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Kunst und Inspiration
ОглавлениеDas dritte Aporius-Kapitel ist eine Reise zu zwei berühmten Schauplätzen des europäischen Kunst- und Kulturbetriebs. Es heißt im Untertitel „Über Kassel nach Venedig und zurück nach Berlin“.
Journalist
In welcher Form sind Sie ganz persönlich mit Kunst verbunden?
Aporius
Dadurch, dass ich selber Bilder male, Musik höre, ins Theater gehe und Spaß daran habe, Gedichte zu lesen, kann ich mich recht gut in verschiedenen Formen der Künste zurechtfinden. Danke der Nachfrage. Ohne Kunst und ästhetische Erfahrung wäre meine Lebenswelt, wie auch ohne Tiere und Pflanzen, mindestens um die „Hälfte des Himmels“ ärmer.
Journalist
Sie fahren, wie Sie mir vorher erzählt haben, regelmäßig zur Documenta nach Kassel und zur Biennale nach Venedig. Ist ihre Heimatstadt Berlin für Sie nicht kunstvoll und ästhetisch genug?
Aporius
Sie haben Recht. Berlin ist inzwischen das Mekka der Musikgruppen, der Kunstliebhaber und Museumsdirektoren. Berlin ist eine Stadt der kulturellen Avantgarde geworden, mit vielen prominenten und weniger prominenten Vertreterinnen und Vertreter. Berlin steht derzeit für entgrenzte Kunst und originelle Ideen, für darstellendes Spiel und vielen Lebensinszenierungen. Schauen Sie mal in die Berliner Stadtmagazine TIP oder Zitty hinein. Dort finden Sie dann möglicherweise alles, wie ein kluger Archivar im Archiv der Akademie der Künste, oder Sie finden nichts, wie ein gelangweilter, pubertierender Jugendlicher ohne Geld.
Journalist
Was sprach Sie in Kassel, auf der Documenta 13, im Jahr 2012 besonders an?
Aporius
Immer wieder begeistert mich, wenn ich nach Kassel komme, die Pflege des Erbes der Brüder Grimm und deren Einbettung in die Kultur der deutschen Märchenstraße. Durch die Grimms und andere ist die Germanistik als Universitätsfach zum Anfang der 19. Jahrhunderts in der Berliner Universität fast wie ein Märchen entstanden. Die Kasseler Documenta ist eine ebensolche märchenhafte Erscheinung. Sie gehört zweifellos in die weltweite Reihe der bedeutendsten Präsentationen zeitgenössischer Kunst. Seit 1955, inzwischen im Turnus von fünf Jahren veranstaltet, schüttelt sie die Menschen, die die Kunstwelt betreten, immer wieder durch.
Ob in ärmlichen und nach Kunst dürstenden Nachkriegszeiten in Deutschland, ob in den 1960er- und 1970er-Jahren der Revolte, ob in unbeschwerteren Zeiten am Ende des 20. Jahrhunderts oder zur Zeit des durch Globalisierungen geprägten Jahrhundertwechsels, die Documenta ist immer mit dabei. Die Geschichte der Documenta ist eine Geschichte kreativen Zeitgefühls, eine Geschichte des Zweifelns, der Skandale, der Erneuerung, der künstlerischen Erkenntnisse und Produktivkräfte sowie des Fortschreitens der Kunst als einer Gesellschaftsphänomenologie. Die Documenta ist eine Erfolgsgeschichte besonderer Art, die ich vergleichbar an deutschen Universitäten zurzeit doch sehr vermisse.
Journalist
Die Documenta widmet sich dem Formen der Künste und auch der künstlerischen und kunstwissenschaftlichen Forschung, ohne sich jedoch letzterer „unterzuordnen“, wie die Organisatorin der Documenta 13, Frau Christov-Barkargiev, formulierte. Außenstellen der Documenta befanden sich im Jahr 2012 in Kabul und Bamiyan in Afghanistan, in Alexandria und Kairo in Ägypten sowie im kanadischen Banff. Das klingt doch wie eine internationale Netzwerkuniversität der Künste.
Aporius
In der Tat! Der moderne managementbezogene Begriffsvorrat scheint vergleichbar und eingrenzbar zu sein. Internationalisierung und Vernetzung mit ihren modernen Formen des Polylogs sind nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch in der Kunst attraktiv. Im Kunstbetrieb präsentiert man künstlerische Inspiration und in der Wissenschaft die kreative Begutachtung.
Was ich speziell an der Documenta mag, ist ihre Theatralik. Die künstlerischen Werke, die Menschen, die Gefühle und die Gedanken erhalten eine Auftrittsmöglichkeit.
In der Documenta 13 war nach dem Eintritt durch den gewaltigen Portikus des Fridericianums im Erdgeschoss nicht viel zu sehen. Die Eingangshalle war leer. In blendend weißem Unausgefülltsein erstreckte sich der lange Saal zur Linken. Rechts war der Künstlername verzeichnet: Julio Gonzáles. Der hatte dort schon einmal zum Ende der 1950er Jahre während der zweiten Documenta Skulpturen ausgestellt. Diesmal gab es eine andere Inszenierung, die viel über die Kunst und die Documenta 13 aussagte, aber nicht viel zeigte. Im hintersten Teil der viele Meter langen Galerie stand eine kleine Vitrine mit ein paar Briefseiten. Er habe, trotz mannigfaltiger Verpflichtungen, ja gerne eingewilligt, an der Documenta teilzunehmen, teilt der Künstler darin mit, allerdings müsse er ihr schlussendlich doch absagen. Datiert ist das Schreiben auf den Mai des Ausstellungsjahres. Eine besondere Form von Mut und Absentismus, den man derzeit Einigen in der Kunst- und auch in der Wissenschaftswelt von Herzen wünscht. Im hinteren Teil der Architektur, im Treppenhaus, das, seit dort die Butter-Honig-Pumpe von Joseph Beuys ratterte, als zentraler Ort des verästelten Ausstellungssystems zu gelten hat, wurde doch auch noch eine kleine Malerei von Julio Gonzáles gezeigt. Solche Inszenierungen mag ich, weil sie mich an viele Vorgänge in der Wissenschaft erinnern. Wie oft wird auch in der Uni etwas zugesagt, organisiert und am Ende nur erfolgreich das Scheitern oder die geringfügige Idee inszeniert.
Journalist
Was gab es noch, das Sie auf der Documenta 13 beeindruckte?
Aporius
Der Amerikaner Michael Rakowitz, geboren 1973, gehört zu den politisch sensiblen Künstlern. Sein Documenta-Werk im Zusammenhang gesellschaftlicher Umbrüche reagierte auf die im Jahre 2001 durch die Taliban zerstörten Buddha-Statuen von Bamiyan. Das Entsetzen war seinerzeit weltweit spürbar. Im Frühjahr 2012 bearbeiteten afghanische und europäische Künstler in einem Workcamp im Tal von Bamiyan gemeinsam den dortigen Travertin. Michael Rakowitz greift die Zerstörung wertvoller alter Bücher im Kasseler Fridericianum durch einen britischen Bomberangriff im Jahr 1941 auf und stellt einen Zusammenhang von Zerstörung und Wiederaufbau her. Seine Steinbücher aus dem afghanischen Travertin zeigen die Muster der zum Teil zerstörten Bücher aus dem Fridericianum und werden lebendig. Auch einige kleine Original-Bruchstücke der zerstörten Buddha-Statuen wurden ausgestellt. Es sei daran erinnert, dass die christlich-mittelalterlichen Dekorationsmuster nicht ohne die arabisch-islamische Ornamentik zu denken sind, wie man heute noch im Vergleich der Steinmetzarbeiten an islamischer Architektur sowie an romanischen und gotischen Kathedralen bewundern kann. Wir denken dabei an die Transformation der Antike und die Transformation der arabischen Welt der Wissenschaft und Kunst. Die auf der Documenta 13 ausgestellten Dekorationsmuster auf Steinbüchern verdeutlichen Grenzüberschreitungen zwischen den Kulturen und Religionen und werden so zu einer Ermahnung für bedrohte Werte, die gleichermaßen zum Hindukusch wie zu Deutschland gehören.
Journalist
Ich höre Ihnen gerne zu, wenn Sie so etwas erzählen. Bitte bringen noch ein weiteres Beispiel.
Aporius
Die Installation von Emily Jacir, 1970 in Bethlehem geboren und heute in Ramallah und New York lebend, heißt ex libris. In ex libris, einer Installation mit Handy-Fotos, geht es um die Plünderung, Zerstörung und nicht erfolgte Rückerstattung von Büchern. 1948 sind ca. 30.000 Bücher durch Israelis aus palästinensischen Wohnungen, Bibliotheken und Institutionen entwendet worden. 6.000 dieser Bücher befinden sich heute in der Jüdischen Nationalbibliothek in West-Jerusalem. Sie sind dort im Katalog mit dem Kürzel AP für Abandoned Property (Herrenloses Gut) erfasst. Emily Jacir hat diese Bücher mit ihrem Mobiltelefon fotografiert. Sie hat außerdem einige der handschriftlichen Eintragungen der ehemaligen Besitzer ins Deutsche und Englische übertragen, die in öffentlichen Räumen in ganz Kassel zu sehen waren. Die Arbeit stellt bedeutsame Fragen hinsichtlich der Rückführung von Kulturgütern.
Unter den asiatischen Beiträgen auf der Documenta 13 hat mich auch der kleine vietnamesische Pavillon hinten im schattigen Bereich der Bäume des Parks der Wilhelmsaue angesprochen. Unter dem Namen Ding Q. Le und dem Titel „Light and Belief: Voices and Sketches of Life from the Vietnam War“ wurden Tuschezeichnungen und Videos gezeigt. Da man zur Zeit des Vietnam-Kriegs seitens der Vietkong keine Foto- und Filmapparate besaß, zeichnete man. Diese offiziellen und privaten Zeichnungen vietnamesischer Künstlerinnen und Künstler wurden dort ausgestellt. Darüber hinaus wurden einige Zeichnungen in Videobeiträgen animiert und so in neuer, medialer und modernisierter Form präsentiert. Furchtbare und reizende Geschichten, mit Künstlerinterviews versehen. Die kunstvolle Transformation hat Türen und Tore der Erkenntnis aufgestoßen.
Journalist
Gab es neben den Grimm-Brüdern noch etwas Besonderes, was Sie 2012 neben und außerhalb des Kunstbetriebs der Documenta interessant fanden?
Aporius
Lassen Sie mich kurz nachdenken.
Ich habe mir das Astronomisch-Physikalische Kabinett in der Orangerie des Schlosses Wilhelmhöhe in der Karlsaue angesehen. Die Sammlung des Astronomisch-Physikalischen Kabinetts beherbergte Ausstellungen über Astronomie, Uhren, Geodäsie, Physik, Mathematik und Informationstechnik von der Spätrenaissance bis zur Industriellen Revolution. Ausgestellt wurden zur Documenta 2012 nicht nur wunderbare alte Rechenmaschinen, sondern auch ganz eigentümliche Arbeiten, zum Beispiel von Konrad Zuse. Zuse baute im Jahr 1941 nicht nur den ersten vollautomatischen, programmgesteuerten, programmierbaren und in binärer Gleitkommarechnung arbeitenden Computer der Welt, sondern er malte auch Bilder. Zuses Atelier war voller interessanter Bilder mit kühnen Stadtvisionen. Nun wissen wir, dass es seine eigenen künstlerischen Werke waren.
Journalist
Haben Sie in Kassel 2012 etwas vermisst?
Aporius
Wenn ich im Jahr 2012 gelegentlich etwas vermisst habe, dann waren das Aktualität und die Darstellung drängender Probleme bei uns im Lande. Ästhetische Kritik an Zuständen und Gedanken in Europa und in Amerika war nicht gerade üppig vertreten. Vermisst habe ich nicht die Skandalisierung.
Journalist
Was nahmen Sie speziell für die Wissenschaft und die Universitäten aus der Documenta 13 mit?
Aporius
Frappierend war für mich, wieder einmal, die Ähnlichkeiten der Innovationsdiskurse in Kunst und Wissenschaft zu entdecken. Globalthemen eines Kunstplanungszeitraums, wie bei der Documenta in Kassel, an denen man auch scheitern darf, sind auch in Wissenschaft und Universitäten wünschenswert. Einiges wird inzwischen auch schon ausprobiert: das Jahr der Mathematik, das Jahr der Geisteswissenschaften, das Jahr der Physik und so weiter. Aber vieles andere ist denkbar: ein Afrika-Jahr, ein Jahrzehnt der Lösung der Umweltfragen, das Zeitalter der Emanzipation, die Suche nach Vertrauen oder Verantwortlichkeit und ähnliches.
Man wünscht sich, dass sehr viele Gruppen aus der Universität mal eine Dienstreise zur Documenta nach Kassel machen, um durch die Kunst für die Wissenschaft zu lernen, so, wie das die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im FU-Sonderforschungsbereichs 626 „Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste“ in der Förderperiode 2007 bis 2010 konnten, Hoffentlich geschieht dann so etwas nicht nur, weil man „Drittmittel“ für die Forschung an der Kunst eingeworben hat. Selbstverständlich sollte man sich auch die Verwendung von „Erst- und Zweitmitteln“ für eine Reise nach Kassel vorstellen können, nicht zuletzt auch für Naturwissenschaftler oder Studierende der Ingenieurwissenschaften.
Wahrscheinlich ist es aber in den Unis so, dass viele noch das „Unbehagen an der Kultur“ (1930) von Sigmund Freud spüren, dass Liebe nämlich den Interessen der Kultur entgegenstehe und man nur in lebenslangem Widerstand den Drang nach Verschmelzung erzwingen müsse.
Die nächste Documenta findet übrigens vom 10. Juni bis zum 17. September 2017 statt.
Journalist
Gab es auf der Documenta Ihrer Meinung nach auch einige Manipulationen durch Bilder? Brauchen wir eine Ethik der Kunst?
Aporius
Das ist eine wirklich akademische Frage. Vielleicht hat sich der FU-Sonderforschungsbereich „Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste“ mit der Frage beschäftigt. Ich weiß es nicht. Merkwürdig ist jedenfalls, dass man sich diese Frage in einer Kunstausstellung nur ganz selten stellt. Beim Gucken von Fernsehwerbespots dagegen scheint mir diese Frage überaus virulent zu sein.
Journalist
Was hat Sie an der Documenta 13 irritiert oder gar gestört?
Aporius
Die Kasseler Documenta 13 des Jahres 2012 schrammte mit einigen ihrer Präsentationen ganz knapp, aber wahrscheinlich unfreiwillig an der Inszenierung von Banalitäten vorbei. Das passiert immer dann, wenn die Grenze zwischen Kunst und Kitsch allzu sehr verwischt. Entgrenzung durch Banalisierung stört mich aber eigentlich nicht, wenn die Idee, die Kreativität und die Inspiration stimmen. Entgrenzung in allen ihren Formen gehört ursächlich zum Kunstgeschehen und zur Organisation des Kunstbetriebs dazu. Auch die Entgrenzung durch Besuchermassen macht mir nichts aus, wenngleich die Kapazität in Kassel inzwischen auch um 100 Prozent überschritten zu sein scheint. Man wird persönlich gezwungen, durch ein kluges Zeitmanagement den Massenbetrieb zu vermeiden. Als störend empfinde ich allerdings den allgegenwärtigen Übereifer des Sicherheitspersonals und die Drangsalierung durch Verbote und Verfahrensvorschriften. Man muss sich mehrmals in einer Menschenschlange anstellen, um seinen kleinen Rucksack an der Garderobe abzugeben. Man kommt dann in die Kunsthalle und viele Frauen laufen mit riesengroßen Handtaschen herum. Sicherheits- und Organisationsdenken stehen im Widerspruch nicht nur zur Freiheit, sondern auch zu Kunst und Kreativität. Ich wünsche mir mehr Vertrauen in Besucher und Gäste sowie ein modernes Eintrittsgeldwesen.
Journalist
Welche Unterschiede sehen sie zwischen dem Konzept der Documenta in Kassel und der Biennale in Venedig?
Aporius
Haben Sie schon einmal Wenedig mit W geschrieben und sich gewundert, wie wenig originell das aussieht? Das hat natürlich überhaupt nichts mit dem Vergleich und der weltweiten Bedeutung beider Ausstellungsorte, Kassel und Venedig, zu tun.
Die Biennale di Venezia fand im Jahr 1895 zum ersten Mal statt. Inzwischen wird sie in einem Zwei-Jahres-Rhythmus veranstaltet. Man kann seinen eigenen Bio-Zyklus ziemlich gut auf den Biennale-Rhythmus abstimmen. Die Biennale wirkt auf mich durch ihre Länderpavillons einfacher strukturiert und manchmal auch internationaler als die Documenta. Ich selber darf nach Venedig weiter und länger anreisen.
Journalist
Was? Die Reise von Berlin nach Venedig ist nur ein Tagesausflug von wenigen Stunden. Die Autofahrt von Berlin nach Kassel ist zeitlich wesentlich aufwändiger. Man steigt mit Handgepäck in Berlin in einen Billigflieger, kommt in Venedig an und schaukelt mit der Fähre oder dem Wassertaxi in einer halben Stunde vom Flughafen in die Gardini im Stadtteil Castello, wo sich die Künstler der Biennale präsentieren. Von den Gardini ins Arsenale, dem zweiten Standort der Biennale, sind es nur wenige Schritte zu Fuß. Übernachten können Sie, wenn sie möchten, auf der vorgelagerten Insel Lido, wenn Sie dem steten Strom der Sightseeing-Touristen Venedigs entgehen wollen.
Aporius
Ja, Ja! Sie haben vollkommen Recht. Die Reise von Berlin nach Venedig kann man auch durch die Brille des Reisegottes „Lobron“ (Kurt Tucholsky) sehen, den man bekanntlich aufblasen kann. Keinem Geringeren als dem Dichterfürsten Goethe mit den langen Kutschfahrten auf seiner „Italienischen Reise“ (1786 bis 1788) ging es wahrscheinlich ähnlich wie mir.
Zur Biennale gehören übrigens auch die Filmfestspiele von Venedig, die Festivals für Musik, Theater und Tanz sowie die zweijährlich, alternierend zur Kunstbiennale, stattfindende Architekturbiennale. Die Länderpavillons auf dem Gelände der Biennale sind für mich nationale Säulen der Präsentation der kunstvollen Zeitgeister. Für mich ist der Länderbezug immer sehr hilfreich bei der Erdkugel-Orientierung in Sachen Kunst, Kultur und Erkenntnis. Im russischen Pavillon wurde 2011 der karge Innenraum eines KZ-Lagers gezeigt. Der Raum im französischen Pavillon war ausgefüllt durch eine monströse Babyproduktionsfließbandmaschine. Im ungarischen Pavillon gab ein schickes, zerbeultes Westautowrack in einem grell-roten Licht zu sehen. Im deutschen Pavillon des Jahres 2009, zwei Jahre zuvor, wurde ein karges IKEA-Kiefermöbel-Ensemble präsentiert.
Das sagt doch eine Menge über den Zeitgeist und die Wahrnehmung ganz unterschiedlicher Mentalitäten und Milieus aus.
Journalist
2011 hat der deutsche Pavillon den Goldenen Löwen gewonnen. Die fünfköpfige Jury, bestehend aus den Kuratoren Hassan Khan (Ägypten), Carol Yinghua Lu (China), Letizia Ragaglia (Italien), Christine Macel (Frankreich) und John Waters (USA), hat mit Christoph Schlingensief erstmals einen verstorbenen Künstler geehrt.
Interessant ist, dass dann die beiden Kuratorinnen Susanne Gaensheimer und Schlingensiefs Witwe Aino Laberenz geehrt wurden, weil sie dem verstorbenen Künstler eine retrospektive Werkschau organisiert haben. Wie fanden Sie persönlich die Schlingensief-Präsentation?
Aporius
Zunächst fand ich großartig, dass über dem deutschen Pavillon auf der Biennale nicht wie üblich GERMANIA sondern EGO(MANIA) stand. Das war ziemlich originell.
Die pavillionische Hommage an Schlingensief war für die Besucher wie ein Kirchenbesuch inszeniert. Das Ganze glich einem raunenden Requiem, mit Krankenbett, Röntgenbildern von Tumoren und barocker Musik. Das passte zum Leben und Wirken von Schlingensief, weil sich alles heftig widersprach, ohne jedoch dabei vordergründig ironisch oder satirisch zu wirken. Schlingensief, der während der Vorbereitungen 2010 starb, wurde zu Recht endlich einem internationalen Publikum vorgestellt. Da er selbst als Hauptperson seines Lebenswerks fehlte, ging die Auszeichnung dann also an die beiden Ausstellungsmacherinnen. Das Phänomen passt gut in die moderne Zeit, in der Kuratoren, Kulturmanager, Museumsdirektoren, Moderatoren und Präsentatoren gewürdigt werden und Preise erhalten. Geehrt werden dann die Organisation, die Veranstaltung und die Inszenierung. Hoffentlich denkt man dann auch noch an die Künstlerinnen und Künstler selbst. Das alles ist dem modernen Wissenschaftsbetrieb nicht unähnlich. Organisatoren und Manager schieben sich zunehmend in den Vordergrund und schlüpfen zuweilen die Rolle der Kreativen.
Journalist
Wo sind Sie lieber, in Kassel oder in Venedig?
Aporius
Das ist die einzige Frage, die ich ihnen eindeutig beantworten kann. Meine Präferenz liegt in Italien und weniger in Kassel im Hessenland. In Italien wirkt vieles leichter, sonniger und lockerer. Ich habe zudem den Eindruck, dass die Biennale in Venedig zuweilen mehr Kunst im traditionellen Sinne bietet, vor allem in den italienischen Ausstellungsräumen des Jahres 2011. Jungen Künstlern bot man eine großartige Biennale-Chance, die diese auch effektvoll nutzten.
Die Wände in den Ausstellungsräumen der Documenta sind nicht selten kalt und gähnend weiß, weil man der Auffassung ist, sie nur sehr gezielt artifiziell bestücken zu wollen. In Venedig des Jahres 2011 war es, künstlerisch gesehen, jedenfalls viel wärmer. Die Wände hingen voller bunter Bilder. Das war wunderbar. Das war wie bei mir zu Hause. Das italienische Leben scheint mir noch nicht gänzlich aus dem Ausstellungskonzept der Biennale verbannt worden zu sein.
Journalist
Was empfinden Sie, wenn Sie aus Venedig nach Berlin zurückkommen?
Aporius
Ich empfinde weniger Gegensätze und Unterschiede als noch vor zehn Jahren. Ich ertappe mich sogar dabei, dass ich mich manchmal in Berlin wie in einer venezianischen Dauerbiennale fühle.
Journalist
Die Liebe zur Heimatstadt und die Liebe zur Kunst sind Geschwister. Für viele Menschen ist das ein pures Selbstverständnis. Wie sieht es mit der Liebe zur Wissenschaft aus?
Aporius
Die Biologin kann wahrscheinlich von jeder einzelnen Pflanze, mit der sie arbeitet, eine intime „Autobiografie“ scheiben oder ein gutes Bild malen. Liebe in ihrer höchsten Form ist intime Aufmerksamkeit und empathische Zuwendung, wenn die Grenze zwischen Subjekt und Objekt verschwimmt. Das gibt es in der Wissenschaft genauso wie in der Kunst oder beim Verkehr unter Liebenden. Selbst der Kontakt mit einem Buch oder einem einfachen Computerpuzzlespiel können eine Zeitlang sehr intim sein.
Journalist
Herzlichen Dank für das Gespräch.
Das Telefonat zwischen Noel und Heumann über „Kunst und Inspiration“ war anders als die beiden vorangegangenen Aporius-Gespräche. Die Kommissare waren genervt vom Büroalltag. Es schien so, als wären sie glücklich darüber, gemeinsam über ein ganz anderes Thema reden zu können, welches gänzlich von ihrem Arbeitsalltag abwich oder ihm sogar heftig widersprach.
Noel hob an, wie ein Hauptkommissar zu sprechen. Er sagte, dass es im Kunst- und Kulturmilieu große Konflikte geben würde. Es gehe im Kunstbetrieb inzwischen, wie überall, um sehr viel Geld, um steile Karrieren und vor allem um den kämpferischen Willen zur Selbstbehauptung. Darüber hinaus gäbe es im Kunstmilieu die ganz großen Eitelkeiten, weil sich dort die besten Selbstdarsteller tummeln würden. Das Ganze sei ein sehr gefährliches Gemisch, das auch zum „Fegefeuer der Eitelkeiten“ werden kann. Es gehe bei der Kunst zwar um künstlerisches Schaffen, aber wie man beim aktuellen Gurlitt-Fall sehen könne, auch um die Kriegsbeutezüge von Eigentümern und Ausstellern. Aporius hätte sich bei diesen Formulierungen zweifellos missverstanden gefühlt.
Heumann fühlte sich im Gegensatz zu Noel an diesem Tag ganz anders aufgestellt. Er fühlte sich durch das Kunstkapitel inspiriert und sagte: „Walter Aporius ist bei der Kunst in seinem Element. Der Ingenieurwissenschaftler schwimmt wie ein kalter Fisch in warmem Wasser. Aporius macht reine Werbung für die Kunst. Er macht im Grunde auch Werbung für die Documenta in Kassel und die Biennale in Venedig. Ich muss gestehen, dass ich leider auch auf seine Anwerbung reingefallen bin. Ich habe nämlich Lust bekommen habe, mal dorthin zu fahren, um mir das Ganze anzuschauen. Die Künste mit ihrem Ausstellungswesen sind schon faszinierend. Ich habe gar nicht gewusst, dass die Kunst in Kassel und Venedig so politisch und problemorientiert ist. Vieles ist gar nicht langweilig, so, wie ich das bisher empfunden habe. Alles ist so tiefsinnig und international.“
Noel sortierte seine Gedanken neu, nachdem er Heumann zugehört hatte. Er ordnete das Kapitel nun, wie schon zuvor praktiziert, in den Gesamtzusammenhang des Fenster-Buches ein. Er sagte, dass es bei Kunst und Inspiration um die schöpferische Kraft gehe. Kunst, Kreativität und Inspiration seien deshalb auch Eigenschaften, die man auch in der Wissenschaft und den Universitäten unbedingt brauche, wenn er denn Aporius richtig verstanden habe. Jedenfalls wäre es für Aporius sehr schön, wenn es so wäre. Die Ordnung von Noels Gedanken endete im folgenden zusammenfassenden Satz: „Im Grunde könnten wir hier bei uns im Büro auch viel mehr Kunst und Kreativität vertragen. Das Blumenfoto an der Wand unseres Aufenthaltsraums geht mir schon lange auf die Nerven.“
„Kunst hat persönliche Hintergründe. Sie findet aber auch im öffentlichen Raum statt“, antwortete Heumann. „Deshalb fragt der Journalist am Anfang auch, in welcher Form Aporius denn persönlich mit der Kunst verbunden ist. Diese Frage hat für mich das ganze Inspirationskapitel strukturiert. Es geht um die Kunst, aber gleichzeitig auch um den Kunstbetrieb, der um die Künstler und die Kunstwerke herum veranstaltet wird. Dieser Kunstbetrieb wird von Kunstmanagern gemanagt, die sich dann inspiriert fühlen, sich selbst zu feiern und sich selber Preise verleihen.“
Noel nickte mit dem Kopf, weil er etwas Ähnliches dachte. Heumann sah das Kopfnicken von Noel natürlich nicht, weil beide sich zwar hören konnten, aber unsichtbar füreinander telefonierten.
Mit der gemeinsamen Erkenntnis, dass Kunst und Kreativität im Grunde etwas ganz Privates und Persönliches seien und gleichzeitig eine organisatorische Gestalt haben würden, und mit der zusätzlichen kriminologischen Erkenntnis, dass sich Aporius mit diesem Gespräch überhaupt keine Feinde gemacht haben könne, waren beide wiederum ausgesprochen kurz angebunden, aber dennoch sehr interessiert am nächsten Gespräch. Nichts an diesem Kapitel tat ihnen weh.