Читать книгу Morina - Reiner Kotulla - Страница 7
Vier
ОглавлениеEr packt die notwendigen Sachen für seinen Vater zusammen. Früh war er wach geworden, wie immer, wenn sein Interesse an einer Sache geweckt ist. Im Gefrierschrank findet er eingefrorene Brötchen. Butter, Salz und Kaffee vervollständigen sein Frühstück.
Er betritt den Friseursalon und schaut sich suchend um. Noch ist kein Kunde im Geschäft. „Was kann ich für Sie tun?“ Ein Mann, etwa in seinem Alter, steht vor ihm, schaut ihn erwartungsvoll an.
„Ich möchte mir gerne die Wohnung ansehen.“
„Kein Problem, ich gebe Ihnen den Schlüssel, die Wohnung ist im dritten Stock, Sie finden sich sicher alleine zurecht.“ Er drückt ihm den Schlüssel in die Hand und wendet sich dem ersten Kunden zu, der soeben den Laden betritt.
Schwarzadlergasse, Ecke Fischmarkt. Ein historisches Gebäude, liest er: Dieses Haus war von 1606 bis 1690 Rathaus der Reichsstadt Wetzlar. Von 1693 bis 1806 Sitz und ab 1756 Kanzlei des Reichskammergerichtes. So steht es auf einer Tafel, die in die Hauswand eingelassen ist. Er weiß, dass Goethe hier von Mai bis September 1772 als Rechtspraktikant am Reichskammergericht gearbeitet hat.
„In dieser Zeit lernte er Charlotte Buff kennen.“
Erklärt gerade ein Mann seiner Begleiterin, beide offensichtlich Touristen, Videokamera umgehängt und Reiseführer in der Hand. Er fährt fort: „Als Goethe sich in sie verliebte, war sie bereits vier Jahre mit dem hannoverschen Legationssekretär Johann Christian Kestner verlobt. Die unerfüllte Liebe zu ihr machte sie zum Vorbild der Lotte im Werther, der zwei Jahre später erschien. Auch der Selbstmord Werthers hatte einen realen biografischen Hintergrund: Der braunschweigische Legationssekretär Karl Wilhelm Jerusalem hatte sich in der Nacht vom 29. auf den 30. Oktober umgebracht, vornehmlich wegen seiner Liebe zur Ehefrau des pfälzischen Legationssekretärs. Goethe selbst wohnte Am Kornmarkt Nr. 11, zu Fuß in etwa fünf Minuten von hier zu erreichen.“
Ein gutes Training, denkt Alexander, als er die schmale Treppe bewältigt hat und die Wohnungstür aufschließt. Dahinter liegt ein nicht sehr breiter Flur. Eine Tür führt geradewegs in die Küche. Von hier aus gelangt man linker Hand in das Bad. Rechts der Küche schließt sich ein großer Wohnraum an. Vom Bad, von der Küche und von diesem Raum aus schaut man hinunter auf die Schwarzadlergasse.
Durch eine Verbindungstür kommt er in einen kleineren Raum, vielleicht ein Schlafzimmer, und wiederum durch eine Verbindungstür in ein zweites, ebenso großes Zimmer. Durch die Fenster dieser Räume sieht er hinunter auf den Fischmarkt.
Gegenüber steht das Stadthaus Am Dom mit dem Bistro im Erdgeschoss. Am Stadthaus vorbei der Dom und der namensgleiche Platz.
Die Anordnung der Räume innerhalb eines Rechtecks und ihre verbindenden Türen ermöglichen einen Rundgang – Flur, Küche, großer Wohnraum, Schlafzimmer, kleines Zimmer, Flur.
Alexander ist begeistert. Als er die Treppe hinuntersteigt, nimmt er sich vor, diese Begeisterung nicht zu zeigen, wenn es um die Höhe der Miete geht. Er weiß von sich, dass er kein Händler ist, dass es ihm schwerfällt zu versuchen, einen Preis zu drücken. Dieses Mal will er es versuchen. Coole Miene, als er den Friseursalon betritt.
„Und, gefällt sie Ihnen?“ „Ja, ganz gut, aber die Miete.“ „Was sind Sie von Beruf?“
Alexander erkennt seine Chance. „Ich bin Schriftsteller“, und damit der Mann nicht auf die Idee kommt, er könne die Miete nicht bezahlen, ergänzt er, „ich war Journalist, habe etwas zusammengespart und denke, dass ich davon etwa ein Jahr leben kann, wenn, ja wenn Sie mir mit dem Mietzins etwas entgegenkommen können.“
„Ihre Offenheit gefällt mir, sagen wir fünfhundert Euro.“
Der Mann hält ihm die Hand entgegen. Alexander schlägt ein.
„Haben Sie heute Nachmittag noch einen Termin frei, denn ich glaube, zu der neuen Wohnung gehört auch eine neue Frisur?“
„Wenn Ihnen siebzehn Uhr recht ist? Dann können wir auch gleich den Mietvertrag machen.“
Alexander ist einverstanden, nennt seinen Namen, grüßt und verlässt den Salon. Er geht um die Ecke, in die Weißadlergasse, holt die Sachen für seinen Vater und macht sich auf den Weg nach Dillenburg. Sein Vater ist wach, als er das Zimmer betritt, und macht heute schon einen besseren Eindruck. Alexander wickelt die Blumen aus, schaut sich nach einer Vase um. „Draußen, im Flur. Schön, dass du mir Blumen mitgebracht hast, auch Männer mögen Blumen, mich stimmen sie optimistisch.“
Alexander geht raus, findet aber keine Vase, geht ins Stationszimmer. Die Krankenpflegerin steht vor einem Schrank, sucht anscheinend nach einem Medikament. Alexander schaut, lässt sich Zeit, bevor er sich bemerkbar macht. Tiefschwarzes Haar, wahrscheinlich sehr lang, zu einem dicken Zopf geflochten. Sie trägt Hosen und darunter, so vermutet er, eine dieser zurzeit modernen Unterhosen, sodass ihr Hintern detailgetreu abgebildet wird. Menschen spüren den Blick im Rücken, und so dreht sie sich um. Toll denkt er noch, als sie ihn fragend anschaut.
„Ich suche eine Vase, für meinen Vater, ich meine, für die Blumen, also, ich habe meinem Vater ...“ – sie lacht. „Im Flur, gleich gegenüber dieser Tür ist ein Wandschrank, dort finden Sie Vasen.“
Er dreht sich um, sucht den Schrank, als sie noch sagt: „Schön, wenn Männer Männern Blumen schenken, aber jetzt lassen Sie mich bitte vorbei, ich habe noch zu tun.“
Er findet den Wandschrank und auch ein passendes Gefäß. „Wer ist denn diese hübsche Krankenschwester?“
„Hübsch ist untertrieben, wenn du Tamara meinst?“
„Wenn sie tiefschwarzes Haar hat, dann meine ich Tamara.“
Alexander stellt die Blumen in die Vase und diese auf den Tisch, der sich unter dem in einem Wandregal aufgestellten Fernsehgerät befindet. Er nimmt einen Stuhl und setzt sich neben das Bett. „Erinnere mich daran, dass ich die Sachen auspacke, bevor ich gehe. Aber bitte berichte, wie es dir geht.“
„Schon besser, aber ich werde wohl noch ein paar Tage hierbleiben müssen. Ist alles in Ordnung mit meiner Wohnung?“ wechselt er das Thema. Alexander weiß, dass sein Vater kein wehleidiger Mensch ist. Anders als Männer allgemein lässt er es sich nicht gerne anmerken, wenn mit seiner Gesundheit etwas nicht in Ordnung ist. Seltsam findet er es schon, dass Männer, die sich sonst gern als hartgesotten darstellen, gegenüber ihren Partnern zimperlich erscheinen. Vielleicht brauchen sie diese Nische als Ausgleich für den Stress des beruflichen Konkurrenzkampfes. Das wäre eine Untersuchung wert, im Vergleich dazu natürlich auch eine bei berufstätigen Frauen.
Alexander bestätigt, dass mit der Wohnung seines Vaters alles in Ordnung sei, will nun seinerseits das Thema wechseln, weiß aber nicht, wie er anfangen soll. Deshalb beginnt er am Schluss. „Ich habe eine Wohnung gefunden, ganz in der Nähe deiner Behausung.“
Sein Vater schaut ihn verdutzt an. „Ich wusste gar nicht, dass du eine Wohnung suchst.“
„So genau wusste ich das bisher auch nicht, aber als ich gestern Abend noch auf ein Bier ins Bistro gegangen bin, sah ich im Schaufenster des Friseursalons, in der Schwarzadlergasse, eine Anzeige. Heute Morgen habe ich mir die Wohnung angesehen.“
„Wo, sagst du, ist die Wohnung?“
„Im dritten Obergeschoss des Hauses, das früher das Rathaus und das Reichskammergericht beherbergte.“
„Dann kenne ich diese Wohnung und den Vormieter ebenfalls. Du hast mir aber immer noch nicht gesagt, warum du nach Wetzlar umziehen willst.“
Alexander überlegt, möchte aber im Moment keine umfassende Erklärung abgeben. „Ich habe mich von Erika getrennt oder besser, sie sich von mir, wie auch immer. Das Siegerland, und jetzt übertreibe ich ein wenig, dieses große Freilichtmuseum im Verbund mit dem Sauerland, ist mir nicht zur Heimat geworden. Mehr möchte ich im Augenblick zu den Ursachen nicht sagen. Über den Anlass, nach Wetzlar zu ziehen, ist schnell berichtet. Es gab gestern drei Begebenheiten, die mich zu dem Entschluss kommen ließen, nach Wetzlar zu wechseln. Du weißt, ich glaube nicht an Zufälle.
Zuerst sah ich die Wohnungsanzeige. Später im Bistro, las ich in der Regionalzeitung einen Nachrichtenartikel, der den Erzählkern für einen Roman bilden könnte. Du weißt, dass ich beruflich nicht gebunden bin. Ich habe so viel Geld gespart, dass ich ein Jahr davon leben kann, und ich denke, dass ich ein Jahr brauchen werde, um dieses Buch zu schreiben, mein schon lange gehegter Wunsch.“
Peter schaut seinen Sohn an, will nicht weiter in ihn dringen, weiß, dass Alexander irgendwann mehr erzählen wird. „Wie hoch ist die Miete?“
„Der Vermieter wollte 560,– Euro. Ich konnte ihn auf 500,– herunterhandeln. Bei der Gelegenheit habe ich auch gleich einen Friseur gefunden.“
„Wann willst du umziehen?“
„Ich denke, dass ich heute noch nach Siegen fahren werde, um mit den Vorbereitungen zu beginnen.“
„Nun, Alexander, dann mach dich mal auf den Weg.“
Schon sehr bald wird Alexander Fabuschewski erfahren, dass nicht nur das Siegerland ein großes Freilichtmuseum sein kann.