Читать книгу Marijana - Reiner Kotulla - Страница 9
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Die neuen Stahlbänder lagen zusammengerollt auf ihrer Baustelle. Volker hatte sie besorgt, das war sein Aufgabenbereich. Später berichtete er über den Einkauf. „Ich kam in den Verkaufsraum. Außer mir waren noch zwei Kunden anwesend. Der eine von ihnen unterhielt sich mit einem Verkäufer. Der andere wurde von einer Verkäuferin bedient. Der dritte Angestellte hatte einen Aktenordner in der Hand, blätterte darin herum. Pure Scheinbeschäftigung vermutete ich, denn es hatte nicht den Anschein, dass er einen bestimmten Text suchte. Einmal blickte er kurz in meine Richtung, nahm mich aber nicht wirklich wahr. So stand ich eine Zeit lang herum, war praktisch gezwungen, den Gesprächen der anderen zuzuhören. Das Verkaufsgespräch, welches die Frau mit dem Kunden führte, interessierte mich kaum, ging es doch um Dinge, von denen ich keine Ahnung hatte. Das andere Gespräch erregte meine Aufmerksamkeit, ging es doch da um rein Privates. Kunde und Verkäufer mussten sich näher kennen, denn sie sprachen über vergangene Zeiten. Anscheinend waren sie zusammen beim Militär gewesen. Wenn ich nicht gewusst hätte, dass sich die BRD damals mit keinem anderen Staat im Kriegszustand befunden hatte, hätte mich das Gespräch der beiden ein solches vermuten lassen. Hart musste es zugegangen sein, damals. Tage- und nächtelange Märsche mit voller Ausrüstung durch unwegsames Gelände, bei hohen Minustemperaturen. ‚Eisregen und keine Aussicht auf ein warmes Nachtlager‘, sagte der Verkäufer, und der Kunde, ich ging immer noch davon aus, dass es sich um einen solchen handelte, ergänzte: ‚Dagegen ist das, was die Schlaffis heute in Afghanistan erleben, das reinste Zuckerschlecken.‘ , Du sagst es‘, pflichtete ihm der Verkäufer bei.
Da musste ich daran denken, dass ich erst am Abend zuvor erfahren hatte, dass bei einem Angriff in der Nähe von Kundus vier deutsche Besatzungssoldaten von einer Bombe zerfetzt worden waren. Die beiden sprachen jetzt von der Rente, die sie wohl beide in Bälde zu erwarten hatten. Auch für diesen Verkäufer schien ich nicht anwesend zu sein.
Inzwischen hatten die beiden anderen ihren Handel abgewickelt, und die Frau heftete die Verkaufsunterlagen in einem Ordner ab. Der dritte Angestellte war immer noch mit seinen Papieren zugange. Auch die beiden ‚Kriegsteilnehmer‘ hatten ihr Gespräch beendet. Jetzt beschäftigte sich auch dieser Verkäufer mit irgendwelchen Papieren. Seit meinem Eintreten waren etwa zwanzig Minuten vergangen. Nun wandte sich die Verkäuferin mir zu, und ich trug ihr meinen Wunsch vor.
,Da muss ich den Meister in der Halle fragen‘, sagte sie und entfernte sich in den rückwärtigen Bereich. Nach kurzer Zeit kam sie mit einem für mich abschlägigen Bescheid zurück. Der Meister hätte im Moment keine Zeit, ich sollte morgen noch einmal nachfragen. Daraufhin erkundigte ich mich nach einer anderen Möglichkeit, da ich heute noch nach Wetzlar zurückfahren wollte, wo die Stahlbänder benötigt wurden. Abrupt ließ da der Scheinbeschäftigte den Ordner auf den Schreibtisch fallen und wandte sich mir zu. ‚Haben Sie denn nicht verstanden, was sie‘, und dabei deutete er auf seine Kollegin, ‚Ihnen gerade erklärt hat? Wenn der Meister gesagt hat, dass es jetzt nicht geht, dann geht es jetzt nicht.‘
Ihr könnt euch vorstellen, dass ich so langsam wütend geworden bin. Deshalb wandte ich mich nun an den Mann. ‚Ich glaube‚ dass Ihre Kollegin der Sprache so mächtig ist, mir das selbst zu erklären. Oder wollen Sie sich hier als eine Art männlicher Beschützer aufspielen?‘
Volltreffer, dachte ich, denn nun lächelte mich die Frau ganz offen an. Dadurch bestärkt wandte ich mich an den Beschäftigungstheoretiker. ‚Aber sicher sind Sie hier so einflussreich, dass Sie mir weiterhelfen können.‘
Der erkannte meine Ironie nicht, fühlte sich tatsächlich geschmeichelt. Aber anstatt sich nun ernsthaft um mein Anliegen zu bemühen, griff er erneut nach irgendeinem Ordner, schlug ihn auf und tat lesend, sagte, ohne mich eines Blickes zu würdigen: ‚Sie sehen doch, dass ich zu tun habe.‘
Jetzt war ich endgültig sauer, ließ mich hinreißen: ‚Flachwichser, der Sie sind.‘
Er, den Ordner erneut auf den Tisch werfend: ‚Haben Sie gerade Flachwichser zu mir gesagt?‘
Schon wollte ich meine Aussage wiederholen, als sich die Verkäuferin einmischte: ‚Ewald, da musst du dich verhört haben, slat Gewirrer nin, habe ich deutlich verstanden.‘
Ich erkannte plötzlich, in was für eine Lage ich mich da gebracht hatte. ‚Danke‘, sagte ich zu der Frau gewandt, ‚genau das habe ich gemeint.‘ Er konnte nicht sehen, dass ich sie dankbar anlächelte.
Mit ‚Ich werde noch einmal nachfragen‘, drehte sie sich um und verließ den Raum.
Ewald, nun echt wütend, griff erneut nach dem Ordner und rannte fast, ohne mich noch einmal anzuschauen, in Richtung des Nachbarbüros. Bald darauf kam die Verkäuferin zurück, setzte sich an ihren Schreibtisch, schrieb etwas auf. Dann kam sie zu mir an die Theke, wortlos, und legte mir die Rechnung hin. ‚Das ist gleichzeitig der Lieferschein, wenn Sie den dann bitte unterschreiben würden.‘
Inzwischen war der erste Kollege wieder in den Verkaufsraum gekommen. Ich hatte unterschrieben und bezahlt, als sie mich bat, ihr zu folgen. Vor der Tür der Werkhalle lag die Rolle Stahlband. ‚Ich möchte mich bei Ihnen bedanken‘, wandte ich mich an die Frau.
‚Tun Sie das.‘
Jetzt war ich unschlüssig, was sollte ich sagen? Dieses Mal half sie mir nicht. Also sagte ich einfach ‚herzlichen Dank‘, nahm die Rolle auf und ging zu meinem Auto.“
Da war er wieder, Charlenes skeptischer Blick.
Später, als Volker und Alexander alleine waren, erzählte Volker, dass er sich mit ihr verabredet hatte, auf einen Kaffee im Café Alte Lahnbrücke.
In dieser Nacht hatte Alexander einen seltsamen Traum. Er war wieder in seiner ehemaligen Redaktion. Ihm war eine Volontärin zugeordnet worden, die kurz vor der Prüfung stand. Da wollte er unbedingt dabei sein. Er irrte durch das Gebäude, fand aber den Raum, in dem die Prüfung stattfinden sollte, nicht, obwohl er dessen Lage genau zu kennen glaubte. Dann lag er mit einer anderen, sehr jungen Frau im Bett, die er zuvor noch nie gesehen hatte. Widerstandslos ließ die sich streicheln, doch zeigte sie keinerlei Regung. Plötzlich lag die Volontärin neben ihm, und die andere Frau stand am Fenster, blickte hinaus und tat, als ob sie das Ganze nichts anginge. Die Volontärin schaute ihn erwartungsvoll an, im Blick das Verlangen nach einer Erklärung.
„Du machtest einen so unnahbaren Eindruck, dass ich nicht gewagt habe, es bei dir zu versuchen.“
„Ich weiß, so bin ich.“
Inzwischen befanden sie sich auf einem Waldweg, und er suchte nach einer Möglichkeit, ihr näherzukommen, als er am Wegrand einen großen Reisighaufen entdeckte. In den krochen sie hinein, was ihnen auch mühelos gelang. Er vermochte jedoch nicht, die Öffnung zum Weg hin zu schließen. Dies gelang jedoch einem jungen Mann, der wie aus dem Nichts heraus aufgetaucht war. Nun waren sie allein. Er lag ihr zugewandt. Seine Hand lag auf ihrem stark ausgeprägten Venushügel. Sie reagierte sofort, obwohl er seine Finger kaum bewegte. Bald spürte er ihren herannahenden Orgasmus, als der junge Mann von außen ein herbeikommendes Auto meldete. Dann standen er und die Frau auf einer Straße, und neben ihnen hielt ein kleiner Lastwagen. Die Fahrerin fragte, ob sie sie mitnehmen könnte. Sie bedeutete ihnen, auf der Ladefläche Platz zu nehmen. Als er dort hinaufgeklettert war, lag sie bereits auf einer dort ausgebreiteten Decke. Alexander erwachte mit starkem Harndrang.
Simone war bereits zur Schule gegangen, und so konnte er sich in aller Ruhe das Frühstück zubereiten, um hinterher, zur Ideensammlung, einen ausführlichen Speziallauf zu absolvieren. Und dazu die Zeitung.
„Die Karnevalsgesellschaft verhüllt den Kalsmunt-Turm“, las er und musste an Christo, der mit seiner Aktion, den Berliner Reichstag zu verhüllen, seinerzeit viel Aufsehen erregt hatte. Der hatte da nicht irgendein Gebäude verhüllt, sondern ein Symbol.
Entstanden als ein Gebäude preußischer Scheindemokratie, später ein paar Jahre Hort der Weimarer Republik, von den Nazis als einen solchen symbolisch angezündet und verbrannt, von der Roten Armee als Ort ausgewählt, wo sie zum Zeichen der Befreiung des deutschen Volkes vom Hitlerfaschismus im Mai 1945 die rote Fahne gehisst und der nun, wieder aufgebaut, zum Aushängeschild für den durch den Anschluss der DDR an die BRD neu entstandenen Staat werden sollte. Da durfte er sich schon fragen, warum ein solches Gebäude unsichtbar gemacht werden sollte.
Diese Frage warfen die Organisatoren der Kalsmunt-Verhüllung nicht auf. Beteiligt waren außer der Karnevalsgesellschaft ein Transportverein und das Wetzlarer Stadtbauamt, so las Alexander weiter. Also wurden da auch öffentliche Mittel verbraten. Und wofür? Auch darüber gab der Artikel Auskunft. Ein Wettbewerb des Hessischen Rundfunks und die damit verbundene Hoffnung auf einen Preis.
Nun, dachte Alexander, wenn sie schon so wenig kreativ sind und eine Sache kopieren müssen, haben sie vielleicht den Kalsmunt als ein Symbol des menschenverachtenden Feudalismus, in dem sich auch heimische Adlige durch die Ausbeutung ihrer Bauern bereichert haben, ausgewählt? Er suchte in dem Artikel vergebens nach einer Antwort. Doch halt, da stand es, der „altehrwürdige Bergfried“ ist es, der verhüllt werden soll. Das ganze Theater also nur wegen einer Aktion. Dekadent, dachte Alexander und legte die Zeitung auf die Seite.