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Acht

Mühlberg informierte sie darüber, dass man zum Befahren der Lahn mit einem Floß eine Genehmigung des Wasser- und Schifffahrtsamtes Koblenz benötige. Daran hätten sie überhaupt nicht gedacht, gaben sie zu. Mühlberg erklärte sich bereit, die Sache zu übernehmen und notierte sich sofort die dazu notwendigen Daten. Er kenne dort jemanden, noch aus seiner Bundeswehrzeit, meinte er.

Das Regattafest begann mit der üblichen Regatta und mündete nach der Siegerehrung in einen gemütlichen Abend mit Tanz und Unterhaltung. Etwas am Rande, doch nicht ganz unbeachtet, fand die Floßtaufe statt. Die Gattin des Vorsitzenden persönlich warf die obligatorische Sektflasche gegen das vordere rechte Ölfass, das den einen Namenszug des Gefährtes trug: „Charlene“.

Am Abend zuvor erst war ihnen aufgefallen, dass zur Taufe auch ein Name gehörte. Es wurde hin und her überlegt, bis sich beide Männer darin einig waren, einer alten Tradition folgend, das Schiff nach der Liebsten zu benennen. Simones Einwand, dass es sich da meistens um recht schlanke Wasserfahrzeuge gehandelt hätte, das Floß aber eher korpulent wirke, brachte sie alle zum Lachen, konnte Alexander und Volker aber nicht von ihrem Entschluss abbringen. Eine Runde Kartenspiel sollte die Entscheidung für einen Namen herbeiführen. Sie einigten sich auf Rommé, weil dieses das einzige Spiel war, welches sie alle kannten. Da es aber von diesem Spiel viele von Regeln gibt, legten sie diese zuerst fest. Der Gewinner sollte den Namen des Floßes bestimmen dürfen. Es sollte solange gespielt werden, bis einer der beiden Männer ein Spiel gewann. Zunächst gewann Simone, dann Charlene und schließlich Volker. Da hatte Charlene die rettende Idee. „Also, genaugenommen besteht unser Floß ja aus zwei Schwimmteilen. Warum soll es dann nicht auch zwei Namen tragen?“

Gesagt, getan, rechts „Charlene“ und links „Simone“.

Der Frau des Vereinsvorsitzenden wurde, was die Seite, auf die sie die Flasche werfen wollte, betraf, die Wahl überlassen. Im Logbuch, das Alexander angelegt hatte, trug er als Namen „Charlene-Simone“ ein.

Nach dem Wunsch des Vereinsvorsitzenden: „Und allzeit eine Handbreit Wasser unter den Tonnen“, trat Volker vor und erhob seine Stimme: „Lasst mich bitte dem Ganzen einen würdigen literarischen Rahmen geben.“ Woraufhin eine gespannte Stille eintrat.

„Frühlingserwachen, von Jürgen Roth“, begann er.

„Fängt die Kuh zu bellen an,

Ist der Hahn am Euter dran.

Kotzt der Frosch die Aue voll,

Weilt der Storch noch am Atoll.

Lacht der Bussard in der Luft,

Beschimpft der Fink die Maus als Schuft.

Haut der Hecht die Flunder platt,

Setzt das Reh den Fuchs schachmatt.

Brummt die Biene durch die Stube,

Drückt der Kater auf die Tube.

Fällt der Feldsalat vom Baum,

Hält’s der Bauer für ’nen Traum.

Wälzen Welse sich am Boden,

Hechten Hunde nach den Hoden.

Fläzt die Kröte feist im Schlamm,

Nimmt Papi gleich die Mutter ran.

Holt der Hengst den Hammer raus,

Spendet ihm die Magd Applaus.

Frühling ist’s, es kräht und sprießt,

Denk freudig dran, wenn’s wieder gießt.“

Man sah nur heitere Gesichter, dann wurde geklatscht.

In dem Augenblick, als ihr Floß von mehreren Händen zu Wasser geschoben wurde, hatte Alexander eine Idee, die er noch in der Nacht, als sie, nachdem alle Gäste gegangen waren, unter dem Vordach ihres Zeltes saßen, preisgab. „Was haltet ihr davon, wenn ich euch an den Abenden, an denen wir nichts Besseres vorhaben, aus meinen neuen Texten vorlese?“

Alle drei stimmten sie sofort zu, und Charlene fragte, ob er denn, auch wenn es schon sehr spät sei und sie erst morgen starten würden, nicht schon heute damit beginnen könnte.

„Klar, Alexander, und außerdem ist ja jetzt schon morgen.“

Das Floß hatten sie an den aus einem Holzsteg bestehenden Uferteil, der sich unterhalb des Klubhauses befand, geschoben und dort mit Seilen befestigt, sodass sie am Morgen nur die Seile lösen mussten und die Reise beginnen konnte.

Alexander hatte sein Manuskriptbuch aus dem Zelt geholt. Auf dem Tisch stand noch eine volle Sektflasche in ausreichendem Abstand zur wärmenden Campinggaslampe.

„Marijana, so heißt die Geschichte“, begann er und fuhr sogleich fort:

Kleines Dorf im Weilburgschen. Die Glocke des kleinen Kirchleins läutet eher fröhlich, beschwingt.

Die Menschen, schwarz gekleidet, mit Gesangbüchern in den Händen, streben dem an einem Berghang liegenden Friedhof zu. Ein grauer Oktobersamstag, einer von diesen Tagen, an denen man nicht weiß, regnet es oder ist es der Nebel, der die Gesichtshaut nass werden lässt.

Traurige, in sich versunkene Augen schauen auf den Sarg.

Jemand hält eine Rede, deren Worte ich kaum vernehmen kann. Ich bin mir auch nicht sicher, hätte ich sie gehört, ob ich sie auch verstanden hätte.

Dann der Chor: „Wenn du gehst, gehst du mit mir“. Das verstehe ich, kenne die tragische Geschichte.

.

***

Ich hatte mich im Hotel Golfo di Arzachena eingemietet. Cannigione, eine kleine Stadt, die zur Kommune von Arzachena gehört, war zu früheren Zeiten ein Fischerdorf gewesen. Heute verdienen die meisten Einwohner ihr Geld durch den Tourismus, der hier von Ende April bis Mitte Oktober das Leben beherrscht. Am eigentlichen Ortsausgang, wie an einen Berghang angelehnt, steht die Herberge. Vor ihr dehnt sich ein Parkgelände aus, auf dessen anderer Seite die Bebauung der Hänge in den letzten Jahren stark zugenommen hat. Bedingt durch die hier herrschenden Bauvorschriften, die das Bauen nur bis zu einer bestimmten Höhe und die Architektur der Häuser auf den traditionellen Stil Nordsardiniens festlegen, ist die eigentliche Stadtgrenze nicht mehr erkennbar. Diese Details hatte ich von Peter erfahren, den ich am Strand, der sich etwa einhundert Meter unterhalb meines Hotels befindet, kennengelernt hatte. Zu Hause hatte ich mir vorgenommen, viel zu schwimmen und zu wandern, wollte zu mir selbst finden in diesem Urlaub.

Morgens, nach dem Frühstück, ging ich regelmäßig, nur mit Bikini und Jogginganzug bekleidet, hinunter an den Strand. Dort legte ich Hose, Jacke und Handtuch in den Sand, stieg ins Wasser und schwamm so weit ich konnte, natürlich den Rückweg einkalkulierend, hinaus.

Wenn ich dann zurückkam, war ich erschöpft, fühlte mich aber trotzdem sehr wohl.

Eine Zeit lang noch blieb ich dann am Strand sitzen, schaute einfach nur hinaus auf den Golfo di Arzachena und zur Bergkette auf der gegenüberliegenden Golfseite. An meinem fünften Urlaubstag, es war ein Donnerstag, saß, als ich zurückkam, ein Mann neben meinen Sachen, schaute mich an, als ob er auf mich gewartet hätte.

Ich beobachte Sie schon seit zwei Tagen, und da wollte ich sehen, wer da mit einer solchen Regelmäßigkeit Frühsport betreibt.“

Ich hatte nicht die Absicht, in diesem Urlaub Bekanntschaften zu machen, wollte allein sein, um in aller Ruhe auch über meine Beziehung zu Dieter nachdenken zu können. Ehrlichkeit dachte ich, vielleicht wirkt sie? „Wissen Sie, ich bin hierhergekommen, um meine Ruhe zu haben. Ich habe nicht die Absicht, jemanden kennenzulernen.“

Ich schätzte den Mann auf Ende dreißig. Er war schlank, sah aber nicht besonders sportlich aus. „Entschuldigen Sie bitte. Ich will Sie nicht anmachen, respektiere Ihre Absicht. Will dann auch nicht weiter stören.“

Er erhob sich und wandte sich zum Gehen. Dann drehte er sich noch einmal zu mir um. „Ich wohne in der Nähe, und, wie gesagt, beobachte ich Sie seit vorgestern. Ich denke, dass auch mir ein wenig sportliche Betätigung sicher gut täte.“ Dabei schaute er an sich herunter und, so glaubte ich es zu bemerken, streckte demonstrativ seinen Bauch ein wenig hervor.

Wenn Sie meinen“, sagte ich, blieb sitzen und schaute aufs Meer hinaus, obwohl ich jetzt gerne zum Hotel zurückgegangen wäre.

Dann, als er außer Sichtweite war, zog ich mir im Sitzen die Bikinihose aus und die Jogginghose an. Desgleichen verfuhr ich mit dem Oberteil. Ich ging auf mein Zimmer, duschte und zog mich an.

Mit einem Buch unter dem Arm lief ich hinunter in die Hotelhalle und durch einen Seitenausgang hinaus in den hoteleigenen Park. Hier standen einige Pinien, die, so nahm ich an, so beschnitten worden waren, dass sie über einem circa acht Meter hohen Stamm eine breit ausladende Krone bildeten, ein Dach oder besser einen großen, natürlichen Sonnenschirm. Um den Stamm herum standen einige bequeme Liegen, deren Sitzpositionen variabel einstellbar waren. Ich setzte mich, begann zu lesen, fand aber nicht die nötige Ruhe dazu. Immer wieder wanderten meine Gedanken nach Hause nach Weilburg an der Lahn.

Ich war gerade zweiundvierzig Jahre alt geworden, arbeitete bei einer Versicherung und engagierte mich in meiner Freizeit auch politisch. Ich musste lächeln, weil ich gerade im sogenannten Bewerbungsstil dachte, bin aber froh, dass mich niemand dabei beobachtete. Ich war hier draußen alleine und genoss es, dass die großen Touristenströme jetzt im September bereits versiegt waren.

Die zu dieser Zeit hier herrschende Temperatur wie auch das Wetter überhaupt kamen einem schönen deutschen Sommer nahe. Aber auch in der Gallura, so heißt die Landschaft im Norden Sardiniens, wo überwiegend Granitsteinbrüche die industriellen Ansiedlungen bilden, ist die Natur nicht mehr in heiler Ordnung.

Einer Hotelangestellten hatte ich darüber berichtet, dass mir beim Schwimmen wiederholt Feuerquallen, Medusen, wie man hier sagt, begegnet waren. Die Frau hatte eine bedauernde Geste gemacht und erklärt, dass man die hier noch vor einigen Jahren nicht gekannt habe. Auch im hiesigen Meer ist also das Gleichgewicht der Natur gestört, dachte ich.

Einen Mann am Nachbartisch hörte ich während des gestrigen Abendessens darüber berichten, dass im vergangenen August städtische Arbeiter Feuerquallen eimerweise davongetragen hätten. Als ich das hörte, dachte ich daran, dass ich mich zu Hause schon oft an Protestaktionen beteiligt hatte, die gegen die Zerstörung unserer natürlichen Umwelt gerichtet waren. All das ging mir durch den Kopf und mir fiel auf, dass ich wieder nicht konkret über meine derzeitigen Probleme nachdachte, was ich doch eigentlich wollte, als ich das Buch zur Seite gelegt hatte.

Jetzt stellte sich Bewegungsdrang ein. Warum nicht, dachte ich, stand auf und ging auf mein Zimmer. Ich zog Jeans, T-Shirt und feste Schuhe an und machte mich auf den Weg. Ich war dabei, eine Strecke über die Berge nach Arzachena zu erkunden und schon ein gutes Stück vorangekommen. Ich benötigte heute etwa eine Stunde, um das Ende des bereits gelaufenen Abschnitts zu erreichen. Dann wandte ich mich weiter in westlicher Richtung und erreichte bald einen Bergrücken, von dem aus ich hinunter ins Tal und bis nach Arzachena blicken konnte. Ich markierte meinen Standort, indem ich auf einen größeren Felsen einige Steine legte, damit ich den Ort beim nächsten Gang wiedererkennen könnte. Nun trat ich den Rückweg an. Nach insgesamt zwei Stunden, die Pausen eingerechnet, kehrte ich wieder zum Hotel zurück. Ich zog mich vollständig aus und legte mich sofort in mein Bett, so erschöpft war ich, und schlief auch direkt ein.

Als ich wach wurde, erinnerte ich mich daran, dass ich heute in einem Restaurant am Hafen zu Abend essen beabsichtigte. Ich öffnete alle Fenster, genoss die frische Luft, die vom Golfo herübergeweht wurde. Dann unter die Dusche. Zuerst eine Weile kaltes Wasser, dann Warmes, schließlich ein Wechsel von beidem, und schon fühlte ich mich wie neu geboren. Ich wählte ein leichtes Sommerkleid, in dessen Muster die Farbe rot vorherrschte. Mein Haar kämmte ich glatt nach hinten und hielt es mithilfe eines Gummirings zusammen. Fertig, dachte ich, betrachtete noch einmal die Gesamterscheinung im großen Spiegel, war mit mir zufrieden und verließ das Zimmer.

Im Café del Porto setzte ich mich an die Straße, nahm einen Espresso und beobachtete die Hafenarbeiter, die damit beschäftigt waren, die Jachten der Reichen winterfest zu machen. Große Boote, denen man ihre Schnelligkeit ansah. Nicht mein Fall, aber das Segeln würde mir bestimmt gefallen. Eine Segelreise um Sardinien und Korsika herum, mit der Übernachtungsmöglichkeit an Bord, stellte ich mir recht romantisch vor.

Jetzt blickte ich auf meine Uhr, acht, also Zeit zum Abendessen. Das Restaurant befand sich direkt neben dem Café. Schnell fand ich einen freien Tisch, denn das Lokal war noch nicht stark besetzt. Ich setzte mich aus Gewohnheit so, dass ich sowohl einen Überblick über den Gastraum als auch eine Aussicht auf das Hafengelände hatte. Kaum dass ich saß, betraten zwei Männer das Restaurant, von denen ich den einen sofort erkannte. Es war der Mann vom Strand, den ich hatte abblitzen lassen. Sein Begleiter war ein elegant gekleideter Herr. Äußerlich spiegelten die beiden einen starken Kontrast wider, der eine im schwarzen Nadelstreifenanzug mit Oberhemd und Krawatte und der andere mit Jeans, T-Shirt und offenem Hemd über der Hose bekleidet. Der mir bekannte Mann hatte mich wohl noch nicht gesehen, schien sich ausschließlich auf seinen Begleiter zu konzentrieren. Sie setzten sich an einen Tisch in meiner Nähe, jedoch versperrte mir eine Säule die Sicht auf einen Teil ihres Tisches. So sah ich lediglich den elegant Gekleideten.

Jetzt sprach mich der Ober an, und ich bestellte mir zunächst ein Getränk, einen Weißen aus der Gallura, der Region im Norden Sardiniens. Danach das Menü des Tages, ich wollte mich überraschen lassen.

Ich trank von dem Wein und hing meinen Gedanken nach, die sofort und schneller als in Windeseile die zweitausend Kilometer überwanden, die mich von meinem Zuhause und damit von Dieter trennten. Etwas stimmte nicht mehr mit unserer Beziehung, und das schon eine ganze Zeit lang. Dieter war seit einiger Zeit extrem eifersüchtig geworden, und das ohne jeglichen realen Grund, wie ich das wusste. Fünfzehn Jahre waren wir jetzt schon zusammen, geheiratet haben wir nicht. Ich gebe zu, dass ich die Aktivere und oft auch Bestimmende in unserer Beziehung bin. Bei meinen Aktivitäten hatte ich es auch immer mit Menschen zu tun, denn Politik ist etwas, was Menschen entweder miteinander oder gegeneinander betreiben. Natürlich lernte ich bei der Arbeit auch Männer kennen, ging mit ihnen aber nicht ins Bett, was Dieter aber oft vermutet hatte. Er glaubte mir nicht, wenn ich beteuerte, dass dem nicht so sei.“

„Sardinien scheint dir ja nicht aus dem Kopf zu gehen“, sagte Simone in die Stille hinein, die andauerte, auch nachdem er zu lesen aufgehört hatte. „Ihr müsst wissen“, sagte sie zu den anderen gewandt, „dort ist er mit meiner Vorgängerin gewesen.“

„Sie meint Renate, eine Freundin meines Vaters, die mich, weil der einen Unfall gehabt hatte, zu einer Reise dorthin eingeladen hatte.“

„Von wegen, Freundin seines Vaters.“ Mehr sagte sie nicht, und auch Charlene und Volker enthielten sich eines weiteren Kommentars. Eine Zeit lang sagte keiner etwas.

Gerade wollte Alexander sagen, dass das mit dem Vorlesen wohl keine so gute Idee sei, als Simone ihn anschaute und sich bei im entschuldigte. Ihr ginge es heute nicht so gut, ihre Tage, er wisse schon. Und ob er das wusste. Krampfartige Bauchschmerzen plagten sie jedes Mal. Wenn sie einmal Kinder hätte, gäbe sich das, hatte der Arzt gesagt.

„Und, Alexander, ich bin auf den Fortgang der Story gespannt.“

Die anderen pflichteten ihr bei.

Marijana

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