grund, warum ihr der oder die Täter ausgerechnet diese Zähne entfernten.«
Berger hob die Hand und eine Augenbraue. »Das Gesicht … da waren nach dem brutalen Schlag doch wahrscheinlich ohnehin alle Zähne los, oder nicht?«
»Richtig vermutet, Herr Berger. Wie ich soeben versucht habe zu erläutern, waren zumindest die Schneidezähne durch den Schlag aus dem frontal ohnehin perderierten Kiefer gelöst oder abgebrochen. Bei den post mortem extrahierten oder herausgebrochenen Zähnen handelt es sich allerdings gänzlich um Backenzähne. Und die saßen weiter hinten und waren nach dem Schlag noch fest im Kiefer verankert.« Die junge Ärztin nickte wie zur Bestätigung ihrer Worte.
»Ja, aber …«, insistierte Berger, »… da schlägt ihr jemand einen Teil der Zähne aus und macht sich dann daran, die noch festen rauszubrechen?« Berger machte eine hilflose Geste. »War da vielleicht ein Zahnfetischist am Werk?«
»Das herauszufinden, lieber Berger, und da sind wir froh, ist ja nun ihre Aufgabe«, entgegnete Gutjahr auf Bergers ironische Frage und lachte sein herzhaftes Lachen. Das Metall im Sezierraum stimmte mit schnarrender Resonanz wieder mit ein.
-
Auf der Rückfahrt von Bonn rief ihn Sorokin an. Zum einen hatte die Mutter einer sechsundzwanzigjährigen Frau ihre Tochter, eine Julia Reinhard, als vermisst gemeldet, und zum zweiten hatte Koblenz bezüglich der bislang unbekannten Toten bereits eine SOKO Hartplatz eingerichtet. Berger und Sorokin sollten sich zur ersten Besprechung gegen fünfzehn Uhr im Koblenzer Präsidium einfinden. Na, das waren noch drei Stunden, bis dahin könnte er noch einige Ermittlungen betreiben. Er fragte nach den Namen und Adressen der Vermissten sowie der Mutter.
»Augenblick …« Sorokin tippte vernehmlich auf seiner Tastatur herum und nannte Berger Anschrift und Telefonnummer, nachdem er sie in seinem System gefunden hatte. »Du wartest aber doch besser mit den Ermittlungen, bis wir uns in Koblenz abgestimmt haben, oder?«
Eine völlig überflüssige Frage, das wusste Sorokin natürlich genau. Er kannte Berger gut genug, um zu wissen, dass den Westerwälder Dickkopf nichts aufhielt, wenn er richtig drauf war. Deshalb wunderte ihn auch nicht Bergers abrupte Beendigung des Telefonats.
»Wir fahren zusammen nach Koblenz. Ich hole dich dann gegen halb drei ab.«
Frau Reinhardt wohnte in einem der zahlreichen Mehrfamilienhäuser des Raiffeisenrings, einem in den frühen Sechzigern östlich des Neuwieder Stadtteils Heddesdorf für hinzuziehende Industriearbeiter, Angestellte und ihre Familien entstandenen Wohnquartier. Neuwied war zu dieser Zeit eine aufstrebende Stadt mit gesunder industrieller Entwicklung gewesen, und die sich in der Stadt ansiedelnden Menschen benötigten Wohnraum. Die damals hier lebenden Russlanddeutschen waren in den Folgejahren nach und nach von Gastarbeitern aus Südeuropa oder zuletzt türkisch- und arabischstämmigen Mitbewohnern verdrängt worden.
Berger, der sich telefonisch bei Frau Reinhardt angemeldet hatte, suchte den Namen auf dem Klingeltableau. Sie schien die einzige Bewohnerin des Hauses mit deutschem Nachnamen zu sein, wohnte im dritten Stock und öffnete ihm die Wohnungstür, nachdem sie ihn vorab kritisch durch den Türspion beobachtet hatte.
»Herr Berger? Kommen sie doch bitte rein.« Sie wies ihm den Weg in den Wohnungsflur, schloss die Tür und ging an Berger vorbei ins Wohnzimmer, wo sich beide um einen kleinen Couchtisch auf zwei ockerbraune Sessel setzten. Sie musste ungefähr Bergers Alter haben, wirkte aber ein wenig älter und abgearbeitet. Eine etwas modernere Frisur hätte ihr auch gut gestanden. Insgesamt machte sie aber einen freundlichen Eindruck, und die Wohnung war ausgesprochen gepflegt und aufgeräumt.
»Sie kommen wegen Julia, sagten Sie. Haben Sie …« Nervös knetete sie ihre Finger und sprang abrupt wieder auf. »Entschuldigen sie bitte … darf ich ihnen etwas anbieten? Kaffee?« Sie eilte zu einer Anrichte und entnahm ihr eine bunt bedruckte Blechdose. »… oder Gebäck?« Ohne auf eine Antwort Bergers zu warten, öffnete sie den Deckel der Dose und stellte sie auf das Tischchen.
»Gerne!«, sagte Berger und griff zu, während Frau Reinhardt hektisch aus dem Zimmer verschwand. Wahrscheinlich hatte sie Bergers generalisierte Zustimmung richtig verstanden und setzte jetzt einen Kaffee auf.
»Geht ganz schnell!«, hörte man sie aus der Küche rufen. Kurz darauf blubberte der Wasserkocher.
Berger schmeckten die Plätzchen, die zweifelsfrei selbst gebacken waren. Als Frau Reinhardt mit einem Tablett, darauf eine gefüllte Kaffeekanne und zwei Tassen, ins Wohnzimmer zurückkam, hatte Berger bereits mehrere der hälftig mit Bitterschokolade ummantelten Backwaren verdrückt. Er rieb sich die Finger, und ließ die Krümelreste auf den Boden rieseln.
»So, bitte sehr … und lassen sie es sich schmecken!«, meinte Julia Reinhardts Mutter, wies mit der Hand auf die Plätzchendose und goss Bergers Tasse voll.
»Milch, Zucker?«
Berger hob eine Hand, schüttelte den Kopf und schluckte den letzten Rest Plätzchenbrei herunter. Mit der anderen Hand griff er zur Tasse, führte sie zu seinen Lippen und sog den dampfenden Kaffee vorsichtig aber geräuschvoll ein. Er schmeckte ihm am besten, wenn er ihn schlürfte und der Kaffee dabei heiß, zusammen mit Luft zwischen Gaumen und Zunge einströmte.
»So hatte ihn mein Mann auch am liebsten«, meinte Frau Reinhardt, die Bergers genussgeprägte Schlürfgeräusche vernommen hatte, mit einem freundlichen Lächeln auf den Lippen. »Er ist bereits vor zwölf Jahren verstorben. Lungenkrebs. Aber … deshalb sind sie ja nicht hier.« Ein unsicheres Kräuseln überzog jetzt ihre Lippen.
Die arme Frau, dachte er. Sie hat noch nicht die Gewissheit, die ich bereits habe und macht sich gewiss Hoffnungen darauf, dass ihre Tochter noch lebt.
»Frau Reinhardt«, begann er ohne weiteres Zögern. »Sie haben ihre Tochter als vermisst gemeldet?«
»Ja, Julia ist nicht auf der Arbeit erschienen. Ich habe heute Morgen versucht sie zu erreichen, aber sie war nicht am Arbeitsplatz. Die Kollegen wussten nicht, warum sie fehlt und da sie auch nicht zuhause ist …«
»Ist es nicht vielleicht möglich, dass sie krank ist und sich beim Arbeitgeber nur noch nicht gemeldet hatte? Vielleicht liegt sie im Bett?«
»Nein nein, Julia ist sehr … sie ist äußerst korrekt und hätte als Erstes heute Morgen ihren Chef informiert, wenn sie krank wäre. Außerdem ist sie ja auch, wie gesagt, zu Hause nicht erreichbar. Sie würde ans Telefon gehen, auch, wenn sie krank wäre.«
»Sie haben also auch versucht, sie zuhause zu erreichen?«
»Ja.« Frau Reinhardt nahm einen weiteren Schluck aus ihrer Kaffeetasse und hielt diese dann mit beiden Händen fest, als müsse sie den Kaffee warmhalten.
»Ist Julia ihr einziges Kind?«
»Ja.«
Alles Fragen, die einer Mutter den Boden unter den Füßen wegziehen, dachte Berger. Aber es hatte keinen Zweck, um den heißen Brei herumzureden. Die Situation war, wie sie war. Das Einzige, was er dieser armen Frau noch geben konnte, war die Gewissheit, dass er alles daransetzen würde, den Mörder ihrer Tochter zu finden. Auch, wenn die Frau die ganze Wahrheit noch nicht wissen konnte. »Wann hatten sie den letzten Kontakt zu Julia?«
»Gestern Mittag. Sie hatte mich von der Arbeit aus angerufen, um zu fragen, ob sie Karfreitag, also morgen, etwas mitbringen soll. Ich habe sie für morgen Mittag zum Essen eingeladen.« Sie schaute aus dem Wohnzimmerfenster, mit den Gedanken wahrscheinlich bei ihrer Tochter … und beim geplanten Gericht. »Kabeljau«, sagte sie dann auch, wie zur Bestätigung.
»Wissen sie, was sie danach, ich meine, nach der Arbeit gemacht haben könnte?«
»Na, ich denke sie war joggen. Sie läuft fast jeden Abend.« Das heftige Schlucken verriet, dass ihre Gedanken jetzt auch die schrecklichen Möglichkeiten umkreisten, die das Ausbleiben jeglicher Nachricht von Julia letztlich bedeuten konnten.
»Hat Julia eine Laufstrecke, die sie üblicherweise benutzt, und läuft sie mit einer Gruppe … oder alleine?«
Sie nickte, schaute in ihre Tasse und beschrieb Berger die Runde, die ihre Tochter für gewöhnlich in Heddesdorf lief. »Sie läuft normalerweise immer zusammen mit ihrer Freundin Melanie. Aber die ist gestern nicht mitgelaufen, ich habe schon mit Melanie telefoniert. Nein … Julia ist wohl alleine gelaufen, gestern Abend.« Ihr Atem ging nun schneller. Unruhig hob und senkte sich der Brustkorb. »Denken sie, dass … Haben sie vielleicht schon irgendwelche Hinweise?« Jetzt wurde Frau Reinhardt doch reichlich hektisch. Berger versuchte sie mit einer beschwichtigenden Geste in ihrer Panik zu bremsen.
»Ich sammle momentan einfach alle Informationen, die hilfreich bei der Klärung des Verbleibs ihrer Tochter sein könnten.« Dann fragte er nach dem vollständigen Namen, Anschrift und Telefonnummer der Freundin und weiteren Freunden und Bekannten.
»Julia hat seit einiger Zeit einen Freund …« Die kurze Sprechpause und eine abschätzig verzogene Mundpartie verrieten, dass Frau Reinhardt nicht allzu viel von diesem Freund hielt. »Ich habe keinen Kontakt zu dem jungen Mann, weshalb ich ihn auch nicht angerufen habe. Aber, wie gesagt, Julia wäre niemals so einfach von der Arbeit ferngeblieben. Deshalb glaube ich auch nicht, dass sie sich bei ihm aufhält.« Frau Reinhardt stand auf, ging zu einer Anrichte und zerrte ein Zettelchen unter dem dort platzierten Telefon hervor, auf dem sie Namen, Geburtstage und Adressen von etlichen Verwandten und Bekannten gelistet hatte und nannte Berger die gewünschten Daten, die der sich notierte. Von Julias Freund kannte sie nur den Namen. Die Adresse würden sie schnell rausfinden.
»Haben sie vielleicht ein Foto ihrer Tochter, dass sie mir mitgeben könnten?«
Sie hielt kurz inne, drehte sich und ging zum Wohnzimmerschrank, der sich, etwas zu wuchtig für das eher kleine Wohnzimmer, hinter Bergers Rücken verbarg. Aus dem rechten Seitenfach griff sie sich ein Fotoalbum und kam damit zurück. »Hier …« Sie blätterte ans Ende des Albums und entnahm ihm ein postkartengroßes Foto. »Das ist das letzte, was ich von ihr habe.«
Berger entnahm der Innentasche seines Sakkos eine Lesebrille und setzte sie auf. Das Foto zeigte Julia Reinhardt mit goldblonder Haarpracht neben einem Fahrrad stehend, in kurzer Hose bei Sonnenschein. Offensichtlich eine Fahrradtour. Eine feine Goldkette mit Anhänger um ihren Hals und der Ring mit grünem Stein an ihrer rechten Hand waren gut erkennbar.
»Frau Reinhardt, diese Halskette, trägt sie die oft?«
»Die hat sie eigentlich immer an. Die Kette mit dem Anhänger hatte sie aus einem Kretaurlaub mitgebracht.«
»Was ist das da für ein Anhänger?«, fragte Berger, der mit zusammengekniffenen Augen erfolglos versuchte, Details auf dem Foto zu erkennen.
»Ja … das ist so ein Souvenir. Eine kleine Axt, glaube ich.«
»Eine Axt? Aus Kreta? Vielleicht eine Doppelaxt?« Berger wusste, dass die minoische Doppelaxt ein beliebtes Mitbringsel von der Insel Kreta war.
»Ja, das kann sein.«
Berger nickte, nahm das Foto an sich und bedankte sich mit der Bemerkung, dass sie es wieder zurückbekäme, wenn es die Kollegen kopiert hätten. »Zuletzt, Frau Reinhardt …«, begann Berger ein wenig zögerlich. Gleichwohl war er sich bewusst, dass seine Andeutung der Tragödie für Julia Reinhardts Mutter sicherlich zumutbarer war, als eine reißerische Aufklärung durch die dilettantischen Schreiberlinge der Rheinland-Post. »Wir haben heute Morgen eine weibliche Leiche nahe des alten Reitplatzes gefunden.« Keine sonderliche Reaktion der Frau. Zumindest keine Panik oder Entsetzen. Die Sache mit dem Ring ließ er trotzdem noch unerwähnt. »Wir können zwar die Identität der Person noch nicht mit Gewissheit benennen, können allerdings auch nicht ausschließen, dass es sich dabei um ihre Tochter handelt.«
Frau Reinhardt hatte sich kerzengerade in ihrem Sessel aufgesetzt und den Mund leicht geöffnet. Ansonsten zeigte sie nach wie vor keine Regung. Man merkte der Frau an, dass sie Kummer gewohnt war. Dass ihr Mann vor Jahren an Krebs verstorben war, passte ja auch in diese Biografie. Auch sonst mochte das Leben sie nicht gerade verwöhnt haben. Sie wirkte zwar betroffen, schien aber gefasst, als hätte sie ohnehin keine andere Information von ihm erwartet.
Ihre Mimik hatte eine maskenhafte Starre angenommen, als sie wie in Trance zu sprechen begann: »Ich wusste, dass sie tot ist. Ich bin ihre Mutter … ich habe es gespürt.«
-
Nachdem Berger von Frau Reinhardt einen Zweitschlüssel zur Wohnung ihrer Tochter erhalten und sich verabschiedet hatte, fuhr er in die Direktion, um Niko Sorokin zur Besprechung im Koblenzer Präsidium abzuholen. Die Neuwieder Kollegen sollten zwischenzeitlich die Personalie von Julias Freund, einem Robert Piotrowski, überprüfen. Der fünfunddreißigjährige Mann war gelernter Krankenpfleger und arbeitslos, was an sich schon ein Witz war, weil sich Menschen dieses Berufsstands heutzutage die Stellen aussuchen konnten. Nach Aussage von Frau Reinhardt sei er ein Tunichtgut und keinesfalls der Richtige für ihre Tochter … gewesen. Außerdem hätte Julia ihn als äußerst eifersüchtig beschrieben und sich selbst mit Trennungsgedanken getragen. Es gab geringere Gründe, um seinem Partner Gewalt anzutun, das wusste Berger aus fast vierzigjähriger Berufserfahrung nur zu gut.
Berger ließ Sorokin ans Steuer. Autofahren machte ihm auch nicht mehr so viel Spaß wie früher.
»Was macht die Familie, Niko?«, versuchte sich Berger in Plauderei.
»Jessica beschwert sich, dass ich nicht mehr Zeit mit Boris verbringe. Dabei hab ich doch nichts anderes mehr im Kopf, als den Kleinen. Sobald ich vom Dienst komme, schnappe ich mir das Würmchen, es sei denn, er schläft. Das …«
Bergers Magen zog sich zusammen wie eine Mimose bei Unwetter. In Gedanken sah er den kleinen Boris, gerade mal ein gutes halbes Jahr alt, und Niko, der sich mit Jessica fetzte. Er bekam den Rest von Sorokins Ausführungen gar nicht mehr mit. Zu sehr erinnerte ihn das sich anbahnende Polizistendrama an das Ende seiner eigenen Partnerschaft mit Moni. Und was sollte er dem Kollegen auch sagen. Ihm vielleicht raten, den Job hinzuschmeißen, um sich nur noch um Frau und Kind zu kümmern?
Vergeblich versuchte er die Gedanken zu verdrängen. Eine bittere Übelkeit stieg in ihm auf. Da kam ihm das Klingeln des Mobiltelefons gerade recht.
»Berger! Ja … gut! Mmh, hab ich mir gedacht. Ja, mach ich heute noch, tschüss!«
»Was war?«
»Die haben die Daten von Piotrowski überprüft, also den Freund von der …«
»Julia Reinhardt.«
»Ja. Jedenfalls ist der kein Unbekannter. Kleinere Drogendelikte … ein Gewaltdelikt. Den Burschen schau ich mir nach der Besprechung jedenfalls an, sofern er nicht ausgeflogen ist.«
Der Kartoffelsalat in der Kantine des Koblenzer Polizeipräsidiums war bekanntermaßen von der Pächterin selbstgemacht und ganz vorzüglich. Das wusste Berger natürlich und begab sich, gegen Sorokins ausdrücklichen Rat, sofort nach ihrer Ankunft in Koblenz dorthin. Zusammen mit einer heißen Bockwurst und reichlich Senf ergab der Imbiss um kurz nach drei Uhr nachmittags ein ganz passables Mittagessen. Berger war sich bewusst, dass die SOKO-Sitzung um drei begonnen hatte, aber davon ließ er sich den Appetit nicht verderben. Zumal die Pächterin eine ganz Nette und stets zu anzüglichen Scherzen aufgelegt war, was Berger im Augenblick in den Kram passte.
Gegen zwanzig nach drei und ausgiebiger Unterrichtung über die neuesten Hausgerüchte, öffnete er die Tür zum Besprechungsraum, in dem sich der Leiter der Koblenzer Mordkommission, Ansgar Monreal, die Koblenzer Kollegen Öczan Eyüboglu, Sven Golinski und Franz Brenig, Kollegin Gaby Reiser, Kriminaldirektor Herbert Kleinschmidt und der Neue von der Staatsanwaltschaft, Andrea Berenci, ein junger, glänzend gegeelter und in feinsten italienischen Stoffen gekleideter Schnösel, bereits in geselliger Runde zusammengefunden hatten.
Monreal verschränkte sogleich die Arme in demonstrativer Missbilligung der Bergerschen Verspätung.
»Ah, Kollege Berger gibt uns auch noch die Ehre. Was war so wichtig, dass es dich davon abgehalten hat, um drei Uhr hier zu sein?« Monreals Augen sprühten nur so vor Gift. Na, das konnte ja heute wieder mal unterhaltsam werden.
»Hatte noch was zu erledigen«, entgegnete Berger laut und vernehmlich und steuerte einen freien Platz am Besprechungstisch an, den aufgebrachten Monreal stoisch ignorierend.
»Soll das etwa bedeuten, dass dir unsere Besprechung nicht wichtig genug ist?«, setzte der SOKO-Leiter nach. Offenbar beabsichtigte er wohl ein Kämpfchen zu eröffnen und pumpte schon mal nach Luft. Der Blick zu seinem Vorgesetzten bremste ihn allerdings aus, denn Direktor Kleinschmidt bemühte sich mit einer beschwichtigenden Geste um Contenance. Das schien zu wirken. Ein verstecktes Kopfnicken zum Chef und: »Mmh, gut … also nochmal zu den Fakten. Heute Morgen findet ein Spaziergänger zwischen Klärwerk und Schwimmbad in Neuwied den abgeschnittenen Kopf einer jungen Frau. Die Neuwieder Kollegen finden anschließend den kopflosen Körper auf einem nahegelegenen Sportplatz. Sowohl Kopf, als auch Körper weisen erhebliche Verletzungen auf …« Monreals Blick wanderte zu Gaby Reiser, die daraufhin von ihrem Stuhl aufstand und flott vom Blatt vorlas, was Frau Doktor Merharzadi an Grausamkeiten gefunden hatte.
»Ja … danke, Gaby«, bedankte sich Monreal bei seiner jungen Kollegin und fuhr fort. »Das vorläufige Gutachten hat uns die Bonner Rechtsmedizin eben erst gemailt. Aber das war Herrn Berger ja wohl alles schon bekannt.« Der erneut anklagende Unterton war nicht zu überhören. »Ohne jegliche Kooperation und Absprache bist du heute schon in Bonn gewesen und warst …«
»Schnell«, ergänzte Berger, hob die Augenbrauen und blickte suchend über den Besprechungstisch, um sich eine unbenutzte Tasse zu greifen und von der dünnen Brühe einzugießen. Monreals zänkischen Blick übersah er geflissentlich. Dafür zog er das Beutelchen mit dem Ring der Toten aus der Innentasche seines Sackos und legte es auf den Tisch.
»Der Ring der Toten. Es handelt sich mit großer Wahrscheinlichkeit um den gleichen, den Julia Reinhardt auf diesem Foto trägt.« Er griff nochmals in seine Tasche und beförderte mit einer lässigen Handbewegung die entfaltete und auf DIN A4 vergrößerte Kopie des Fotos von Julia Reinhardt neben das Ringbeutelchen.
»Das …« Monreal hatte die Augen aufgerissen. Sein Unterkiefer hing ab, als sei ihm der Leibhaftige persönlich begegnet. Ein solches Stakkato schneller Ermittlungsergebnisse ohne kollegiale Absprache war augenscheinlich doch zu viel für ihn. Man konnte ihm deutlich ansehen, wie er innerlich sämtliche Dienstvorschriften abspulte. Er hatte sich bereits in die Brust geworfen, um einen weiteren Disziplinierungsversuch zu starten, als sich Direktor Kleinschmidt, trotz einiger Mühe aber trotzdem entschlossen, aus seinem Stuhl emporzwängte und gebieterisch auf die glänzende Resopalplatte klopfte.
»Ich … ähh … danke, Herr Berger, für … Sie haben ja ganz zweifelsfrei … ganz zweifelsfrei ausgesprochen engagiert und zügig den neuen Fall angenommen und in ihrer … in ihrer kämpferischen Art …« Er wrang seine Hände, als vollzöge er eine gründliche Waschung. Sein Kopf wanderte dabei von links nach rechts, um sich der Aufmerksamkeit der Truppe zu versichern. »… kämpferischen Art sofort losgelegt. Wir kennen sie … kennen sie als ambitionierten Kollegen, so darf ich wohl sagen und, ähh … und wir, also, ich meine alle hier …« Mit diesen Worten schenkte er Monreal einen ermahnenden Blick. »… wissen ihre Arbeit zu schätzen.« Kopfnicken bei Kleinschmidt, offene Münder und Staunen in der Truppe, mit Ausnahme von Berger und Monreal, der bemüht war, sein Mündchen wieder zu schließen. »Ich darf aber, und hier bin ich durchaus beim Kollegen Monreal, an unser Regelwerk, ähh … Regelwerk erinnern. Ja, Herr Berger. Ähh …« Mit einem Blick zur Zimmerdecke wollte er sich wohl der Unterstützung von höherer Stelle vergewissern. »Und ich will …« Er hatte die Hände nun gefaltet, wie ein katholischer Priester beim Einzug in die Messe und blickte dabei nickend in die Runde. »… will gar nicht in Abrede stellen, nicht wahr, dass sie sozusagen … also sozusagen einen deutlichen Arbeitswillen an den Tag legen … an den Tag legen. Ja … und trotzdem …« Er wand seinen schwammigen Körper nach allen Seiten, suchte erkennbar nach einer Geste, die ihm Beachtung und Autorität verleihen könnte und stellte, als er sie gefunden zu haben schien, seine Fingerspitzen gespreizt und gebieterisch auf den Besprechungstisch. »Trotzdem sollten wir uns natürlich an, ähh … an gewisse Spielregeln der kollegialen Zusammenarbeit und der, ähh … der kriminalistischen Systematik, ähh … halten, ja halten.« Kopfnicken. »Also bitte, Herr Berger …« Die Arme zum Neuwieder gestreckt, wie um eine Art Friedensangebot zu unterbreiten, fuhr er fort. »Lassen sie uns … und damit meine ich natürlich alle hier …« Nickend sah er jeden am Tisch nochmals an. Sein Blick blieb auf Monreal haften. »… alle hier … nicht wahr, mein lieber Ansgar. Also … bitte!« Hier wollte das Kopfnicken kein Ende mehr nehmen.
Was für eine grandiose Vorstellung, dachte Berger, unterließ es aber, zu applaudieren. Kleinschmidt senkte seine quallige Gestalt, nachdem er Monreal mit einer auffordernden Geste wieder die Sitzungsleitung übergeben wollte. Dabei hätte er sich beim Niederlassen fast neben den Stuhl gesetzt. Sein ausladendes Hinterteil bot auf dem Rand der Sitzfläche aber scheinbar genügend Haftung, sodass der Sturz vermieden werden konnte. Kopfschüttelnd suchte er die richtige Sitzposition. Mutmaßlich war der Stuhl der Übeltäter.
Berger war erstaunt. Sollte Kleinschmidts Disziplinierungsversuch nicht nur ihm, sondern gar dem lieben Ansgar gegolten haben? Das wäre ja mal ein ganz neuer Ansatz in diesem Haus. Jedenfalls hatte Monreal etliche rötliche Flecken am Hals bekommen, was nicht für ausgeglichene Emotionalität sprach.
»Danke, Herbert!«, fuhr der trotzdem eilig fort. Wahrscheinlich hatte er Karten für das heutige Schicksalsspiel seiner TuS gegen den KSC und wollte auf dem Oberwerth nicht zu spät erscheinen. »Wir haben also folgende Fragestellungen: Wer könnte ein Motiv gehabt haben und wie sieht dieses aus? Das Umfeld der Toten muss eruiert werden. Die Mutter der vermissten Julia …«
»Also, meine Herrschaften …«
Mein Gott, der frischgebackene Herr Staatsanwalt schaltete sich ein.
»Ich denke, wir sollten ein wenig strukturierter vorgehen.«
Monreals Unterkiefer fiel ab und hinterließ einen staunend offenen Mund, der wortlos fragte, was an seinem Vorgehen denn nun nicht strukturiert sei.
Berger gefiel es. Ein weiterer Schlaumeier im Team verlieh die Veranstaltung eine zusätzliche Würze, auch wenn‘s unnötige Zeit kostete.
»Da ich … da wir davon ausgehen müssen, dass es sich hier um ein sexuell motiviertes Verbrechen handelt, weil das Opfer penetriert wurde, sollten wir auf erprobte Verfahren, beispielsweise das Vier-Phasen-Modell des FBI, zurückgreifen.«
Gütiger Goethe, an der Uni wurde auch nichts Neues geboten. Aber mit dieser Theorieverliebtheit hatte der junge Jurist einen starken Konkurrenten in Monreal. Das könnte ja heiter werden. Zumal unser Rechtsgelehrter mit seinem sexuell geprägten Tätermotiv zweifellos danebenlag. Motiviert sprach er trotzdem weiter.
»Erstens: Verhalten und Planung vor der Tat. Zweitens: Die Handlung um die Tötung selbst. Drittens: Leichenbeseitigung. Und viertens: Nachtatverhalten. Nun, was können wir zum Verhalten vor der Tat sagen?« Mit einem überlegenen Lächeln sah er sich in der Runde um. Sein Blick trat auf erstaunte Gesichter. Berger grinste ihn an. Zufrieden fuhr Berenci fort: »Also, die Tat war zweifellos geplant. Der oder die Täter warteten in diesem …«
»Weidchen!« Berger gefiel der Jungspund immer mehr. Der war dermaßen lustig.
»Weidchen, ja danke, Herr Berger. Er oder sie hatten eine Tatwaffe … wir gehen von einem massiven, schweren Gegenstand aus. Ein Rohr, eine Eisenstange … Die wird er oder werden sie möglicherweise eigens für die Tat besorgt haben. Es scheint mir auch …« Mit diesen Worten stand Greenhorn Berenci auf und bewegte sich mit ausladenden Schritten zur Präsentationstafel, um sich einen der dicken Filzschreiber zu greifen. Er drehte sich zur Runde, hob den Filzstift und fuhr fort: »Die Täter haben das Opfer gekannt …« Soso! »… sodass wir, insbesondere im Umfeld des Opfers, also beispielsweise die Angehörigen, Mutter …«
Also, jetzt langte es aber auch. Genug der Theorie.
»Da war ich schon, wie gesagt.« Berger zog einen gefalteten Ausdruck aus der Seitentasche seines Sackos und legte ihn auf den Tisch neben den Ring und das Foto. »Ich habe ja bereits mitgeteilt, dass es sich bei der vermissten Julia Reinhardt mit hoher Wahrscheinlichkeit um die Tote handelt. Sie wohnte in einem Mehrfamilienhaus in Neuwied. Die Bewohner müssen befragt werden. Zudem habe ich hier …« er wies auf das zusammengefaltete Blatt, »… eine Liste der Freunde und Bekannten. Die müssen aufgesucht und ebenfalls befragt werden, zumal wir davon ausgehen müssen, dass der Täter …« Er betonte das Wort theatralisch. »… die Ermordete oder zumindest ihre Gewohnheiten, wie beispielsweise das abendliche Joggen, kannte. Denn es wäre doch eher unwahrscheinlich, dass sich der Täter zufällig im nächtlichen Weidchen versteckte und auf unbekannte Opfer wartete. Ja und es handelt sich übrigens mit großer Sicherheit, lieber Herr Berenci …«, mit diesen Worten wandte er sich an den verdutzt dreinschauenden Staatsanwalt, »… um einen Einzeltäter. Die Schleifspuren am Fundort lassen den Verdacht zu, dass der Körper dem Täter zu schwer wurde und er ihn zumindest das letzte Stück über den Boden geschleift hat. Wären es mehrere Täter gewesen, hätten sie das Corpus doch wohl eher getragen.« Mit Genugtuung betrachtete Berger die Denkfalten, die sich auf der Stirn des Staatsanwalts aufwarfen. Na ja, noch ein wenig professionelle Kombinationsgabe und den Mann könnte man vielleicht ernst nehmen. »Die Spusi untersucht zurzeit noch die Umgebung des Leichenfundortes. Mit ein wenig Glück finden wir Spuren, die uns Hinweise auf den Täter geben können. Zudem werden Rechner und Mobiltelefon der Toten nach Verwertbarem durchforstet. Vielleicht hatte sie auffällige E-Mail-Kontakte vor ihrem Tod.« Er schloss für einige Sekunden die Augen und holte tief Luft bevor er fortfuhr. »Einige Dinge bleiben allerdings rätselhaft. Zum einen fanden wir weder Haustürschlüssel noch Geldbörse oder so etwas, was man mit sich trägt, wenn man das Haus verlässt. Zum anderen: Die Tote trug auf dem Foto eine Halskette mit Anhänger. Im Gegensatz zum Ring fehlt die Kette, warum auch immer. Sie wurde bisher ebenfalls nicht gefunden. Zudem … Reste von Tabak neben der Toten. Der Täter arbeitete ausgesprochen sorgfältig. Warum sollte er Tabak am Tatort verlieren? Warum ist ihm das nicht aufgefallen? Das zumindest bleibt für mich ein Rätsel.« Er schüttelte den Kopf, griff sich seine Tasse und trank von der lauwarmen Plörre. Da sich niemand anbot, seine Gedanken weiterzuentwickeln, fuhr er fort. »Die Rechtsmedizin …« Er reckte das Kinn vor und sah zu Monreal. »Und ja, lieber Ansgar, ich war tatsächlich bereits dort und habe mir alles erklären lassen … Die Rechtsmedizin, wie gesagt, wird uns wünschenswerterweise morgen die DNA-Analyse liefern können. Der Abgleich mit verwertbaren Proben aus der Wohnung von Julia Reinhardt wird uns den Beweis liefern, dass sie die Tote ist. Und ich …«, mit diesen Worten sah er demonstrativ auf seine Armbanduhr, »… knöpfe mir jetzt den arbeitsscheuen Freund der Julia Reinhardt vor.«
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Robert Piotrowski wohnte in Block, dem Neuwieder Stadtteil zwischen Sonnenland und Engers, unmittelbar an der Engerser Landstraße. Die Wohnung von Julias Freund befand sich in einem Gebäude der Häuserreihe, die genau zwischen Bahndamm und der Hauptstraße lag. Also nicht unbedingt das Blankenese Neuwieds, sofern es etwas Vergleichbares in Neuwied überhaupt gab. Die Rollläden im ersten Stock des in ein hässliches Grellgelb gekleideten Hauses, in dem sich Piotrowskis Wohnung befinden musste, waren zu zwei Dritteln heruntergelassen.
Es war kurz nach fünf. Die Spurensicherung hatte mittlerweile Julia Reinhardts Wohnung unter die Lupe genommen. Derjenige, der ihren Haustürschlüssel haben musste, hätte möglicherweise ein Interesse daran gehabt, ihn zu benutzen und dabei irgendwelche Spuren hinterlassen. Berger und Sorokin hatten sich nach der Spusi ebenfalls kurz in der Wohnung der Ermordeten umgesehen und Zahn- und Haarbürste zum DNA-Abgleich mitgenommen, die auf dem schnellsten Weg zu Gutjahr nach Bonn gebracht würden. Die verschwundene Halskette der Toten hatten sie allerdings auch hier nicht finden können. Der Täter musste sie an sich genommen haben.
Berger klingelte. Nachdem sich fünf Sekunden lang drinnen nichts geregt hatte, legte er die Hand auf die Klingel. Kurz darauf wurde der Türöffner betätigt. Berger und Sorokin gingen die Treppe bis zum ersten Stock hinauf. Piotrowski stand im Türrahmen, eine Hand in den zerzausten, knapp mittellangen, dunkelbraunen Haaren, die andere am Türblatt. Er trug ein zerknautschtes weißes T-Shirt und eine dunkelblaue Jogginghose mit dem Aufdruck FV Engers. Der Bursche musste also mal sportlich gewesen sein. Im Augenblick zumindest wirkte er eher, als hätte er den ganzen Tag im Bett gelegen. Jetzt vernahm Berger das Knurren eines Hundes, der hinter der Wohnungstür lauern musste, die Piotrowski bis auf einen Spalt hinter sich zuhielt. Wenn nicht alles täuschte, handelte es sich dabei nicht gerade um einen kleinen Hund.
»Schnauze, Ringo!«, fauchte Piotrowski mit einem Blick über die Schulter.
»Herr Piotrowski? Robert Piotrowski?«, polterte Berger, als er und Sorokin zwei Armlängen vor ihm standen und so laut, dass es die übrigen fünf Mietparteien auch deutlich hören mussten.
Der Mann nickte und kratzte sich weiter am Kopf. Es war im erkennbar bewusst, wer hier gerade etwas von ihm wollte. Und das passte ihm gar nicht, wie ihm ebenfalls unschwer anzusehen war. Der Hund knurrte nun lauter.
Berger zückte den Dienstausweis und hielt ihn dem Mann vor die Nase.
»Berger, Kripo Neuwied.« Und mit einem kurzen Blick zu seinem Kollegen: »Das ist mein Kollege Sorokin. Wir haben ein paar Fragen an sie. Dürfen wir reinkommen?«
Piotrowski machte ein blödes Gesicht, zog den Kopf ein wenig ein und trat einen Schritt zurück. Eilig schob er die Hand in den Türspalt um alsbald einen dieser schlitzäugigen, mit langer Schnauze ausgestatteten Bullterrier am Stachelhalsband zu halten. Der kraftstrotzende Köter bellte jetzt das ganze Treppenhaus zusammen.
»Schnauze, Ringo. Verdammt!« Er stieß die Tür auf, zerrte das angriffslustige Tier in den Wohnungsflur und hielt es kurz, um die beiden Beamten einzulassen. In der Wohnung roch es nach altem, abgestandenem Bier und kaltem Zigarettenrauch. Das Wohnzimmer entsprach dem, was man als junggesellengerecht beschreiben konnte: ein altes braunes Textilsofa, zwei ebenso alte Sessel, ein staubiger, zerkratzter Couchtisch, ein Wohnzimmerschrank, der in trostloser Leere irgendwie nach seiner Bestimmung schrie, keine Gardinen, kein Teppich, keine Blumen, dafür jede Menge Hygienemängel. Fehlte nur noch der Kasten Bier auf dem knirschenden Boden.
Piotrowski ließ sich auf sein Sofa fallen, von dem er ein Paar alte Socken auf den Boden schob und »Ringo« mit den Worten: »Hier, sitz!« neben sich Platz nehmen ließ. Offenbar schien ihn der Hund zu verstehen, jedenfalls rührte er sich nicht mehr, als er aufrecht saß. Berger und Sorokin blieben stehen, vom leise aber beständig knurrenden Ringo mit gesenktem Kopf fixiert.
»Herr Piotrowski, sie kennen Frau Julia Reinhardt?«
Der Befragte zuckte kurz auf. Sein Blick ging zur Tür, um dann zwischen den beiden Beamten hin- und herzuspringen. Sorokin trat einen Schritt zurück. Falls der Junge auf dumme Gedanken kommen sollte, würde er ihm den Weg verstellen.
»Ja, kenne ich«, antwortete Piotrowski mit belegter Stimme. Er räusperte sich, um den Schleim zu lockern und schluckte ihn dann runter. »Sie ist … Wir sind zusammen.«
»Wissen Sie, wo Frau Reinhardt sich zurzeit aufhält?«
Piotrowski machte ein blödes Gesicht. »Nein … keine Ahnung.«
»Frau Reinhardt wurde gestern von ihrer Mutter als vermisst gemeldet. Wenn sie, wie sie sagen, mit ihr zusammen sind, müssten sie sich doch auch fragen, wo sie ist.«
»Vermisst? Nein, wüsste ich nicht.« Piotrowski setzte eine verblüffte Miene auf und schüttelte den Kopf.
»Das heißt, sie sind mit ihr zusammen, wissen aber nicht, wo sie sich seit zwei Tagen aufhält?« Bergers Augenbrauen hatten sich aufgeschoben. Seine Ansprache nahm nun einen beherzten Ton an. »Sie wollen mir doch nicht erzählen, dass es sie nicht interessiert, wo ihre Freundin … oder Partnerin … steckt! Oder wissen sie es doch vielleicht ganz genau, wo sie … besser gesagt, was mit ihr ist?«
Mit seinen letzten Worten hatte Berger den Zeigefinger in Piotrowskis Richtung gestreckt. Der hatte Mund und Augen aufgerissen und eine Hand abwehrend erhoben. Ringo hob den Kopf und spitzte die Ohren.
»Ich … nein, ich weiß nicht …« Stammelte er gehetzt und versprühte dabei einen Speichelregen, der sich glitzernd über den staubigen Couchtisch legte. Seine Wangenfarbe wechselte von blass zu einem lebendigen rosa. Der Bullterrier weitete die Schlitzaugen und bleckte die Zähne.
»Schluss mit dem Theater«, donnerte Berger und fuhr sicherheitshalber mit seiner Hand über die Walther, weil Ringo ansetzte, sich aufzurichten und nun lauter knurrte. »Wo waren sie von vorgestern Abend zweiundzwanzig Uhr und ein Uhr am nächsten Tag, Herr Piotrowski?«
Der Befragte streckte seinen Oberkörper. Der Hund tat es ihm gleich. Einen kurzen Augenblick verharrte Piotrowski in seiner kerzengeraden Sitzhaltung. Dann schloss sich sein Mund und die Augenlider zogen sich zu schmalen Sehschlitzen zusammen, ähnlich denen seines Sitznachbarn, der nun schlagartig aufgesprungen war. Mit einem jähen Ruck und gellendem Schrei riss Piotrowski sich vom Sofa hoch und stürmte, den Kopf gesenkt und die Fäuste geballt, auf die beiden Beamten zu. Ein heftiger Schlag in den Magen nahm Berger die Luft. Er fiel seitlich auf einen Sessel, fing sich mit dem rechten Arm ab und spürte zeitgleich einen heißen Schmerz in seiner rechten Wade. Der Köter war mit einem mächtigen Satz auf ihn zugesprungen und hatte sich in sein Bein verbissen! Ringo riss derart daran, dass Berger sich an der Sessellehne festhalten musste. Im nächsten Augenblick ließ ein Schuss dröhnend den Raum erzittern.
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Er entzündete die Kerze.
Er hatte es zu einem Ritual erkoren. Erinnerung, Trauer, Gedenken, ihre Lieblingsspeise, ein Strauß Feldblumen mit Löwenzahn. Und die Kerze. Der sechzehnte April war ihm zu seinem Feiertag erwachsen, seit er sich der furchtbaren Tragik ihres Opfers bewusstgeworden war. Und seit sich zur Trauer der Hass gesellt hatte, beging er diesen Tag im immer gleichen Ablauf.
Er stellte die Kerze in die Mitte des Tisches, schöpfte sich eine Kelle vom Kartoffelbrei, nahm eine Scheibe vom Rinderbraten und goss sich von der dicken dunkelbraunen Soße darüber. Gerade so viel, dass die halbe Scheibe Braten bedeckt war.
Das hatte sie so immer am liebsten gegessen. Eigentlich noch Feldsalat dazu, aber den hatte er gestern nicht bekommen.
Weil er das Kochen nicht beherrschte und wohl auch niemals beherrschen würde, hatte er sich, wie im letzten Jahr auch, das Essen im Pegelhaus kochen lassen und mit nach Hause genommen. Es war ganz in Ordnung. Auch wenn es nicht genauso schmeckte wie von ihr gekocht, half es die Erinnerung lebendig werden zu lassen.
Er roch förmlich den blühenden Schlehdorn, der am Rand des elterlichen Hofs in Büschen gewachsen war. Er hatte frühlingshaft, lieblich und ein wenig nach Mandeln geduftet. Die milde Luft des sonnigen Frühjahrstags, das fröhliche Zwitschern der Singvögel … alles war so viel klarer geworden, damals als sie …
Er hatte es sofort gespürt. Ein ekstatisches Gefühl, dass er bis zu diesem Augenblick nicht gekannt hatte, war wie ein heißer Schauer über sein Hirn gezogen. Hatte seine zweifelnden Gedanken fortgerissen wie Geröll einer abgehenden Lawine. Sie hatte an den Pforten zur ewigen Verdammnis gestanden. Und sie hatte gewusst, was Last und Leid, Trauer und Trübsal, Bedrängnis und Verfolgung entgegenzusetzen war. Ihre bloße Anwesenheit hatte ihn beflügelt, ihn aus seiner selbstgewählten Beschränktheit befreit. Wie eine Göttin war sie ihm erschienen.
Natürlich konnte er zu diesem Zeitpunkt nicht die Dimension erfassen, die sie, die ihre Verbindung einmal erreichen würde. Konnte nicht ahnen, dass ihr Leben eins sein würde. Und dass sich die gemeinsame Aufgabe stellte …
Doch auch wurde ihm ihr Ende jedes Jahr vor Augen geführt. Es sei ein tragischer Unfall gewesen. Irgendetwas hätte ihr wohl die Sicht genommen. Vielleicht sei sie auch ein wenig zu schnell gewesen, und der Baum hätte tragischerweise an der falschen Stelle gestanden …
Er stieß seine Gabel in die mit Soße bedeckte Scheibe Rindfleisch, schnitt ein Stück ab und schob es sich in den Mund. Mechanisch kauend, gab er sich den Gedanken und Bildern hin, die sich wie ein aufziehendes Unwetter in seinem Bewusstsein ausbreiteten. Er war an diesem Unfalltag erwacht. Erwacht aus dem Traum der Unschuld und hineingestoßen in eine Welt des Unrechts und der Qualen. Und er hatte trotz seiner Unreife damals bereits gewusst, dass es kein Unfall gewesen war und dass es die Erinnerung, die Bilder aus der Vergangenheit und das nicht gesühnte Unrecht gewesen waren, die sie getötet hatten.
Am nächsten Tag hatte sie zum ersten Mal in ihrer himmlischen Pracht zu ihm gesprochen, und er hatte die ganze Wahrheit erfahren. Und mit dieser Wahrheit war der Auftrag gekommen, an dessen Erfüllung sie gearbeitet hatten bis zum heutigen Tag.
Er war zum Weißen Ritter erkoren!