Читать книгу Zum Irrgarten - geradeaus - Reinhard Kreuz - Страница 10

Оглавление

VISION UND WIRKLICHKEIT

Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen.

Helmut Schmidt

God gave angels wings. He gave mankind dreams.

Ronald Reagan

Ich kann sie beide verstehen. Den zweiten sozialdemokratischen Bundeskanzler, der sich mit Öl- und Währungskrisen, mit rückläufigem Wachstum und Terrorismus herumschlagen musste und den die eigene Partei häufig blockierte und schließlich zermürbte. Und den stets optimistischen, meist verkannten US-Präsidenten der Achtzigerjahre, den der geballte Sachverstand seiner Berater nicht davon abhalten konnte, eine Welt ohne Kommunismus zu erträumen – und der sie nur Monate nach seiner Amtszeit auch erlebte.

Auch wenn man die visionäre Grundhaltung selten bei Ronald Reagan vermutet – bei uns hat sie seit jeher den größeren Kredit – nach Großkrisen von »Lehman« bis »Fukushima« allemal. Nun aber sei die Zeit echter Neugestaltung wirklich angebrochen, sagen viele und fragen sich, warum in Politik und Gesellschaft nicht möglich sein soll, was in Wirtschaft und Technik doch gang und gäbe sei: Der radikale Neuanfang, der »Paradigmenwechsel« gehören zur Hausapotheke des Managers und die Mantras der Motivationspsychologie sind weit in unsere Alltagssprache vorgedrungen: Keine Firma weiht heute mehr eine neue Lagerhalle ein, ohne die »Vision« einer helleren Zukunft zu bemühen, und wer sich als Mitarbeiter eines Großkonzerns nicht jede Woche »neu erfindet«, hat ohnehin schon ausgedient. »Grenzen überwinden«, »Muster sprengen«, »zu träumen wagen« – »Imagine« heißt die Grundmelodie unserer Zeit.

Unsere Erfolgs- und Lebenscoaches stünden nicht so hoch im Kurs, wenn sie nicht etwas Wahres und Wirksames erkannt hätten: Das menschliche Gesichtsfeld ist begrenzt, und das Wenige, das wir wissen, missrät uns allzu oft zur Grenze und Behinderung. Aus Einsichten werden Dogmen und »Positionen«, auf denen wir uns dann die Füße platt stehen, wenn wir nicht durch das, was die Buddhisten Un-Knowing nennen, wieder in Bewegung kommen. Wer mit der Vorstellung ans Werk geht, er sei ein schlechter Handwerker, Liebhaber oder Briefschreiber, der wird sich diese Annahme wahrscheinlich bestätigen und für die weitere Zukunft zementieren. Er verschließt sich jenen Raum des »Nicht-Wissens« oder »Noch-nicht-Wissens«, in dem die ungeahnten Kräfte und Möglichkeiten schlummern, mit denen wir uns manchmal, in unbedachten Momenten, selbst überraschen. Zu Beginn einer Aufgabe kann es deshalb nützlich sein, den Gedanken an Grenzen erst einmal auszuklammern und zu vertrauen, dass dem kühn und klar formulierten Ziel, mag es auch als visionär erscheinen, ungeahnte Unterstützung zuwächst ist die Entscheidung erst einmal gefallen.

Und weil wir von Überraschung sprachen: Was ist von einer »Wirklichkeit« zu halten, in der allenthalben das Gegenteil dessen passiert, was nach allgemeiner Erwartung hätte passieren sollen? Sind wir nicht lausige Propheten? Die Auguren, die in jüngster Zeit ein Erdbeben der Stärke 9 mit anschließendem GAU, einen grünen Ministerpräsidenten in Baden-Württemberg und Volksaufstände in der arabischen Welt vorausgesagt haben, lassen sich an einem Finger abzählen. Von der Lotterie unserer Wirtschaftsprognosen ganz zu schweigen. Können wir da nicht gleich, bei der Gestaltung der Zukunft, unserer Fantasie freien Lauf lassen? Müssen wir nicht alle, auf allen Gebieten, in den bekannten Werbeslogan einstimmen: »Nichts ist unmöglich«?

Müssen wir nicht. Wie jeder, der sich schon einmal vor einen fahrenden Bus gestellt, ihn für unwirklich erklärt und den Aufprall überlebt hat, gerne bestätigen wird, gibt es Wirklichkeit. Die materielle Welt ist strukturiert und folgt Gesetzen, deren Befolgung gerade das Geheimnis ihrer erfolgreichen Umgestaltung ist. Selbst der Glaube, der Berge versetzen will, bekommt es mit der Schwerkraft zu tun und mit der Trägheit der Masse. Und wer, wie es immer wieder versucht wird, die Ökonomie mit magischen und utopischen Wünschen überfrachtet, erhält die Quittung aus dem Reich von Plus und Minus. Wie uns die Umweltbewegung in ungewohnt biblischer Sprache gerne erinnert, ist der »Schöpfung« nicht alles zuträglich, was möglich ist, steht unseren Träumen, im Reich der Gegenstände, manches entgegen.

Und in der geistigen Welt? Hier treten Schwierigkeiten auf, deren Ausmaß sich schon daran bemisst, dass manche ihre Existenz überhaupt bestreiten. Es scheint aber die materielle Welt auf die sogenannten existenziellen Fragen, wer wir sind und was wir tun sollen, keine Antwort anzubieten, sodass wir auf das Geistige und seine eigentümliche Struktur verwiesen sind. Hier nämlich sind wir, anders als bei der Objektforschung, Subjekt und Objekt in einem, Teilnehmer eines Prozesses, der uns nach innen führt und zu Erfahrungen, die sich kaum in Worte fassen, geschweige denn beweisen oder beliebig wiederholen lassen. Plötzlich geht es, jenseits von Petrischale und Reagenzglas, sehr viel tastender und bescheidener zu. Selbsterforschung ist die Interpretation eines seelischen Geschehens, das stets von neuem ansetzt und erst im Nachhinein, als Geschichte unseres Ordnungsdenkens, uns gegenübertritt.

Im Verlauf dieser Geschichte hat sich der Mensch als Teil eines göttlich geordneten Ganzen erfahren, sei es als Teil eines Kosmos voll Geistern und Göttern, sei es als Teil einer Welt, deren Seinsgrund im Jenseits liegt. Neben seiner Sonderstellung unter den Geschöpfen erfährt er somit immer auch seine Abhängigkeit und Kreatürlichkeit. Seinem Schöpferdrang sind die Fesseln des Prometheus angelegt und wenn er eine Vision verfolgt, dann ist es die »Visio Dei«.

Nun ist es im christlichen Kontext geschehen, wohl schon im 14. Jahrhundert beginnend, dass das zarte Band des »Glaubens«, das ihn an diesen Seinsgrund bindet1, für viele Menschen zerrissen ist. Aus einem teilhabenden, seine Stellung im Kontext von Gott, Welt und Gesellschaft ertastenden Wesen wird ein »Ich«, das sich allein, und allein berechtigt wähnt, die Welt nach seiner Fantasie neu zu erschaffen.2 Philosophe nennt sich der neue Menschentypus – später wird man vom »Intellektuellen« sprechen –, der in der französischen Aufklärung erstmals hervortritt und jetzt den Spieß umdreht: Die Wirklichkeit soll nun mit dem übereinstimmen, was er als seine »Vernunft« bezeichnet. Wenn sie sich weigert, dann wird dem rousseauschen Wunschbild einer Idealgesellschaft, einer innigsten Gemeinschaft wechselseitig transparenter Herzen (société des coeurs)3, auch schon mal mit dem Fallbeil nachgeholfen.4

Spätestens im 20. Jahrhundert, als Abermillionen den Träumen vom irdischen Heil, vom »Arbeiterparadies« und vom »Neuen Menschen« zum Opfer fielen, hätte es klar sein müssen, dass es zwei Formen der Zukunftsbilder gibt. Der Mensch kann träumen und seine Visionen einer besseren Zukunft in erstaunlichem Maße verwirklichen. Gerade die jüngste Zeit legt davon Zeugnis ab. Er kann die Umstände und Bedingungen (conditiones) seines Daseins weiten und wandeln, nicht aber den Grundzusammenhang, die conditio (humana). Versucht er es doch, werden Visionen zerstörerisch, können Träume in Albträumen enden – und am Ende könnten wohl beide recht haben: Jacques Chirac, der im letzten Satz seiner Memoiren die Franzosen »zu wagen und zu träumen« ermuntert und der Economist, der zum Tode Bin Ladens titelte: Now, Kill his Dream!5

Nach Jahrhunderten menschlicher Neuschöpfung sieht die Welt immer noch so aus, als sei sie von Menschen bewohnt. Geradezu rührend mutet es an, wenn Albert Camus zu Ende des großen Gemetzels den »Verdacht« äußert, es könne doch eine menschliche Natur geben »wie es die Griechen dachten«6. Der Mensch könne sein Leben ändern, schreibt er an anderer Stelle, nicht aber die Welt7, was unsere Zeitgenossen nicht davon abhält, uns genau dies, vor allem nach Krisen, weiter zu versprechen. Wir verirren uns also weiter in dem, was ein Spötter optional reality genannt hat8. Allerdings scheint, nach der Tragödie des 20. Jahrhunderts, das Schauspiel sein Genre gewechselt zu haben: Seither wird eher eine Farce aufgeführt, in der ein Jean-Paul Sartre in den Straßen von Paris eine maoistische Postille verteilt und ein unsicheres Deutschland der Welt den erhobenen Zeigefinger zeigt. In der die Schauspieler sich weiter mit dem Drehbuchautor verwechseln und nicht spielen wollen, sondern künden, in der sie jedes Kräuseln an der Oberfläche des Weltenflusses abwechselnd für »Heil« und »Untergang« erklären und das Lachen der Zuschauer wohl noch den höchsten Grad an Wirklichkeit besitzt – was mich abschließend an das schöne Wort eines anderen USPräsidenten, John F. Kennedy, erinnert: »Drei Dinge sind wirklich im Leben – Gott, menschliche Torheit, und das Lachen«9.

Juni 2011

1 Vgl. hierzu Eric Voegelin, Die Neue Wissenschaft der Politik. Eine Einführung, Freiburg 1991, S178ff. »Ungewissheit ist das eigentliche Wesen des Christentums. Das Gefühl der Sicherheit in einer »Welt voller Götter« geht mit den Göttern selbst verloren. Durch die De-Divinisation der Welt wird die Kommunikation mit dem welttranszendenten Gott auf die schwache Bindung des Glaubens im Sinne von Hebr 11,1 … beschränkt. … Das Band ist schwach in der Tat und leicht kann es reißen.«

2 Vgl. hierzu ders., Realitätsfinsternis, Berlin 2010 und Tilo Schabert (Hg.), Der Mensch als Schöpfer der Welt, München 1971

3 Vgl. Schabert, op. cit. S. 49ff und Jean Starobinski, Jean-Jacques Rousseau. La Transparence et l’Obstacle. Paris 1971

4 Schabert (op. cit. S. 12f) berichtet von einer Karikatur, die gegen Ende der Französischen Revolution erschien: Vor einem Wald ausgedienter Guillotinen hat Robespierre den Henker als vorletzten noch lebenden Menschen zur Hinrichtung festgeschnallt. Die Botschaft ist eindeutig: Robespierres Bild einer perfekten, tugendhaften Zukunft »muss so lange gegen Menschen eingewechselt werden, bis der wissende Revolutionär niemanden mehr findet, der die Zukunft anders versteht, als er sie sich vorstellt«.

5 Now, Kill his Dream!, in: The Economist, 7. Mai 2011

6 Albert Camus, L’Homme Révolté, Paris 1951, S. 30. Vgl. hierzu und zu Camus Widerstand gegen sein ideologisches Umfeld auch Eric Voegelin, Was ist politische Realität in ders.: Anamnesis. Zur Theorie der Geschichte und Politik, München 1966, S. 312ff.

7 Albert Camus, L’Envers et l’Endroit, Paris 1958, S. 14

8 Thomas Sowell, Intellectuals and Society, New York 2009, S. 17

9 John F. Kennedy zitiert nach Lou Cannon, President Reagan. The Role of a Lifetime, New York 1991, S. 114: »There are only three things in life that are real – God, human folly, and laughter – and since the first two are beyond our comprehension, we must do what we can with the third«.

Zum Irrgarten - geradeaus

Подняться наверх