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Rebellarium

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Im zweiten Aporius-Gespräch geht es um die politischen und kulturellen Auseinandersetzungen zur Zeit der 68er-Bewegung in West-Berlin. Man spricht über Ursachen, Verläufe und Folgen der Rebellion.

Journalist

Die 68er-Revolte ist nun schon nahezu ein halbes Jahrhundert Vergangenheit. Meine ersten beiden Fragen lauten: Was ist 1968 in Berlin passiert? Um welche Entwicklungen geht es?

Aporius

Die 1968er-Bewegung war der Kreuzungspunkt für eine ganze Reihe von Entwicklungen in Deutschland und in der westlichen Welt. Es gab im Laufe dieser Entwicklung emanzipatorische und repressive Momente.

Journalist

Was war denn 1968 emanzipatorisch und was war repressiv?

Aporius

Es waren zweifellos viele Dinge positiv, die man gewissermaßen als Abrechnung mit dem kulturellen, politischen und akademischen Erbe der 50er und 60er Nachkriegsjahre verstehen kann. Das historische Erbe Deutschlands und vieler anderer Länder der Erde hat vor allem einen Erblasser, nämlich die Hitlerdiktatur. Es ging den 68ern um die kritische Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit, speziell also auch mit dem Nationalsozialismus. Die öffentliche und private Schweigemauer, die nach dem Krieg um die Nazi-Vergangenheit herum errichtet worden war, wurde lautstark auf den Straßen, aber auch ganz leise und verbissen in den Familien durchbrochen. Die positive Erkenntnis aus der 1968er Rebellion und ihren Folgen lautet: Wenn man Vergangenheit bewältigen will, dann muss man vor allem autoritäts- und medienkritisch sein. Junge Leute müssen sich engagieren und organisieren, mit dem Mut der Verzweiflung und einem sozialkritischen Blick auf die herrschende politisch-gesellschaftliche Ordnung und ihrem Establishment.

Der Umgang mit Geschichte und mit den konservativen, kriegsmüden Deutschen in der Nachkriegszeit ist dann in der 68er-Zeit zuweilen auch überkritisch geworden - insbesondere in Berlin und an der Freien Universität Berlin. Wenn man Herrschende und Herrschaftskritik überall sucht, dann wird man sie zweifellos auch überall finden können. Die 68er waren Fundamentalopposition gegen alle alten und konservativen Werte, aber auch gegen gute, neue und demokratisch-akademische Umgangsformen, die sich inzwischen entwickelt hatten. Die Uni wurde von vielen 68ern als charakterloser Teil des politischen Herrschaftssystems und seiner Repräsentanten betrachtet. Die Stimmung war aggressiv und auf Systemveränderung gerichtet. Für viele waren das akademische Geschehen politische Ereignisse und die Wissenschaftler falsche Sympathisanten. Anlässlich des 50jährigen Jubiläums der FU im Jahr 1998 wählte Tilman Fichter im „Tagesspiegel“-Beitrag vom 23.10.1998 die Überschrift: „Meine Universität war der SDS“. In der gleichen Jubiläums-Ausgabe titulierte der ehemalige Berliner Wissenschaftssenator George Turner (1986-1989): „Zeitweilig aus den Fugen geraten“. Heinrich August Winkler, 1964 als Assistent an die FU gekommen und von 1991 bis 2007 Professor für Neueste Geschichte an der Humboldt-Universität, fand, dass sich das Otto-Suhr-Institut „zeitweilig als Parteihochschule auf der Suche nach einer Partei präsentierte“. Winkler selbst ist übrigens seit 1962 Mitglied der SPD.

Journalist

Kann man auch „zeitweilig“ davon ausgehen, dass die moderne deutsche Frauenbewegung ihren Ursprung in der 68er-Rebellion hatte?

Aporius

Die Ursachen der Frauenbewegung sind vielschichtiger als die der 68er-Bewegung, wie ich finde. Die Ursprünge liegen national, international, historisch und kulturell betrachtet zweifellos viel weiter zurück und sind komplexer. Dennoch hat die 68er-Bewegung entscheidende Anstöße auch für die Frauenbewegung gebracht. Wenn man ein Frauenflugblatt vom „Weiberrat“ des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) aus der Frankfurter Universität als Quelle nimmt, in welchem sich die 68er „Weiber“ ironisch mit den 68er „Machos“ der Szene auseinandersetzten, kann man die 68er-Männerrebellen auch als unfreiwillige Verantwortliche für die neuen Impulse der Frauenbewegung sehen. Viele Frauen haben vom 68er-Habitus der antiautoritären Sozialisierung und Selbstorganisierung gelernt, davon profitiert, ihn für sich entdeckt und geschlechtsspezifisch definiert. Es ging um alternative Lebensentwürfe, Kinderläden, Wohngemeinschaften, sexuelle Befreiung, Schwulen- und Lesbenverbindungen, neue Formen von Arbeitsteilung und Gleichstellungs- bzw. Verschiedenheitsfragen in allen Bereichen der Lebens- und Arbeitswelt. Jede einzelne Frau wird am Ende selbst entscheiden wollen, wer oder was sie bewegt und emanzipiert hat. Ob es die 68er-Bewegung war oder die Quotendiskussion, die Erfindung der Anti-Baby-Pille, die persönliche Infragestellung familiärer Verhältnisse, die Zeitschrift Emma mit Alice Schwarzer oder gar der 1926 gegründete Deutsche Akademikerinnenbund, darüber kann man nur spekulieren. Die Frauenbewegung in Deutschland hat jedenfalls viele unterschiedliche Auslöser und Entwicklungsmomente. Aber eines ist festzuhalten: Es sind immer Frauen gewesen, die ihre Rolle und Freiheit suchten, auch in der 68er-Zeit, weil auch diese Zeit im Kern eine Männerzeit war. Die Frauenbewegung ist in vielerlei Hinsicht komplexer als die 68er-Bewegung, weil Frauenthemen, geschlechtsspezifische Kritik und feministischer Widerstand alle Organisationsformen des Lebens betreffen.

Journalist

Haben die 68er und der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) an der Unterwerfungsbereitschaft und einem Konformismus der Linken in Deutschland mitgewirkt?

Aporius

Die 68er waren zunächst einmal leidenschaftlich, unorthodox, antifaschistisch, antikapitalistisch und auch antikonsumistisch. Viele haben ganz persönliche sowie gemeinschaftliche und gesellschaftliche Alternativen gesucht, und viele haben sie auch gefunden. Eine relativ große Gruppe war streng etatistisch. Man hatte sich auf den Staats- und Medienapparat als Feindobjekt eingeschossen. Das kann man, wenn man möchte, eine falsche Unterwerfungsbereitschaft nennen. Es gab für einige politische 68er-Aktivisten kaum ein kulturelles oder akademisches Leben, kaum ein gesellschaftliches Reden neben dem politischen. Im Zentrum der gesellschaftlichen Überzeugung stand die kritische Haltung gegenüber dem herrschenden politischen Apparat. In gewisser Weise ist man so auch selbst ein Teil des Apparats geworden. Die Kritik am Hegemon hat einige Leute leider auch selbst zu Hegemonisten gemacht.

Journalist

Der FU-Philosoph Peter Furth, neben Urs Jaeggi einer der Betreuer der Doktorarbeit von Rudi Dutschke an der FU, war es, der von einem Phänomen der Unterwerfungsbereitschaft gesprochen hat.

Aporius

Viele 68er haben ihre Kritiker argwöhnisch beobachtet, auch die Akademiker und Intellektuellen in den eigenen Reihen. So ist dann mit der Zeit eine Form von Wachturm-Mentalität entstanden. Man durfte nicht naiv glauben, dass man im inneren Kreis als jemand, der sich als dazugehörig betrachtete, ohne Kontrolle irgendetwas Kritisches oder Eigenkritisches unbemerkt äußern oder gar veröffentlichen konnte. In der 68er-Bewegung ist ein fragwürdig kontrollierendes und leider auch antiintellektuelles Gemeinschaftsgefühl mit Meinungsführern, Mitläufern, Abtrünnigen und Verrätern entstanden. Das war der organisierten DDR-Praxis gar nicht unähnlich.

Man wollte sich und andere öffnen und orientierte sich leider auch an geschlossenen Denk- und Gesellschaftssystemen sowie an einem autoritären Polit-Habitus.

Journalist

Gab es unterschiedliche Formen des deutschen Antifaschismus?

Aporius

Die gab es, ganz zweifellos. Der Antifaschismus in Deutschland fand in sehr unterschiedlichen Formen der Kritik am Nationalsozialismus statt. Die jeweils eigene und spezielle Form der kritischen Haltung wurde auch als moralisches Druckmittel verwendet. Moral und Kritik dienen so stets auch der Ab- und Ausgrenzung Andersdenkender, auch der kritisch Andersdenkenden. So entstanden dann viele politische Kleingruppen auf der einen Seite und der monopolartige Staatsantifaschismus der DDR auf der anderen. Die 68er-Rebellen wollten überzeugen und antifaschistischer Hegemon sein, zum Glück nur im Krieg der Worte und Parolen, wenn man dabei noch nicht an die spätere RAF (Rote Armee Fraktion) denkt. In der 1968er-Bewegung wollte man den Faschismus aus den Köpfen der Deutschen vertreiben, links sein, längere Haare tragen und den Vietnam-Krieg beenden. Der „Heiße Krieg“ im „Kalten Krieg“ fand nicht in Deutschland statt, sondern in Vietnam. Der Korea-Krieg schien schon fast vergessen, der in den USA offiziell übrigens Korean Conflict genannt und als Polizeiaktion deklariert wurde. Alles wirkte in der 68er und Nach-68er-Zeit so, als wenn es auf magische Weise zusammenpassen würde: der Kapitalismus, die Staatskultur, die politischen Phrasen der Herrschenden und der Kampf eines kleinen Volkes gegen eine militärische Übermacht. Für viele 68er ging es um einen Sieg im „Volkskrieg“. Ganz junge amerikanische Männer hatte man um den halben Erdball nach Vietnam geflogen, um einen sinnlosen, ideologischen und menschenverachtenden Kampf gegen den Kommunismus führen zu lassen, einen Krieg, in dem man Napalmfässer abwarf, um Wälder zu entlauben und ein freies Schussfeld zu bekommen, in dem man Giftgasangriffe mit Agent Orange (Dioxin) startete, um den politischen Feind und seine Nachkommen flächendeckend zu liquidieren, wobei der Zivilist stets nicht vom gegnerischen Kämpfer zu unterscheiden war. Es war ein Krieg, in dem man Kriegsmassaker, wie in My Lai, verübte, ohne dass die verantwortlichen Kriegsverbrecher je zur Rechenschaft gezogen worden wären, um dann endlich mit Hilfe von Diplomatie und Staatsbesuchen bei den Führern in China und der UdSSR den Krieg beenden zu können, ohne vermeintlich das Gesicht zu verlieren.

Journalist

Der reaktionäre Aphoristiker Nicolás Gómez Dávila schrieb seinerzeit: „Die subtile Interpretation jedes Ereignisses scheint dem Linken immer suspekt.“ Sind Linke einfältiger und naiver als Rechte?

Aporius

Linke sind ebenso dumm, so klug, so naiv oder so einfältig wie die Vertreter anderer politischer Himmelsrichtungen auch, wie das Moderne stets ebenso naiv wie das Konservative sein kann, wenn man nicht wirklich in Entwicklungsperspektiven und geschichtlichen Dimensionen zu denken vermag. In der Politik geht es um Menschen, die politisierte Weltanschauungen und Einstellungen pflegen, um an Machtkämpfen teilzunehmen. Es geht um das Führen von „Kriegen“ auch für Gerechtigkeit und Demokratie, ohne ein tieferes Verständnis von Gerechtigkeit und Demokratie zu besitzen. Krieg wird überall ohne Moral und ohne Mitleid mit dem Feind geführt. Man kann den Krieg, wie auch die Politik zuweilen, eigentlich gar nicht subtil interpretieren, weil am Ende alle gemeinsam Opfer werden: die Rechten, die Linken, die Freunde, die Feinde und alle Unbeteiligten, die dazwischen stehen.

Journalist

Hat durch die 68er-Bewegung eine bestimmte Weltanschauung gewonnen?

Aporius

1968 wird als ein kulturrevolutionär-lebensweltliches Signal zweifellos in Erinnerung bleiben. Die linken politischen Weltanschauungserklärungen der 68er werden nicht überleben. Kein 68er-Antikapitalist kann sich im Nachhinein als erfolgreich bezeichnen, auch wenn er später ein politisch prominenter Sozialdemokrat oder Grüner geworden ist. 68er, die sich als Kulturrevolutionäre sehen, könnten sich eventuell als Sieger fühlen, auch wenn sie sich mit Kopfhörern im Sessel zurücklehnen und „Riders on the storm“ von den Doors oder „Gimme Shelter“ von den Rolling Stones hören. Nebenbei bemerkt: Die Entwicklung der Rockmusik in den 60er-, 70er- und 80er Jahren war ein wesentlicher Impulsgeber und ein Spiegelbild des 68er-Lebensgefühls. Musik war der Herzschlag der Rebellion und die Ursache von Privatisierung und Drogenkonsum zugleich. Revolutionäre Bewegungen sind anscheinend immer dann erfolgreich, wenn sie viele benebelte Sieger oder traurige Besiegte hervorbringen und musikalisch sind.

Viele 68er und Nach-68er in Deutschland glaubten, sie hätten den magischen Durchblick, den sie allerdings nicht mit der Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger teilen konnten. So entstand eine Propaganda-Mentalität des „Kampf dem“ und „Weg mit“, die dann auch die jeweilige Gegenseite auf übelste Weise befeuerte. Der SDS meinte auf einem seiner bekanntesten Plakate aus dem Jahr 1973, dass alle „vom Wetter reden“, nur „Wir“ nicht. In der Bildmitte des knallroten Plakats sieht man dann die Konterfeis von Marx, Engels und Lenin. Die 68er-Revolte war ein gesellschaftlicher Rauschzustand, in dem viele glaubten, alles mit einem Röntgenblick erkennen zu können, die richtigen Führer anzubeten und nichts mehr dazulernen zu müssen, nicht die Älteren von den Jüngeren oder die Modernen von den Konservativen und umgekehrt. Man pflegte die Imagination eines inneren Kriegszustands und politischer Selbstwertgefühle, welche dazu antrieben, Worte mit neuen Vor- oder Nachsilben, wie Ismus, Isten, Ung oder Neo, zu erfinden. Allein das hielt man schon für kritisch, weil es irgendwie auch akademisch wirkte. Immerhin, das gab dem Revolutionsgeschehen einen gewissen intellektuellen Touch. So entstanden und entstehen mit Hilfe von wissenschaftsnahen assoziativen Wortbildern sehr schemenhafte Freund- und Feindbilder. Unzählige politologische Semesterarbeiten oder soziologische Diplomarbeiten und viele populärwissenschaftliche Publikationen sind in der Folge der 68er-Zeit entstanden, in denen neue, pseudopolitische und pseudoakademische Pappkameraden das Licht der Welt erblickten. Die hießen dann Neoliberalisten, Westdeutsche Revisionisten, Separatisten, Ökonomisten, Revanchisten, Konservativisten, Linksradikale, Trotzkisten, Utopisten, Imperialisten, Antiimperialisten und sehr vieles mehr.

Journalist

Wenn man die Erinnerungen Revue passieren lässt und die Erfolge bzw. Enttäuschungen gegeneinander abwägt, lohnt es dann noch, sich an die 68er zu erinnern?

Aporius

Unbedingt lohnt sich das. Durch die Beschäftigung mit der 68er-Bewegung kann man die zeitspezifischen Differenzen zwischen Ideen, Begriffen und unterschiedlichen Wahrnehmungen von Lebenswirklichkeiten kennenlernen. Es geht um die ganz widersprüchlichen Konstruktionsmerkmale von Kultur und Politik, von dem, was man will, was man denkt, wie man denkt, fühlt oder spricht, von dem, was man als Gruppe ist, was man selbst ist, und dem, was sein kann, sein könnte oder sein sollte.

Viele 1968er hatten bei dem, was sie dachten und taten, einen festen Glauben an sich selbst und daran, moralisch im Recht zu sein. Die Rebellion war in dieser Hinsicht zweifellos ein Mutmacher für viele Menschen. Auch nur das „Ausflippen“ ohne Perspektive gehörte dazu. Andererseits hat man sich auch, teilweise sehr drastisch und angstmachend, über Menschen, Glauben, Natur, Gesellschaft, Organisationen und Zwänge moralisch hinweggesetzt. Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sind dabei einige Male, wahrscheinlich unfreiwillig, aufs Spiel gesetzt worden.

Der 68er-Mensch und die 68er-Gruppe hatten ihre monadischen Eigenarten. Jede Monade war ein winziger Teil des Kosmos und wollte diesen bewegen. Der revolutionäre Weg war das Reiseziel. Wer auf den „Irrfahrten des Odysseus“ nicht mitmachte, wurde auf der nächsten Insel abgesetzt oder suchte sich einen Hafen, in dem er ankern konnte.

Journalist

Kann man von den 68ern politisch etwas lernen?

Aporius

Man kann lernen, wie politische Entwicklungen und politisches Denken in ihren Ursprüngen funktionieren. Der Ausgangspunkt von Politik sind die antiautoritäre Revolte und die kämpferische Inszenierung von Interessen und Gefühlen, die dann politische Reformen oder andere Reaktionen hervorbringen können.

Durch Gefängnisrevolten können Verhältnisse nicht unmittelbar verändert werden. Vor allem der Habitus der Gefängnisinsassen stört und kann sein Ziel verfehlen. Revolten haben stets auch die Eigenart, alle vermittelnden Instanzen zwischen Menschen, Gesellschaft, Familie, Institutionen, Traditionen oder Ethnien entwerten zu können. Die Idee der Zukunft passt dann nicht richtig mit der Vergangenheit und der Gegenwart zusammen. Nur wieder die Stärksten gestatten sich dann die notwendige Struggle-for-Life-Mentalität, um erfolgreich zu werden. Der politische Druck der Oppositionellen und Herrschenden, die Proteste und die Gegenproteste auf den Straßen, bringen zunächst nur sehr fragwürdige Verständnisse von Basisdemokratie hervor. Diese kann dann auch reaktionär oder terroristisch werden, wie wir das in allen Facetten aus den weltweiten Revolutionsgeschichten kennen, wenn zur „Entgrenzung des Gewaltbegriffs“ und zur „Entfesselung der Demokratie“ nicht auch das prinzipiell utopische und gefährliche Potenzial des Demokratieverständnisses immer wieder neu entdeckt wird.

Journalist

Der Historiker Götz Aly behauptete, es gäbe Parallelen zwischen dem Jahr 1968 und dem Jahr 1933 in Deutschland. Ist der historische Vergleich zulässig?

Aporius

Nein, das ist er nicht. Der Vergleich ist frech, völlig abwegig und autoritätsunkritisch. Aly liebäugelte wahrscheinlich mit einigen seiner Leser und Rezensenten. Der Vergleich ist so gestrickt, als wäre ich Gast auf einer amerikanischen Tea-Party, auf der jemand ein Plakat mit dem Bild von Obama neben Hitler und Stalin hochhält. Schiefe Vergleiche und falsche politisch-historische Analogieschlüsse sind das Verhängnis von Geschichtsschreibung.

Journalist

Das Attentat auf Rudi Dutschke und der Tod des FU-Studenten Benno Ohnesorg hatten die 68er ein zweites Mal mit Brutalität, Verbrechen, Medienexzessen und gelenkten Öffentlichkeit konfrontiert. Inwiefern hatte das Attentat Rudi Dutschke selbst verändert?

Aporius

Dutschke wurde am 11. April 1968 durch drei Schüsse des Gelegenheitsarbeiters Bachmann aus Peine lebensgefährlich verletzt. Bernd Rabehl machte dann im Audimax der Technischen Universität den Springer-Konzern und den Senat von Berlin für das Attentat verantwortlich, so als hätten diese Herrn Bachmann beauftragt.

Das Attentat hatte Dutschke so schwer verletzt, dass es Monate dauerte, bis er durch intensive Therapien wieder sprechen lernte. Bei Rudi Dutschke war vor dem Attentat vieles dadaistisch, leidenschaftlich, anarchistisch, spontaneistisch, politisch frivol und im positiven Sinne unsolide. Als kritischer „Volkstribun“ hatte er hemmungslos Affektlagen und Stimmungen ausgenutzt, um Mut zur Revolte zu machen. Es ging ihm darum, Feuer in die Köpfe zu bekommen. Nach dem Attentat wurde vieles bei ihm dann sehr viel ernsthafter und, wenn man so will, auch akademischer.

Journalist

Ein anderer 68er-Rebell neben Rudi Dutschke war der schon angesprochene Bernd Rabehl. Stört es sehr, dass der spätere FU Professor dann auch in rechten Polit-Veranstaltungen aufgetreten ist?

Aporius

Mich persönlich stört das. Rabehl war anders als Dutschke, wie ich meine, ein wirklich überzeugender Intellektueller. Er war kein akademischer Trittbrettfahrer. Er war als 68er-Akademiker auf der Suche nach Praxisanschluss und Realitätstests für seine Theorien. Am Ende suchte er sehr eigenwillig nach persönlichen Auftrittsmöglichkeiten und politischem Anschluss. Offenbar ist er dabei dann auch über die NPD gestolpert. Rabehl ist heute ein FU-Veteran der Bewegung. Ihr Chronist ist Siegward Lönnendonker, der das APO-Archiv an der FU Berlin gründete, das heute im Universitätsarchiv der Freien Universität sorgsam gepflegt wird. Politisch betrachtet haben Dutschke, Rabehl und viele andere 68er-Vordenker den Rechts- und Sozialstaat meistens nur in einem strikt nationalen Rahmen gesehen. Das war aber schon damals weder links noch rechts. Was lernen wir daraus? Vor dem Rechts- oder Linkssein sein schützen keine Polizei, keine Bürgerwehr und auch keine Revolutionäre, sondern nur Bildung, Geschichtsbewusstsein und die internationale Sicht auf die Welt.

Journalist

Rabehl hat 1998 vor der Münchner Burschenschaft Danubia, die der Verfassungsschutz als rechtsextrem eingestufte, einen Vortrag gehalten. Auch der Philosoph Peter Furth hatte dort referiert. Ist es dann nicht nachvollziehbar, dass man damit den Argwohn derer erregt, die über das positive und kritische Erbe der 68er-Bewegung nachdenken wollen?

Aporius

Die „Bogenhausener Gespräche“ bei Danubia haben wohl eine gewisse Tradition. Es geht bei denen um Schwarz-Rot- Gold. Unter dieser Flagge marschieren gelegentlich auch gute Leute, die gänzlich unverdächtig sind.

Journalist

Horst Mahler zählte ebenfalls zu den Danubia-Referenten. Was halten Sie von seinen Vorstellungen und biografischen Brüchen?

Aporius

Mahler wurde durch die Ereignisse der 68er und Nach-68er Zeit zunehmend verwirrter. Er blinkte am Anfang links, um dann vollends nach rechts abzubiegen. Das führt im Allgemeinen zu Unfällen. Solche Unfälle gehören zum Schicksal Deutschlands und zum Schicksal vieler eigensinniger, idiosynkratischer und hypersensibler Köpfe.

Journalist

Gibt es einen 68er-Rebellenführer, der seiner politischen Linie treu geblieben ist? Ich denke dabei zum Beispiel auch an Otto Schily?

Aporius

Schily war kein Anführer. Er war auch kein echter Rebell. Er war und ist, wie Horst Mahler, Jurist. Aber anders als Mahler dachte er stets juristisch korrekt und ist wahrscheinlich auch deshalb ein biografisches Erfolgsmodell der 68er-Zeit geworden, ganz gleich, ob man das nun mit Kontinuitäten oder mit Brüchen beschreibt. Er lebte meines Erachtens nicht wirklich im 68er-Revolutionsmilieu, in dem er intellektuell auch nicht gefordert schien. Er gehörte zu denen, die weiterdachten, sich persönlich weiterentwickeln wollten und echte politische Alternativen suchten. Das gilt beileibe nicht für alle 68er, aber für eine respektable Zahl von Mitgliedern der späteren Grünen, wie Hans-Christian Ströbele, Claudia Roth oder Joschka Fischer, die ihre Wurzeln in der 68er-Zeit hatten und aus denen dann ganz besondere, kosmopolitische Gewächse entstanden sind. Wiederum andere 68er wurden Hippies, die sich weitgehend aus dem beruflichen und politischen Leben ausklinkten. Die Berliner Kommune I war eine kulturpolitische Wohnform, die man als Gegenmodell zur bürgerlichen Kleinfamilie sah. Sie befand sich übrigens zuerst, im Februar 1967, in der leerstehenden Wohnung des Schriftstellers Hans Magnus Enzensberger in der Fregestraße 19. Enzensberger war zu diesem Zeitpunkt zu einem längeren Studienaufenthalt in Moskau. Die Mitglieder der Kommune I machten stets ihre ganz eigenen, sehr eigenwilligen Proteste, auch als sie sich im Rahmen von studentischen Aktionen an der Verbrennung des großen Holzwappens der FU Berlin beteiligten. Studiert haben die Kommunarden nicht. Das Akademische und die Universität waren nur ihr Kulturspielplatz. Schily dagegen hatte nie diese Schere im Kopf, die Kampf und Theorie, Praxis, Universität und Gesellschaft zerschneiden kann.

Journalist

Wie sind die späteren politischen Karrieren von Otto Schily und Joschka Fischer zu erklären? Warum sind die beiden persönlich und politisch so erfolgreich gewesen?

Aporius

Wenn Erfolg eine Momentaufnahme von Prominenz ist und man ihn an öffentlichen Auftritten oder dem politischer Rangabzeichen misst, sind Schily und Fischer, in der Tat, außerordentlich erfolgreich gewesen. Für solche persönlichen Politkarrieren gibt es keine Patentrezepte, allenfalls gewisse Erklärungsmuster. Im Grunde sind beide deutschen Spitzenpolitiker 68er-Originale mit einem antrainierten Charisma gewesen. Was sie allerdings voneinander trennte, war ihr unterschiedlicher Habitus und nicht nur der. Auch intellektuell und persönlich trennte sie wahrscheinlich mehr als das, was sie miteinander verband. Ihre anfangs gemeinsame und später dann unterschiedliche Parteipräferenz war zweifellos der konsequenten persönlichen Karriereorientierung geschuldet. Karrieren sollte man deshalb keinesfalls mit Visionen oder Weltanschauungen verwechseln. Karrieren nennt man heutzutage Realpolitik. Für Fischer galt jedenfalls: „Regieren geht über Studieren“ (sein Tagebuch 1987).

Journalist

Wie kann man die Frage nach der Gewalt bei den 68ern beantworten?

Aporius

Die Rote Armee Fraktion (RAF) war sehr gewalttätig. Sie wurde von Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Horst Mahler, Ulrike Meinhof und anderen im Jahr 1970 gegründet. Die Mitglieder der RAF waren am Ende verantwortlich für 34 Morde, mehrere Entführungen, zahlreiche Banküberfälle und einige Sprengstoffattentate mit einer Vielzahl von Verletzten. Zwischen den 1970er und 1990er Jahren gab es insgesamt etwa 60 bis 80 Mitglieder. Die RAF war die üble Nachgeburt der 68er-Zeit. Ihre Mitglieder und Sympathisanten hatten Gewaltphantasien gegen das gesamte deutsche System und seine Menschen. Die 68er-Durchschnittsrebellen definierten, anders als die RAF, eine spezielle Grauzone von Gewalt und Gewaltbereitschaft, wenn wir zum Beispiel an die Unterscheidung zwischen Gewalt gegen Sachen und Gewalt gegen Menschen denken. Das ist die übliche revolutionäre Sprechblase, die zum Legitimationsritual und zum Handwerkszeug aller politischen Rebellen zu jeder Zeit gehört.

Alle 68er haben im Deutschland der Nachkriegszeit gespürt, wie konkret und schmerzhaft das Gewalt- und Meinungsmonopol des Staates mit seiner gesellschaftlichen Gefolgschaft werden kann. Alle haben dabei auch gespürt, dass es im zwischenmenschlichen, gesellschaftlichen und politischen Zusammenleben Situationen gibt, die Entscheidungen in Form von Gewalt hervorbringen oder sogar erfordern können. Das ist der Revolutionsalltag, aber noch lange kein Grund, alle Zivilisationsschwellen zu überschreiten, wie Bader, Ensslin, Meinhof und andere es taten.

Nach ihrem Staatsexamen zur Volksschullehrerin an der Pädagogischen Hochschule Schwäbisch Gmünd im Jahr 1964 studierte Gudrun Ensslin, das spätere RAF-Mitglied, Germanistik an der Freien Universität Berlin. Sie erhielt für ihre Doktorarbeit über Hans Henny Jahnn ein Promotionsstipendium der Studienstiftung des deutschen Volkes. Im Werk des Schriftstellers Jahnn geht es um die Verweigerung der Moral und die Überhöhung des Menschen, wie der Literaturkritiker Ulrich Greiner formulierte. Verweigerung und Überhöhung wirken im Spiegel der RAF so grotesk und tödlich, wie wenn man die Marx’sche „These über Feuerbach“, dass die Philosophen die Welt nur verschieden interpretiert hätten, es stattdessen aber darauf ankäme, sie zu verändern, aus allen notwendigen historisch-soziologischen Kontexten der Interpretation herausreißt und sie zu einer allgemeinen Wahrheit machen würde.

Journalist

Wie stark ist heute, ihrer Meinung nach, die Gewaltbereitschaft bei den Linken in Deutschland?

Aporius

Wenn wir uns die aktuellen, linksautonomen und sehr militanten Auseinandersetzungen in Hamburg oder auch anderswo in Europa anschauen, kann man davon ausgehen, dass die aufgestaute Wut heute vielleicht sogar noch größer als damals ist, wenn man Wutzustände überhaupt miteinander vergleichen kann und darf. Jedenfalls, anders als in der 68er-Zeit ist heute der Umfang der pressemäßigen Berichterstattung viel kleiner und dadurch die Aufmerksamkeit geringer geworden.

Journalist

Wie stark war der Antikommunismus bzw. der Antistalinismus in der 68er-Bewegung?

Aporius

Viele 68er waren Antikommunisten und Antistalinisten, wenn man zum Beispiel an Zitate über den „real existierenden Sozialismus“ in der DDR oder in der Sowjetunion denkt. Vielen 68er-Aktivisten wurde die „Einreise“ in die DDR verweigert. Kaum ein führender Vertreter der Bewegung ist wahrscheinlich je in der Sowjetunion gewesen. Aber alle kannten damals den DDR-Liedermacher Wolf Biermann. Das war der kulturelle „Verbindungsmann“. Für „Chausseestraße 131“, Biermanns erstem Musikalbum, erhielt er 1969 den Fontane-Preis und den Kulturpreis des Landes Berlin. Biermann, ebenso wie Peter Schneider, stiftete seinen Preis der Außerparlamentarischen Opposition (APO). Biermann überwies 10.000 DM an den APO-Anwalt Horst Mahler. Biermann war das Gesicht der 68er in der DDR. Peter Schneider ist heute der anspruchsvolle 68er-Kulturlinke im Westen und der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger der herausragende 68er-Intellektuelle. Enzensberger wäre zweifellos ein Juwel in jeder deutschen Universität geworden, wenn er denn eine Universitätslaufbahn eingeschlagen hätte. Leider hätten wir aber in diesem Fall auf viele großartige Bücher und Gedichte verzichten müssen.

Die meisten 68er Kultur- und Bewegungslinken haben den Konservatismus der traditionellen Ostblock-Linken stark kritisiert. Der „Brudersozialismus“ der DDR war für sie eine erstarrte politisch-etatistische Linksdoktrin. Die Wahrnehmung von Maos China war dagegen ganz anders. Als Maoist ist man auf einen bodenständigen Antiintellektualismus unter dem Mäntelchen des Internationalismus hereingefallen. China war schon damals weiter weg gewesen als die DDR oder die Sowjetunion. Das schuf einige Illusionen.

Journalist

Warum konnten damals so wenige 68er-Aktivisten etwas mit linken Akademikern und Philosophen wie Jürgen Habermas anfangen? Seine Theorie des kommunikativen Handelns hätte der Bewegung doch im Prinzip ganz gut getan.

Aporius

Nur wenige politische Köpfe unter den 68ern konnten und wollten überhaupt etwas mit Sprachphilosophie anfangen. Der linke 68er war ein überzeugter Materialist. Er hat ganz ordentlich die Kategorien Arbeit und Klasse in den systemtheoretischen Mittelpunkt seiner Überzeugung gestellt. Habermas war deshalb für viele 68er und Nach-68er ein „kommunikationstheoretischer Verdünner“ des historischen Materialismus. Er war beileibe kein Gegner des Kämpferischen, obwohl er Im Jahr 1967 vor einem „linken Faschismus“ der APO warnte. Er wollte, mit allem was er sagte, Gewalteskalationen diskreditieren und suchte gesellschaftliche Zusammenhänge für eine langfristige Strategie massenhafter Aufklärung. Leider versteht bis heute kaum ein alt gewordener politischer 68er, was Habermas eigentlich unter Argumentationstheorie und dem Ausweis normativer Grundlagen von Theorie, Denken, Kommunikation und Sprechen versteht. Sein „herrschaftsfreier Diskurs“ ist eine großartige, philosophische, kommunikationstheoretische und ausgesprochen moderne Idee. Die damaligen Ideen des „Spätkapitalismus“ dagegen sind unmodern geworden. Viele 68er verstanden Sartre, aber nur wenige Camus.

Der „herrschaftsfreie Diskurs“ von Habermas war keine Befindlichkeit oder gar ein Teil des politischen 68er-Konzepts. Viele politische Gespräche unter 68ern glichen Bluttransfusionsexperimenten, bei denen man die eigene Blutgruppe und die Blutgruppe seines Gegenübers vorab geraten hat.

Journalist

Gibt es etwas, was die Berliner 68er bereuen müssen?

Aporius

Ja, da gibt es einiges, wie ich finde. Was mich persönlich am meisten stört, ist die Bierernsthaftigkeit, mit der man damals seine politischen Positionen vertrat und keinen gegenkritischen oder auch eigenkritischen Widerspruch duldete. Das Verhältnis einiger 68er zu großen Intellektuellen, wie zu Habermas oder auch zu Theodor Adorno, war schwierig. Man nannte in der Berliner Szene Adornos Anhänger damals die „Frankfurter Adornisten“. Das ist auch wieder so eine Ismus-Konstruktion, die als eine scheinakademische Schulenbildung daherkommt. Adorno, der die Rolle der Studenten mit der der Juden verglichen hatte, sah sich Vorwürfen ausgesetzt, er sei ein Reaktionär und Verräter gewesen. Solche Vorwürfe sind ungeheuerlich. Der FU-Soziologieprofessor Urs Jaeggi schrieb auch deshalb seinerzeit ein Buch mit dem Titel „Versuch über den Verrat“. Der Verräter ist der einzelne Treuebrecher. Er ist für Jaeggi gleichzeitig das skandalöse, bewunderte Wesen, das in jeder kleinen Gruppe und in jeder großen Gemeinschaft tätig ist, die allerdings auch stets selbst verräterische Eigenschaften hat.

Die Stärke der Arbeiterbewegung ist das starke Motiv, traditionelle Gemeinsamkeiten und Loyalitäten zu bewahren und festzuhalten, um zu verhindern, dass der Mensch eine atomistische Arbeitskraft, ein einsamer Denker, eine Reichtumsmaschine oder eben ein Verräter wird. Dieser überwiegend positiven Seite des Marxismus konnten viele 68er-Marxisten nichts abgewinnen. Man pflegte stattdessen die eigene Avantgarde-Haltung. Das politische Solidaritätsgefühl endete schon an den Rändern ganz kleiner sektiererischer Grüppchen. Das spürten viele deutsche Bürger und wendeten sich angeekelt ab. Die 68er-Solidaritätsbereitschaft und das Gefühl von Gemeinschaft waren organisch und mechanisch stark eingeschränkt und galten häufig nur der eigenen Splittergruppe. Das ist dem Verständnis von Disziplin und Konkurrenz in den modernen Parteien und dem heutigen Gefühlsleben von schwarzen, roten, gelben oder grünen Politstrategen nicht unähnlich.

Journalist

Welche Konsequenzen sollte man aus der 68er Bewegung und ihren Folgen für sein eigenes politisches Denken ziehen?

Aporius

Zu allererst muss man feststellen, dass der Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit und der Kultur weit über die Lebenszeit eines einzelnen Menschen, einer politischen Gruppe und sogar über die Halbwertzeit einer epochalen Bewegung hinausreicht. Das kann man gut am Beispiel des 68er-Rebellariums verdeutlichen. Zweitens sollte man unbedingt festhalten, dass man durch Freiheitsrevolten eine Menge Dinge bewegen und positiv anstoßen kann. Man kann mit einer gewissen Berechtigung sagen, ähnlich wie Albert Camus, dass Revolten in diesem Sinne permanent notwendig sind. Revolten und „Scheinrevolutionen“ können drittens aber auch anmaßend, eigensinnig und dadurch tendenziell überflüssig werden. Die aber vielleicht wichtigste Erkenntnis lautet: Die 68er-Revolte war eine vielgestaltige, kulturelle und weltweite Stimmung. „There‘s a whole generation with a new explanation“. Auf dieser Welle schwammen auch die Berliner 68er, und viele machten dabei ihren Freischwimmer.

Ein politisch-revolutionärer 68er-Neuanfang in der Bundesrepublik Deutschland und in Westberlin, basierend auf einer vielgestaltigen kulturellen Stimmung junger Leute in der ganzen westlichen Welt, ohne eine politische Basis bei den Etablierten und den Älteren im Lande, zudem auch noch ohne viel Selbstskepsis und fast ohneTheorieanschluss: Das kann man dann bestenfalls avantgardistisch nennen.

Die Studentenrevolte wollte die Veränderung von Politik und den Tigersprung vom Reich der Notwendigkeit ins Reich der Freiheit vollziehen. Diese Revolte ist heute Geschichte. Der Traum von Revolution ist ausgeträumt. Was gelang, waren Anstöße zur Revolutionierung des Alltags, zur Schaffung neuer Milieus, in denen alternative Zeitungen und Verlage entstanden, kommunale Kulturzentren, Frauenhäuser, Dritte-Welt-Gruppen, Boykottinitiativen und ökologischer Landbau. Und das ist doch schon eine ganze Menge.

Der Poet Erich Fried hat in einem seiner Wutgedichte unter der Überschrift „Die Feinde“ über die 68er-Zeit gesagt, dass sie keine Antworten wüssten auf ungefragte Fragen, ein ungelebtes Leben besingen würden, nicht sehen zu müssen, wofür und wogegen sie leben und doch auf Morgen hoffen, ohne Wissen von Heute und Gestern, allen Lügen und Täuschungen offen, die seien seine Brüder und Schwestern. Das ist, wie ich finde, so herum oder so herum gesehen, sehr zutreffend beschrieben und noch dazu poetisch.

Journalist

Gibt es ein besonderes Stichwort, das ihrer Meinung nach überhaupt nicht zu den politischen 68er-Aktivisten passt?

Aporius

Bescheidenheit.

Journalist

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Noel und Heumann telefonierten an ihrem zweiten Lesetag wieder relativ pünktlich miteinander, genau um 19.12 Uhr. Heumann sagte zu Beginn, dass man ja nun schon die üblichen Verdächtigen gefunden habe und dass man eine ganze Reihe von Widersachern und Tatverdächtigen ausmachen könne. Er sei aber enttäuscht darüber gewesen, dass das ganze Kapitel über das 68er-Rebellarium so kurz gehalten sei. Er hätte, zumindest im Prinzip, gerne noch mehr über die Zeit erfahren. Diese Zeit sei für ihn persönlich eine sehr aufregende Zeit gewesen, mit viel Kritik, vielen Protesten und vielen linkischen Aktionen, wie er sich ausdrückte. „Es war augenscheinlich auch so, als wären die 68er viel mit sich selbst beschäftigt gewesen“, fügte Heumann noch hinzu. Es käme ihm aber letztlich so vor, als wenn Aporius gar nicht sehr viel mit der 68er-Revolte anfangen könne. Umgekehrt wäre aber auch eine gewisse Sympathie seinerseits erkennbar.

„Diesen Eindruck habe ich auch“, meinte Noel. „Wir erkennen viele traditionelle Feinbilder, Anarchisten, Politiker, Alternative und radikale Querdenker aller Art. Das müssten dann heute aber alles Veteranen sein. Es ist deshalb schwer vorstellbar, dass sich diese Veteranen durch den TU-Professor Aporius auf den nicht getragenen Schlips getreten fühlen könnten. Aber eins dürfen wir auf keinen Fall vergessen: Schlussendlich geht es auch um Terroristen und einschlägige Sympathisanten der RAF, wie Mahler und andere.“

„Das, was uns Aporius in diesem Kapitel erzählt, sind doch alles nur Gemeinplätze. Das steht schon im Untertitel des Kapitels. Dort steht zwar ‚Plätze der Rebellion‘, aber gemeint sind wahrscheinlich Allgemeinplätze“, sagte Heumann, der augenscheinlich zur Gruppe der konzentrierten Über- und Unterüberschriftenleser gehörte. Heumann und Noel waren schließlich gemeinsam der Auffassung, dass das gesamte Aporius-Gespräch über das Rebellarium die ganze 68er-Sache eher verharmlosen würde. Damals sei schließlich mit harten Bandagen gekämpft worden. Sie überlegten dann, wie alt der mit 62 Jahren ermordete Aporius 1968 eigentlich gewesen war. „1950 geboren, Aporius war also 18 Jahre alt. Die 68er-Bewegung erreichte ihn in der Abiturientenzeit“, rechnete Noel vor. „Eines muss ich Ihnen bei dieser Gelegenheit beichten“, schob er hinterher. „Auch ich habe damals hunderte Male ‚Gimme Shelter’ von den Rolling Stones gehört und später dann angefangen, alte Stones-LPs zu sammeln. ‚Get Yer Ya-Ya’s out’‚ ‚Through The Past, Darkly’, ‚Their Satanic Majesties Request’ oder ‚Let It Bleed’, wo ‘Gimme Shelter’ drauf ist. ‘Let It Bleed‘ ist bei Decca 1969 rausgekommen und das achte Studioalbum der Stones.”

„Großartig, was Sie alles wissen“, antwortete Heumann. „Nicht nur die 68er Hippies, linken Politprofis und professionellen Flugblattschreiber könnten durch das Aporius-Gespräch irritiert sein, sondern also auch Sie als Stonesfan. Zur Irritation gibt es tatsächlich sehr viele Redepassagen. Im Grunde kommen irgendwie alle nicht besonders gut weg, besonders die Karrieristen und die Politiker. Aporius argumentiert im Grunde unpolitisch, so, als wenn er das Politische gar nicht mag“, sagte Heumann. „Aber selbst für alle Irritierten und Kritisierten zeigt Aporius dann auch wieder eine gewisse Sympathie. Biermann, Schily, Rabehl oder auch unser ehemaliger Außenminister Joschka Fischer kommen als mögliche Täter nicht in Frage. Und Rudi Dutschke ist an den Spätfolgen des Attentats vor dem Mord an Aporius verstorben“, ergänzte Heumann kategorisch. „Leute wie Schily und Fischer wird so eine kurze Darstellung des 68er-Rebellariums wenig interessieren. Die sind persönlich-politisch beteiligt gewesen. Dabei sind sie dann Täter und Opfer genug geworden. Die morden höchstens noch in ihrer Autobiografie. Ich vermute, dass die linke Polit- und Kulturprominenz auch gar nicht die Zielgruppe von Aporius ist. Aber eines müssen wir unbedingt festhalten: Für viele Konservative und viele Traditionelle in allen deutschen Parlamentsparteien, von links bis rechts, sind diese 68er-Protagonisten auch heute noch die Fremdartigen und Fehlgeleiteten schlechthin.“

Beide Kommissare einigten sich dann darauf, dass die Äußerungen von Aporius eigentlich für alle kein echtes Problem darstellen können, vor allem auch, weil alles nicht aggressiv und dramatisch genug vorgetragen sei.

Noel kam wieder, wie schon beim ersten Kapitel der „Fenster im Turm“, auf die Frage zurück, was denn überhaupt die Intention von Aporius sei, und was der denn eigentlich mitteilen wolle. „Ich glaube, dass es Aporius nur darum geht, den Platz eines Rebellariums in einer Kulturanthropologie zu beschreiben“, sagte er. „Die 68er-Bewegung wird von Aporius nur als Beispiel für ein Rebellarium in Erinnerung gerufen. Aber selbstverständlich hat diese 68er-Revolte tatsächlich auch die Politik, die Kultur und die Universitäten in Berlin stark beeinflusst. Aporius denkt irgendwie immer doppelgleisig. Er hätte im Prinzip auch Galileo Galilei, Martin Luther oder andere Kämpfer gegen die Dogmen der katholischen Kirche nehmen können. Sogar der Dreißigjährige Krieg von 1618 bis 1648 ist ein Rebellarium gewesen. Rebellionen oder Revolutionen sind der Widerstand gegen Herrschende und in diesem Sinne immer mehr als nur historische Beispiele. Revolten und Revolutionen sind Markierungspunkte der Geschichte. Die 68er-Revolte ist deshalb auch heute noch ein fester Bestandteil der Berliner Kultur, der Berliner Politik und der Berliner Universitäten. Man kann diese 68er kritisieren, bekämpfen oder glorifizieren. Aus der Welt schaffen kann sie keiner mehr, weil man die Erinnerungen nicht töten kann. Erinnerungen können nur höchstpersönlich absterben oder in Geschichtsbüchern verrotten. So etwas Ähnliches kennen wir als Kripo-Beamte doch auch. Der Täter revoltiert gegen sein Opfer. Die Opfer erinnern sich später dann an die gehassten oder geliebten Täter, wenn sie denn noch unter den Lebenden weilen, bei klarem Verstand sind oder die Kriminalakten ordentlich aufbewahrt und gelesen werden.“

„Verstehe ich nicht“, entgegnete Heumann.

„Müssen Sie auch nicht“, war Noels überhebliche Reaktion auf Heumanns Verständnislosigkeit. Noel wollte damit eigentlich nur das Gespräch beenden, weil er inzwischen genug hatte von Rebellen und Revolten und ein anderer dienstlicher Termin sehr konkret vor seiner Tür stand. Heumann reagierte freundlich auf Noel Abschiedsüberheblichkeit und fragte nur noch kurz, ob er denn früher auch ein Rebell gewesen sei.

„Natürlich war ich das. Wäre ich sonst bei der Kripo gelandet?“, meldete Noel zurück.

Heumann hielt die Antwort für völlig ausreichend und sagte nur noch: „Wir haben viele Feinde und Freunde der 68er-Rebellen kennen gelernt. Ein konkretes Motiv für den Mord an Professor Walter Aporius, 45 Jahre später, haben wir aber leider beim besten Willen nicht finden können.“

Die 13. Karte

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