Читать книгу Marijana - Reiner Kotulla - Страница 5

Оглавление

Zwei

Alexanders Wohnung befand sich in der ersten Etage eines Hauses in der Weißadlergasse. Er stieg die Treppe hoch. Vom Flur aus gelangte man rechter Hand zuerst in die Küche, die zweite Tür führte ins Wohnzimmer. Von der Küche und dem Wohnzimmer aus blickte man hinunter auf die Weißadlergasse. Vom Flur aus linker Hand kam man ins Schlafzimmer und in das Arbeitszimmer. Von hier aus schaute man in einen Hof und auf andere Häuser in Richtung Dom, den man aber nicht sehen konnte.

Er ging zuerst in die Küche, holte sich aus der Vorratskammer eine Flasche Bier, lief zurück ins Wohnzimmer, öffnete beide Fenster und setzte sich in einen Sessel, der gegenüber des einen Fensters stand. Simone war noch nicht zu Hause. Er wollte nachdenken, hatte noch keine Idee für einen neuen Roman. Und wie das so ist mit den Ideen, man hat sie oft dann nicht, wenn man sie braucht. Doch dann, unvermutet, als das Ergebnis sich kreuzender Gedankengänge, erscheinen sie, wie aus dem Nichts. Jedoch nur dann, wenn man denkt. Alexander überlegte, was er kochen könnte. Und plötzlich, wie gesagt, aus dem Nichts, taucht sie auf, die Erinnerung an schöne Tage in Straßburg. Eine Reportage über das Europaparlament hatte er schreiben sollen, und Sylvia war als Fotografin mitgefahren. Woher sie die Fotos dann letztendlich hatte, war Alexander ein Rätsel geblieben. Er jedenfalls hatte den Artikel erst geschrieben, als sie schon wieder zu Hause gewesen waren. Die nötigen Informationen stammten aus dem Internet.

In Straßburg hatten sie das Hotel nicht verlassen und das gemeinsame Zimmer beziehungsweise das Bett nur zum Essen. An einem Abend hatte sie aus der Speisekarte Elsässer Flammkuchen gewählt. Der hatte ihnen so gut geschmeckt, dass er nach dem Rezept gefragt hatte. Der Zettel musste noch in seinen alten Unterlagen zu finden sein. Bald fand er den Ordner und in ihm den Zettel. Zuerst der Einkauf. Er benötigte Dörrfleisch, saure Sahne und Schmand, Zwiebeln, Salz, Knoblauch und Brotteig.

Den Brotteig bekam er erst in der dritten Bäckerei am Schillerplatz. Er hätte natürlich den Teig auch selbst herstellen können, doch in gewisser Weise neigte Alexander Fabuschewski zur Bequemlichkeit, und weil er beides schon einmal ausprobiert hatte, war er der Ansicht, dass der Brotteig aus einer Bäckerei vom Geschmack her besser geeignet war, als der selbst hergestellte.

Wieder zu Hause angekommen, begann er sofort mit den Vorbereitungen. Das Backblech bestrich er mit Olivenöl, heizte den Ofen auf zweihundert Grad vor, rollte den Teig auf Mehl aus, legte ihn auf das Blech und passte ihn dessen Form an. Das Dörrfleisch schnitt er in möglichst dünne Scheiben und die Zwiebeln in Ringe. Die saure Sahne mit Schmand und Käseresten, mit Knoblauch, Salz und Schnittlauch vermischt, verteilte er gleichmäßig auf den Teig im Backblech, belegte die Fläche mit den Zwiebelringen und dem Dörrfleisch. Jetzt drosselte er die Temperatur im Backofen auf hundertsiebzig Grad und schob das Blech hinein. Er rechnete mit einer knappen Stunde an Backzeit.

Bereits nach den ersten Bissen lobten alle seine Kochkunst. „Manchmal frage ich mich, warum ich eigentlich schreibe.“

Volker schaute ihn verwundert an. „Schreibst du nicht, um Geld zu verdienen?“

„Das auch, Volker, aber fragt sich denn nicht jeder irgendwann, warum er diese oder jene Arbeit macht?“

„Natürlich, da hast du recht. Auch ich überlege manchmal, schon während meines Unterrichts, ob die, die da vor mir sitzen, überhaupt etwas lernen wollen. Und oft glaube ich, diese Frage mit einem glatten Nein beantworten zu können. Da frage ich mich natürlich, warum ich das überhaupt tue.“

„Genau, Volker, so habe ich das gemeint.“

Simone und Charlene hatten bisher nur zugehört. Jetzt mischte sich Simone ein. „Also, ich stelle mir die Frage in dieser Weise nicht. Ich lerne, um ein bestimmtes Ziel erreichen zu können.“

„Genauso geht es mir auch, Simone“, bestätigte Charlene.

Es entstand eine Pause. Alexander dachte über das nach, was die beiden Frauen gesagt hatten. „Ihr seid in einer anderen Situation, weil ihr euer Berufsziel noch nicht erreicht habt.“

„Doch, Alexander, nur stelle ich mir die Frage anders. Ich frage mich manchmal, warum ich dieses oder jenes überhaupt lernen muss.“

„Sicher, Charlene, das frage ich mich auch manchmal, aber zu deiner Frage, Alexander, hast du darauf schon eine Antwort gefunden?“

„Nein, ihr seid aber Leserinnen. Mich interessiert schon, warum ihr lest.“

„Das kommt darauf an, was ich lese“, wandte Charlene ein.

„Ich verstehe, Sachbücher, um zu lernen, aber warum liest du einen Roman?“

„Einfach nur so, um mich zu unterhalten.“

„Nur darum?“

„Ja, manchmal nur darum.“

„Und die anderen Male?“

„Wenn ich jetzt sage, auch um etwas zu lernen, dann klingt das vielleicht doch etwas blöd, aber ich meine da eine andere Art zu lernen. Im Moment fällt mir aber kein Beispiel dazu ein.“ Wieder entstand eine Pause.

„Ich will es versuchen. Wir sind beim Essen. Vielleicht ein Beispiel dazu.“ Alexander hatte Messer und Gabel auf seinen Teller gelegt, aus dem Weinglas getrunken, den Stuhl ein wenig nach hinten geschoben und seine Beine übereinandergeschlagen. „Vor Kurzem saß ich im Einkaufszentrum Forum in einem der Cafés. An einem Tisch, mir gegenüber, saßen vier Männer, alle so um die dreißig. Sie aßen, und ihre Essweise unterschied sich nur darin, dass sich ihre Köpfe beim Aufnehmen der Speise in unterschiedlicher Höhe zum Teller befanden. Alle vier benutzten nur die Gabel, die sie in der rechten Hand hielten, etwa so, wie man einen Hammer hält. Ihren linken Unterarm hatten sie komplett auf den Tisch gelegt, wie um ihren Teller vor fremdem Zugriff zu schützen. Nur einer der Männer löste beim zum Mundführen der Gabel seinen rechten Ellenbogen von der Tischplatte. Ihr versteht, was ich meine?“

„Sie saßen also etwa so“, sagte Volker und versuchte die von Alexander beschriebene Sitzhaltung nachzuahmen.

„Genau so, Volker.“

„Jetzt komm schon zur Sache, Alex.“ Simone schien ungeduldig zu werden.

„Da bin ich doch die ganze Zeit. Wenn ich das so beschreibe, was will ich erreichen, wenn ich diese Art zu essen einer Person meiner Handlung zuordne?“

„Ich denke, sie soll dem Leser unsympathisch erscheinen.“

„Und wenn der Leser auf dieselbe Weise isst?“

Jetzt ergriff Charlene das Wort. „Na ja, die Art zu essen wird ja nicht das einzige Charaktermerkmal sein, mit dem du beim Leser eine Antipathie gegen die Person erzeugen willst.“

„Jetzt verstehe ich, was du meinst, Alexander. Du machst die Person, indem du ihre Tischsitten beschreibst, in den Augen der Leser zum Kotzbrocken. Der Leser oder die Leserin, die in gleicher Weise die Gabel zum Mund führt, soll sich deinen Hinweis zu Herzen nehmen und sofort bei der Volkshochschule einen Kurs buchen: ‚Wie gebrauche ich beim Essen Messer und Gabel richtig‘. Sie hat also beim Lesen deines Romans etwas gelernt.“

Alexander kannte Simone, was ihre Art, die Ironie zu gebrauchen, betraf, recht gut. Also ging er darauf ein.

„Genau, Simone, so meine ich das. Und was deinen Freund Goethe betrifft“, Alexander spielte auf eine Arbeit an, die Simone im Fach Deutsch an ihrer Schule gefertigt hatte, „ist ja bekannt, dass der eine politisch operative Funktion der Literatur ablehnte. Diese sollte nicht, wie er sich ausdrückte, zu einem unmittelbaren, irdischen Zwecke, sondern zu einem höheren, geistigen, allgemeinen Zweck dienen.“

Charlene und Volker blickten eher skeptisch drein. Dann sagte Volker, indem er darauf einging: „Sie hörten ein Gespräch zum Thema ‚die Literatur als Lebenshilfe‘.“

„Im Ernst, Volker, ich denke schon, dass man auch aus einem unterhaltsamen Text etwas lernen kann.“

„Vielleicht, Alexander.“ Eine Zeit lang schwiegen alle, und es hatte den Anschein, dass sich keiner mehr zu dem Thema äußern wollte. Gemeinsam hatten sie abgeräumt, das Geschirr in die Spülmaschine gestellt. Jetzt saßen sie im Wohnzimmer. Alexander hatte eine Flasche geöffnet. Simone berichtete von einem Film, den sie im Fernsehen gesehen und der sie beeindruckt hatte. Ein alter Mann, schon recht gebrechlich, erfährt, dass sein Bruder, den er schon Jahre nicht mehr gesehen hat, einen Schlaganfall erlitten hätte. Im Streit seien sie seinerzeit auseinandergegangen.

„Ohne dass viel gesprochen wird, merkt der Zuschauer bald, dass der Mann eine Reise zu seinem Bruder plant. Zuerst sieht man ihn auf seinem Rasentraktor sitzend Gras mähen. Dann schraubt er an einem Einachser Anhänger herum, konstruiert eine Dachverkleidung. Der Zuschauer erkennt, dass der Mann vorhat, mithilfe des Rasentraktors und angekuppeltem Anhänger, seinen Bruder zu besuchen. Durch ein Gespräch zwischen dem Alten und einem Freund wird deutlich, dass es sich um eine lange Reise über mehr als eintausend Kilometer handelt. Alle Warnungen in den Wind schlagend, macht der Alte sich schließlich auf den Weg. Allen Widrigkeiten und Hemmnissen zum Trotz erreicht er schließlich das Haus seines Bruders. Der tritt in dem Moment, als er ankommt, vor die Haustür. Die beiden schauen sich nur an, und in ihrer Mimik erkennt man die Versöhnung.“

„Was waren das für Widrigkeiten und Hemmnisse“, fragt Alexander nach.

„Ein Unfall, ein Schaden am Traktor, aber immer lernt der alte Mann Leute kennen, die ihn aufnehmen und ihm weiterhelfen. Ein modernes Märchen eben.“

Noch Tage später ging Alexander die Geschichte nicht aus dem Kopf, zumal sie ihn an ein eigenes Vorhaben erinnerte. Eines Abends, sie lagen schon im Bett, erzählte er Simone davon. „Ich sah vor einem Haus in Solms einen Traktor stehen. An dessen Frontseite hing ein Schild, dass das Fahrzeug eintausend Euro kosten sollte. Am Kühlergrill der Hinweis auf die Höchstgeschwindigkeit: zwanzig Kilometer pro Stunde. Da kam mir die Idee, dass man an diesen Traktor einen zum Wohnwagen ausgebauten Bauwagen hängen und damit über Land reisen könnte.“

„Und bei der Idee ist es geblieben?“

„Ja, schon, trotzdem wäre das doch eine Möglichkeit, einfach mit unbekanntem Ziel loszufahren, abends irgendwo anzuhalten, zu übernachten, um am nächsten Morgen weiterzufahren. Stell dir vor, zwanzig Stundenkilometer, schnell genug, um weiterzukommen und langsam genug, um schauen zu können.“

„So einfach geht das aber nicht. Der alte Mann im Film hatte deshalb einen Unfall, weil er auf einer abschüssigen Strecke mitsamt seinem Rasentraktor vom Auffahrgewicht des Anhängers in den Straßengraben gedrängt worden ist. Das bedeutet, der Bauwagen müsste, ähnlich wie ein Wohnwagen, mit einer Auflaufbremse, so heißt das, glaube ich, ausgerüstet sein.“

„Meine Güte, Simone, du kennst dich ja aus.“

„Das hat der Werkstattleiter in dem Film dem Alten so erklärt.“

„Na ja, dann war das eben nur so eine Idee. Ich habe mir das einfach nur so vorgestellt, wie ich den Bauwagen ausbauen würde. Mit einem Ofen, den man mit Holz beheizen kann, einem breiten Bett, einer Küchenzeile und einer gemütlichen Sitzgruppe.“

„Und ich, während der Fahrt auf der harten Beibank des Traktors, mit Dirndlkleid und Kopftuch als Bäuerin verkleidet.“

„Na klar, und hin und wieder verrutscht der Rock, und ob der Geschwindigkeit kann ich mir einen längeren Blick nach rechts erlauben und erkenne, dass du wieder einmal vergessen hast, einen Slip anzuziehen.“

„Schön, dann halten wir einfach rechts der Straße an und ziehen uns in das Innere unserer Behausung zurück. Später stellen wir dann fest, dass du vergessen hast, eine Toilette einzubauen.“

„Das macht doch nichts, denn der Wald hat Büsche. Und außerdem könnten wir doch abends einen Campingplatz ansteuern.“

„Apropos Toilette“, sagte Simone, „ich muss mal“, sprang aus dem Bett und lief mehr, als dass sie ging, in Richtung Bad. Im Bett liegend, war ihr das Hemd wohl hochgerutscht, denn nun fiel es ganz langsam wieder zurück über ihren nackten Hintern. Wenn sie zurückkommt, dachte Alexander, werden wir wohl nicht weiter über Traktor und Bauwagen reden.

Und auch sobald sollte er nicht mehr daran denken, denn am nächsten Morgen, kaum dass er begonnen hatte, die Regionalzeitung zu lesen, inspirierten ihn zwei Artikel zu einer neuen Schreibidee. Wie immer wie aus heiterem Himmel. Und sofort stellte er zwischen beiden Texten eine Verbindung her, die ihm den Kern einer Geschichte andeuteten.

Simone war schon in der Schule, und so begab er sich sogleich in sein Arbeitszimmer, schnitt beide Artikel aus der Zeitung aus und heftete sie in einiger Entfernung zueinander an die Clusterwand, die er von seinem Vater übernommen hatte. Auch der arbeitete gerne nach dieser Methode, die im Gegensatz zur herkömmlichen Stoffsammlung eine Visualisierung möglicher Textbestandteile erlaubte. Beide Zeitungsartikel verband er durch Pfeile und notierte auf die Pfeillinien ein paar Stichpunkte. Seinen Computerarbeitsplatz hatte er sich so eingerichtet, dass er beim Schreiben die Clusterwand im Blick hatte.

„Da haben wir beide zum gleichen Zeitpunkt eine Idee gehabt“, sagte Volker Grün, als sie sich tags darauf bei Volker zu einem Kaffee getroffen hatten. Zuerst hatte Alexander erzählt, vom Traktor, dem Bauwagen und seiner Schreibidee. Die gefiel Volker besonders gut.

„Und ich sage dir, Alexander, da hat Simones Filmerzählung doch einiges bewirkt.“ Nun stellte er seine Idee vor, und Alexander war sofort von ihr eingenommen.

„Darüber müssen wir reden, Volker, und vielleicht sind Simone und Charlene ebenso davon angetan, wie wir beide.“

Sie verabredeten sich für den Abend bei Volker und Charlene in deren Wohnung in der Obertorstraße. Volker wollte beim Wirt am Dom Pizza bestellen, und Alexander versprach, Wein mitzubringen.

„Ich weiß, dass du lieber Bier magst, Alexander, aber das habe ich zu Hause.“

Er ließ Simone über den Grund im unklaren, als er ihr sagte, dass Volker sie für den Abend eingeladen hätte.

„Also, das ist so“, begann Volker, als sie gegessen hatten, „ihr erinnert euch doch an den Film, von dem Simone neulich erzählt hat?“

„Und ob“, sagte Simone, die wohl kaum erinnert werden musste.

„Alexander berichtete mir vor Kurzem von einer ähnlichen Idee, nur dass es hier um einen Traktor mit angehängtem Bauwagen ging.“

„Davon hat er mir erzählt, Simone, doch ich habe da einen viel besseren Vorschlag.“

„Nun spanne uns doch nicht so lange auf die Folter“, sagte Charlene, die bisher geschwiegen hatte.

„Genau, Volker“, äußerte sich nun auch Simone etwas ungeduldig.

„Also, das ist so ...“

„Ja, das hast du ja schon gesagt.“

„Ihr kennt doch die Lahn?“

„Volker, es reicht jetzt, natürlich kennen wir die Lahn.“

„Um es kurz zu machen, was haltet ihr von einer gemeinsamen Floßfahrt die Lahn abwärts bis nach Lahnstein?“

Marijana

Подняться наверх