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Acht

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Renate fährt in Richtung Süden, durch Cannigione weiter nach Arzachena. Dort findet sie an der Hauptstraße einen freien Parkplatz. Im Zeitungsladen kauft sie eine Straßenkarte von Sardinien sowie einen Reiseführer. Auf der anderen Straßenseite entdeckt sie eine Bar. Sie setzt sich an einen freien Tisch und bestellt einen Cappuccino. Sie breitet die Karte auf dem Tisch aus und entdeckt auch gleich den gesuchten Ort Tomba dei Giganti, ein Großsteingrab aus grauer Vorzeit.

Als sie das liest, denkt sie an entsprechende Gräber in der Lüneburger Heide und in Mecklenburg und daran, dass man dort zur Zeit des faschistischen Germanenkultes die Größe der Steingräber mit der Größe der dort beerdigten Menschen in Verbindung gebracht und sie Hünengräber genannt hat. In Wirklichkeit, so weiß sie, war die Größe der Gräber in menschlichen Kulturen abhängig von der Stellung der dort Beerdigten in der jeweiligen Gesellschaft. In der Lüneburger Heide hatte man auch nach dem Zweiten Weltkrieg die Bezeichnung Hünengräber beibehalten. In der DDR, z. B. in Mecklenburg, wurden sie in Großsteingräber umbenannt. Nach dem Anschluss der DDR an die BRD haben neu gegründete Heimatvereine die Gräber teilweise wieder in Hünengräber umbenannt.

Renate erinnert sich an einen Besuch in Plau am Plauer See vor einigen Jahren. Sie hatte eine Fahrradtour unternommen und war an ein entsprechendes Hinweisschild gelangt. Dort hatten findige Leute die Hünengräber in Hühnergräber umbenannt. Sie muss lachen, als sie jetzt daran denkt.

Sie verlässt Arzachena in westlicher Richtung und gelangt nach wenigen Kilometern an den Gräberplatz. Die Grabanlage wird beherrscht von einer circa vier Meter hohen Steinplatte. Diese ist oben abgerundet und besitzt auf Bodenhöhe eine torähnliche Öffnung. Rechts und links wird sie von zwei jeweils ungefähr zwei Meter hohen Steinblöcken flankiert. Sie geht um die Steinplatten herum und entdeckt einen langen, steingemauerten Gang, der unmittelbar hinter der Öffnung in der großen Steinplatte beginnt. Dieser gemauerte Gang war die eigentliche Grabstätte, so hatte sie es in dem Reiseführer gelesen. Dann umrundet sie die Grabanlage und setzt sich in den Schatten einer Pinie. Sie versucht sich das Leben der Menschen zu damaliger Zeit vorzustellen, was ihr nicht gelingt. Auch im Reiseführer findet sie keinen Hinweis darauf, ob es sich bei den Menschen, die hier circa 2000 Jahre vor unserer Zeitrechnung ihre Toten beerdigt haben, noch um Sammler und Jäger oder schon um Ackerbauern und Viehzüchter gehandelt hat.

Sie muss die Frage offenlassen und überlegt stattdessen, ob sie nun schon wieder nach „Hause“ fahren oder einfach in westlicher Richtung weiterfahren soll. Ein Blick auf die Karte zeigt ihr, dass es bis zur Nordspitze der Insel, dem Capo Testa, nicht mehr weit ist. Von dort führt eine Straße entlang der Westküste Sardiniens, vorbei an Portobello di Gallura, bis zur Costa Paradiso. Weiter könnte sie dann über Tempio-Pausania den Rundkurs abschließen und nach Cannigione zurückfahren.

Gedacht, getan. Am späten Nachmittag erreicht sie eine Seitenstraße, die nach ihrer Berechnung zur Costa Paradiso führen müsste. Noch einmal vergewissert sie sich durch einen Blick auf die Karte. Im Reiseführer liest sie:

Costa Paradiso. Der einladende Name ist einer kleinen Örtlichkeit, den Gemeinden Trinita d’Agulta und Vignola, gegeben worden, dem Küstenabschnitt, der sich Richtung Badesi Mare schlängelt. Hier trifft man sehr schöne Strände. Es sind Zonen, in denen man malerische Winkel entdecken kann, die von Künstlern der Farbe und jenen gesucht werden, die unvergleichliche Naturräume finden möchten. Überflüssig, an die leuchtenden Panoramen und die schönen, aufeinanderfolgenden Strände zu erinnern.

Renate merkt sich die Abzweigung und fährt weiter in die angegebene Ortschaft, um sich für den Tag mit Lebensmitteln zu versorgen. Sie möchte nirgendwo einkehren, da sie möglichst schnell an die Costa Paradiso gelangen will. An der Abzweigung biegt sie links ab und erreicht nach circa drei Kilometern die Küste. Die Straße endet unmittelbar vor einer Art Dünengelände, hinter dem sie das Meer vermutet. Links der Straße stehen drei kleine, hölzerne Ferienhäuser. Wie es ihr erscheint, sind diese zurzeit nicht bewohnt. Ein Weg führt in das Dünengelände. Auf einem Platz, etwa zwanzig Meter vor den drei Häusern, stellt sie ihr Auto ab.

Sie packt Bikini, Handtuch und Lebensmittel in eine Stofftasche und macht sich auf den Weg in die Richtung, in der sie den Strand vermutet. Und tatsächlich, hinter einer kleinen Anhöhe endet das teilweise mit Macchia bewachsene Gelände.

Ihr öffnet sich der Blick auf einen fast schneeweißen Strand, eine etwa dreihundert Meter breite Bucht, links und rechts von roten Granitfelsen begrenzt. Der Strand ist menschenleer.

Ohne lange zu überlegen, legt sie die Stofftasche in den Sand, zieht sich vollständig aus und läuft hinunter zum Wasser. Von Blau über Hellgrün zu dunkelgrün bietet es sich ihr dar. Über dem roten Granit nimmt es auch dessen Farbe an.

Wie das Bild im Reiseführer, denkt sie, als sie langsam über den im Wasser festen Sand ins Meer läuft. Nach circa fünfzig Metern reicht ihr das Wasser zum Schritt. Sie bleibt einen Moment stehen, bevor sie losschwimmt und nach fünfhundert Metern das Ende der Bucht erreicht. Jetzt werden die Wellen höher, und Renate schwimmt, zunächst auf dem Rücken, zurück zum Ufer. Sie steigt aus dem Wasser, glaubt dabei, immer schwerer zu werden. Zu erschöpft, das Handtuch auszubreiten, legt sie sich in den Sand.

Später überlegt sie, ob sie nicht einfach hier am Strand übernachten soll, als zuerst leichter Wind aufkommt, der dann aber an Stärke zunimmt und trockenen Sand aufwirbelt. Am Himmel werden erste Wolken sichtbar. Renate zieht sich wieder an, geht zurück zum Auto. Ihr Wagen steht im Windschatten der drei Häuser. In der Nähe entdeckt sie einen Granitfelsbrocken, den sie als Tisch nutzen kann. Sie schneidet Ciabatta auf und entfernt die Haut der Salsiccia, einer sardischen Salamispezialität. Den Rotwein trinkt sie, in Ermangelung eines entsprechenden Gefäßes, aus der Flasche. Als sie gegessen hat, ist die Sonne bereits hinter den fernen Felsenbergen verschwunden.

Das Trinken aus der Flasche hat die Kontrollmöglichkeit hinsichtlich der Weinmenge beeinträchtigt, sodass sie nicht gemerkt hat, dass fast die ganze Flasche leer ist. Sie ist erschrocken und stellt ihre Fahrtüchtigkeit infrage. Was soll‘s, denkt sie, dann schlafe ich eben im Auto.

Bevor es ganz dunkel wird, erkundet sie aber doch die nähere Umgebung. Sie geht zu den drei Holzhäusern, stellt fest, dass alle Frontfenster mit Fensterläden abgedichtet und die Türen verschlossen sind. Dann geht sie hinter die Häuser. Auch hier sind alle Fenster und Türen verschlossen, meint sie, bis sie entdeckt, dass am mittleren Haus eine Fensterklappe nur angelehnt ist. Ihre Neugier überwiegt. Sie drückt das Fenster nach innen auf, blickt in einen Raum, der wahrscheinlich das Wohnzimmer bildet. Gegenüber dem Fenster stehen um einen flachen Tisch gruppiert einige Sessel und ein Sofa. An der von ihr aus gesehen linken Wand steht ein flaches Sideboard, an der rechten ein schmiedeeisernes Gerät – ein gasbetriebener Ofen, vermutet sie. Auf dem Holzdielenboden liegen kleine Teppiche und ein Läufer in Richtung einer Tür, die sicher in einen anderen Raum oder den Hausflur führt.

Renate schaut versonnen, wünscht sich ein solches Häuschen, zumal sie die Umgebung kennengelernt hat. Aber leider ist das nicht möglich, denkt sie, zieht das Fenster wieder zu und drückt die Fensterklappe gänzlich vor das Fenster. Sie wundert sich über ihr Tun und setzt den Weg um die Häuser herum fort.

Renate weiß, dass es im Süden Europas schneller dunkel wird, als zu Hause in Deutschland, ist aber trotzdem überrascht, als sie zum Auto kommt und die Häuser kaum noch erkennen kann. Wind und Wolken haben die Temperatur im Innern des Autos nicht spürbar senken können, und so hat Renate keine Bedenken, hier auch ohne eine Decke schlafen zu können. Sie stellt Fahrer- und Beifahrersitz in die vorderste Position, will auf der Rückbank schlafen. Die Stofftasche rollt sie zu einem Kopfkissen zusammen, das große Handtuch kann sie notfalls benutzen, sollte es ihr doch zu kalt werden. Da sie in der Nähe keinen Menschen vermutet, verspürt sie auch keine Angst. Sie verschließt die Autotüren von innen, öffnet das Fenster auf der Fahrerseite einen Spalt weit.

Das Schwimmen und der Wein haben sie so ermüdet, dass sie schnell einschläft. So bemerkt sie das Auto nicht, das sich gegen Mitternacht den drei Häusern nähert. Die Detonationen der Gasflaschen, etwa eine Stunde später, können Renate Wolzow auch nicht mehr aufwecken.

Morina

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