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Spaziergang
ОглавлениеDas fünfte Aporius-Gespräch findet während eines Spaziergangs über den Campus der Freien Universität in Berlin-Dahlem statt. Man lustwandelt in beschaulicher Betrachtung von Dingen und redet über Architektur, Universitätsgebäude, ihre Funktionen und gleichzeitig auch über einige wichtige wissenschaftliche Ideen und Persönlichkeiten.
Journalist
Wir wollen einen Spaziergang über den Campus der Freien Universität in Berlin-Dahlem machen. Wie lange wird unser Spaziergang dauern? Wo laufen wir los? Wo geht es hin?
Aporius
Der Spaziergang wird etwa 90 Minuten dauern und beginnt am mittleren Ausgang der „Rostlaube“ in der Habelschwerdter Allee 45. Durch die Thielallee geht es dann zum Dahlemer Campus. Ein Schlenker führt uns dann durch die Ihnestraße bis zum Henry-Ford-Bau mit der Universitätsbibliothek und dem Auditorium Maximum der FU. Dort ist unser Ziel.
Journalist
Wo befinden wir uns hier zu Beginn?
Aporius
Wir sind ganz im Südwesten Berlins, in Berlin Dahlem, einem Ortsteil des Bezirks Steglitz-Zehlendorf, an einem der Hauptstandorte der Freien Universität Berlin. Bis Mitte der 1960er Jahre wurden hier, wo jetzt die sogenannte „Rostlaube“ steht, noch Äpfel geerntet. Das Versuchsgelände für Obstbau zwischen Habelschwerdter Allee und Fabeckstraße war ursprünglich ein Teil eines Grundstücksvorrats, der vom preußischen Staat zum Anfang des 20. Jahrhunderts für eine in Berlin-Dahlem geplante Stadt der Wissenschaft angelegt worden war.
Journalist
1963 war ein junges Team aus Paris mit den Architekten Georges Candilis, Alexis Josic, Shadrach Woods und Manfred Schiedhelm Gewinner des Wettbewerbs für ein neues Hauptgebäude der FU. Candilis und Woods hatten zeitweilig bei Le Corbusier gearbeitet, und so folgte der Architektenentwurf im Ansatz Le Corbusiers proportionalem „Modulor“-System.
Was können wir als architektonische Grußbotschaft in Gestalt der „Rostlaube“ mit nach Hause nehmen?
Aporius
Das große Gebäudeensemble mit Instituten, Mensa und der Foster-Bibliothek ist 2-geschossig. Es hat ein clusterartiges Raumgefüge und ein vernetztes System allgemein zugänglicher Straßen und Wege. Wenn im Kindergarten die kleinen Jungen beim Bauklötzchenspielen Türme bauen und die Mädchen Gehege anlegen, so war das hier umgekehrt. Männer haben Gehege geplant. Architekten, Ingenieure und Bauarbeiter haben ein Universitätsgehege angelegt. Es soll ein Prinzip der Veränderbarkeit und Anpassungsfähigkeit an künftige Entwicklungen der Hochschule gelten.
Journalist
Was ist das für eine rostige Fassade?
Aporius
Die Fassade wurde in Zusammenarbeit mit Jean Prouvé entworfen. Sie besteht aus eingefassten Paneelen aus Corten-Stahl, einem Material, welches, in der richtigen Stärke eingesetzt, durch Korrosion eine wartungsfreie Schutzschicht bildet. Seinen angerosteten Anblick verdankt das Gebäude den liebevollen Spitznamen „Rostlaube“.
Leider begannen die Segmente aus Corten-Stahl, in sehr kurzer Zeit, zu stark zu korrodieren. In den späten 1990er Jahren war der Verfallprozess bereits so weit fortgeschritten, dass die korrodierten Segmente dann in einen Rahmen aus selbstpatinierender Bronze neu einpasst wurden. Die neuen Einfassungen blieben Prouvés ursprünglichen Plänen treu. Lediglich einige Details wurden verändert, um den heutigen Erfordernissen in Bezug auf Technik und Energieerhalt nachzukommen.
Journalist
Wie lange wurde gebaut?
Aporius
Die Baustelle wurde 1967 eröffnet und die „Rostlaube“ 1973 bezogen. Die angrenzende „Silberlaube“, mit einer Aluminiumaußenhaut überzogen, ist im Jahr 1978, zur Zeit der Integration der Pädagogischen Hochschule aus Berlin-Lankwitz in die FU Berlin, bezogen worden. Derzeit wird an einem Erweiterungsbau auf dem Obstbaugelände nahe der Fabeckstraße gearbeitet, der die Kleinen Fächer der FU Berlin und eine naturwissenschaftliche Bibliothek beherbergen soll.
Journalist
Was ist das für eine merkwürdige Kuppel, die mittendrin wie das Facettenauge eines Insekts aussieht? Soll das ein Gehirn sein, das dort aus dem Gebäudekomplex herauswächst? Reichlich makaber.
Aporius
Das ist die FU-Bibliothek von Lord Norman Foster. Sie wurde im Jahr 1997 ausgeschrieben und direkt in den Gebäudekomplex hineingebaut. Sechs der Innenhöfe des Universitätskomplexes wurden zusammengelegt, um Raum für die neue Philologische Bibliothek zu schaffen. Das Konzept von Forster brachte viele zentrale Themen moderner Architekturarbeit auf den Punkt: flexible Nutzbarkeit durch multifunktionale Räume, Energieeffizienz, größtmöglicher Innenraum bei kleinstmöglicher Außenfläche, leichtgewichtige Hüllen und Wände sowie die Nutzung natürlichen Lichts und natürlicher Belüftung. Das fünfstöckige Gebäude ist von einer frei geformten Außenhülle aus Aluminiumsegmenten, Belüftungselementen und doppelt verglasten Scheiben umgeben, die durch eine Stahlrahmenkonstruktion in Radialgeometrie gestützt werden. Der Hohlraum innerhalb dieser Doppelhülle erzeugt eine Art „Solarmotor“, der das natürliche Belüftungssystem antreibt. Eine Innenmembran aus durchscheinendem Glasfasergewebe filtert das Sonnenlicht und erzeugt eine konzentrierte Arbeitsatmosphäre. Gleichzeitig geben vereinzelte verglaste Öffnungen Blicke auf den Himmel und das Licht der Sonne frei. Die Regale der Bibliothek befinden sich im Mittelpunkt in jedem der vier Stockwerke. Die Arbeitstische sind außen herum angeordnet. Die Außenkanten der einzelnen Stockwerke beschreiben serpentinenartige Kurven, wodurch die Kantenlänge und damit der eingefasste Arbeits- bzw. Studienraum vergrößert wird. Da der Umriss jedes Stockwerks in Relation zu den angrenzenden Stockwerken vorstößt oder zurückgeht, entsteht am äußeren Rand ein durchgängiges Muster von Räumen mit doppelter Deckenhöhe. Es entstehen großzügige, lichtdurchflutete Arbeitsplätze. Das Bibliotheksgebäude in seiner runden und schädelartigen Form hat den Spitznamen „the Berlin Brain - das Berliner Hirn“ erhalten. In der Foster-Bibliothek stehen ca. 2.000 laufende Meter Bücher. Der Kostendeckel der Bibliothek in der „Rostlaube“ betrug stattliche 102 Mio DM. Die Ausgaben haben sich gelohnt. Nehmen Sie sich die Zeit und gehen Sie mal hinein.
Journalist
Welche Universitätsinstitute sind hier in der „Rost- und Silberlaube“ untergebracht?
Aporius
Heute beherbergen „Rost- und Silberlaube“ eine Reihe geisteswissenschaftlicher Institute und den Fachbereich Erziehungswissenschaften und Psychologie der FU Berlin. Darüber hinaus gibt es eine Mensa, ein Restaurant und eben die Foster-Bibliothek.
Wenn wir nun schräg über die Straße zur Habelschwerther Allee 34a gehen, stehen wir vor einer traditionellen kleinen Dahlem-Villa, die wie viele Villen in Dahlem durch die FU genutzt wird.
Journalist
Ach, ich sehe das Türschild. Hier sind das Alumni-Büro der FU und die Ernst-Reuter-Stiftung untergebracht. Was machen die Leute hier?
Aporius
Die FU Berlin pflegt die Kontakte mit ihren Ehemaligen. Man sucht aber zurzeit nach einem neuen Standort für die Kontaktbüros.
Journalist
Können Sie mir einige Alumni der FU nennen, die keine Wissenschaftler wurden? Die Auswahl liegt selbstverständlich in ihrem eigenen Ermessen.
Aporius
Alumni sind beispielsweise: Anne Will, Klaus Wowereit, Renate Künast, Otto Schily, Elke Heidenreich, Jutta Limbach, Dieter Hallervorden, Eckardt von Hirschhausen, Arend Oetker und viele andere Prominente. Man lädt die Ehemaligen der Universität zu Veranstaltungen ein und macht eine eigene Zeitschrift mit dem Namen „Wir“ für sie. Man bedankt sich seitens der FU gewissermaßen für die Mitwirkung in der Universität. Die Ernst-Reuter-Gesellschaft der Freunde, Förderer und Ehemaligen der Freien Universität Berlin (ERG e. V.) hat im Jahr 2007 eine neue Rechtsform erhalten. Sie heißt jetzt Ernst Reuter Stiftung der Freien Universität Berlin (ERS). Vorsitzender der ERS ist Walter Rasch, ehemaliger FDP-Senator in Berlin, der sich auch in der Stiftung Preußische Seehandlung als Förderer um die FU Berlin verdient gemacht hat. Die Ernst-Reuter-Stiftung stellt finanzielle Mittel zur Förderung von Forschung, Lehre und Studium an der Freien Universität Berlin bereit. Akademische Veranstaltungen und internationale Kontakte werden finanziell unterstützt. Darüber hinaus vergibt man Preise an Mitglieder und Absolventen der Freien Universität für herausragende wissenschaftliche Arbeiten und Publikationen mit FU-Bezug.
Journalist
Das benachbarte Institut für Philosophie der FU in der Habelschwerdter Allee 30, vor dem wir jetzt stehen, gehört zu den großen Philosophie-Instituten Deutschlands. Wer arbeitet hier bzw. hat hier gearbeitet?
Aporius
Hier wirkten Wilhelm Weischedel, Margherita von Brentano, Karlfried Gründer, Ernst Tugendhat, Michael Theunissen, Wilhelm Schmidt-Biggemann, Albrecht Wellmer, Peter Bieri und viele andere exzellente Vertreter des Fachs. Die Philosophie der FU zeichnet sich durch disziplinäre Vielfalt aus, ist auf der Internetseite des Instituts zu lesen. Die heutigen Mitglieder des Instituts forschen, lehren und studieren in der Analytischen Philosophie, der Phänomenologie, der klassischen deutschen Philosophie, zu Poststrukturalismus und zur Geschichte der Philosophie.
Die Geschichte der Philosophie an der FU kennt im Wesentlichen drei unterschiedliche historische Etappen: erstens die Gründungsgeschichte mit Hans Leisegang und Wilhelm Weischedel, mit seiner Philosophie prinzipieller Fragwürdigkeit nach der Zeit des Nationalsozialismus, zweitens die Zeit des Ost-West-Konflikts im „Kalten Krieg“ und der Studentenrevolte mit Margherita von Brentano und Jacob Taubes, drittens die moderne Sprachphilosophie, in jüngerer und jüngster Zeit, mit Peter Bieri oder Sybille Krämer. Die Auswahl der Namen kann natürlich nicht repräsentativ oder gar wertend gemeint sein.
Der Schweizer Peter Bieri (Das Handwerk der Freiheit), als Nachfolger von Ernst Tugendhat auf dem Lehrstuhl für Sprachphilosophie, lehrte ab 1993. Im Jahr 2007 zog sich Bieri, der auch unter dem Pseudonym Pascal Mercier (Nachtzug nach Lissabon) publizierte, vorzeitig in den Ruhestand zurück. Er war verärgert über den Universitätsbetrieb. Die Verärgerung kann man durch folgendes Zitat verdeutlichen: „Wenn ich mir ansehe, wer im Fernsehen oder in den Zeitungen die Helden sind, so sehe ich nur Fassaden ohne etwas dahinter. Das Gleiche lässt sich an den Universitäten beobachten, die … durch die Perspektive der Unternehmensberatung kaputtgemacht werden. Wir bekommen ständig Fragebögen: Wie viele Gastprofessuren haben Sie wahrgenommen? Wie viele Drittmittel haben Sie eingeworben? Eine Diktatur der Geschäftigkeit. All diese Dinge haben mit der authentischen Motivation eines Wissenschaftlers gar nichts zu tun.“ (Wikipedia, 2013)
Wie Sie sehen, ist es korrekt, wenn die Berliner FU-Philosophen sich auf ihrer Internetseite als Einladende zum Selbstdenken verstehen. Bieri hat das ernst genommen. Er ist ein Zeitzeuge der Suche nach individueller Freiheit und Unabhängigkeit im Wissenschaftsbetrieb, die er persönlich nicht gefunden zu haben schien.
Journalist
Was ist das für ein „philosophisches“ Gebäude, architektonisch gesehen?
Aporius
Der Architektenwettbewerb für das Philosophieinstitut wurde im Jahr 1979 ausgeschrieben und von Hinrich und Inken Baller gewonnen. Der Gebäudekomplex wurde dann 1984 fertiggestellt. Originell sind die Ornamentik der Metalleinfassungen, die filigranen Brüstungen, die bewegten Giebelschwünge und das auf gepaarten Stützen ruhende, ungleichmäßig gefaltete Betondach. Die Architektur lässt uns an ein überdimensioniertes Villen-Wohnhaus denken. Die Treppen im Inneren des Gebäudes sind als Orte der Begegnung, großzügig und freistehend geschwungen, wie man damals formulierte.
Journalist
Wir gehen nun durch den Triest Park, der zwischen der „Rostlaube“ und dem FU-Präsidialamt Kaiserswertherstraße liegt. Was ist das denn hier? (inzwischen in der Kaiserwerther Straße 16-18 angekommen)
Aporius
Die Kaiserwerther Straße 16-18 ist die offizielle Dienstadresse der FU. Hier arbeiten der Präsident, die Vizepräsidenten, der Kanzler und deren Referenten, die Pressestelle, das Rechtsamt und einige ausgewählte Management- bzw. Verwaltungsbereiche der FU.
Journalist
Das sieht mir nach Jugendstil aus. Ist das Jugendstil?
Aporius
Nein. Der Verband der öffentlichen Feuerversicherungen in Berlin entschloss sich, im Jahr 1925, ein neues und eigenes Verwaltungsgebäude im Südwesten Berlins zu planen, welches dann 1927 fertiggestellt wurde.
Das Gebäude hat einen Sockel aus Muschelkalk, kantige Pfeiler, einen wuchtigen Portikus und eine rote Klinkerverblendung. Die historischen Zeitgenossen übten heftige Kritik am „überlebensgroßen Torbau“ als einem „hohlen Pathos“, der wie ein „Fremdkörper“ zwischen den Flügelbauten aus Backstein stehe. Im Inneren des Gebäudes sieht es edel und verwaltungsmäßig zugleich aus. Im ersten Stock befindet sich ein expressiver großer Sitzungssaal. Seine Wände sind aus poliertem Rotholz. Die Decke ist aufwändig stuckiert. Einbauschränke, Heizungsgitter, Türgriffe und vieles andere mehr sind mit besonderer Kunstfertigkeit gestaltet.
Journalist
Hat das Gebäude unbeschadet den Krieg überlebt? Wie ist die Geschichte?
Aporius
Im Krieg entstandene Schäden am Dach des Gebäudes führten 1945 dazu, dass in einer beispiellosen Aktion in nur fünf Tagen, durch 250 Handwerker, alles instandgesetzt wurde. Es entstand der Sitz der obersten Verwaltungsbehörde der Siegermächte des Zweiten Weltkriegs, die Kommandantur der Alliierten in Berlin.
Zu den Zielen der Sowjets in Berlin gehörte seinerzeit auch die alleinige Kontrolle der Berliner Universität. Allerdings verließen die Sowjets nach Konfrontationen mit den anderen verbündeten Besatzungsmächten dann das Gebäude. Am 16. Juni 1948 fand die letzte gemeinsame Besprechung auf Viermächtebasis statt, und am 13. August 1948 packte das sowjetische Wachpersonal die letzten Papiere zusammen und verließ endgültig die Kommandantur in der Kaiserwerther Straße. Die Berlin-Blockade durch die Sowjets begann drei Wochen zuvor.
Nur das Bild des sowjetischen Stadtkommandanten zierte noch jahrelang die Wand des prunkvollen Sitzungssaals.
Journalist
Wann fand die letzte Sitzung der alliierten Stadtkommandanten des Westens statt?
Aporius
Nach der Maueröffnung am 2. Oktober 1990 fand die allerletzte Sitzung in der alliierten Kommandantur statt. Im Februar 1991 bekam der Verband der Feuerversicherer als Eigentümer sein Gebäude zurück. Im Januar 1994 zogen der FU-Präsident Gerlach, der FU-Kanzler Hammer, das Präsidialamt und verschiedene Verwaltungsabteilungen zur Miete ein.
Journalist
Gegenüber dem Präsidialamt in der Kaiserswerther Straße, auf der anderen Seite der Thielallee, steht der berühmte Hahn-Meitner-Bau der Freien Universität Berlin.
Aporius
Die Thielallee 63 ist das ehemalige Gebäude des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Chemie. Von den Architekten Ernst Eberhard von Ihne und Max Guth geplant, wurde es 1911/1912 in nur eineinhalb Jahren Bauzeit errichtet. Es war eines der beiden ersten Institute der im Jahr 1911 gegründeten Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (KWG).
Journalist
Das KWI Chemie erlangte dann in den Folgejahren Weltruhm. Durch Otto Hahn, Lise Meitner und auch Fritz Strassmann wurde hier, im Jahr 1938, die Kernspaltung entdeckt.
Aporius
Lise Meitner musste als jüdische Wissenschaftlerin im gleichen Jahr noch emigrieren.
Nach dem Krieg, ab 1949, wurde das Institut durch die Max-Planck-Gesellschaft, als Nachfolgeinstitution der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, weitergeführt. 1950 übernahm die FU Berlin das Gebäude für ihren Fachbereich Chemie. Es wurde im Jahr 1956 nach Otto Hahn benannt.
Journalist
Dann wurde der Otto-Hahn-Bau, im Jahr 2010, in Hahn-Meitner-Bau umbenannt. Fritz Strassman blieb weiter unberücksichtigt. Strassmann war übrigens jemand, der sich vehement gegen die militärische Nutzung der revolutionären Entdeckung der Kernspaltung wendete. „Lieber würde ich wieder als Laborant arbeiten, als dabei mitzuhelfen“, schrieb er 1946 an seinen Förderer Otto Hahn. Alle Versuche der Nazis, ihn für die Entwicklung von Atombomben zu vereinnahmen, hatte Strassmann, sehr zum Nachteil seiner wissenschaftlichen Karriere, ausgeschlagen. 1957 setzte er sich auch gegen die atomare Bewaffnung der Bundesrepublik Deutschland ein. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde er dann Direktor der chemischen Abteilung des Max-Planck Instituts für Kernchemie in Mainz und ordentlicher Professor am chemischen Institut der Universität Mainz.
Aporius
Von 1912 an hatten Lise Meitner und Otto Hahn zwei Jahrzehnte lang eng zusammengearbeitet. Fritz Strassmann war sozusagen ihr wissenschaftlicher Nachwuchs. Aber Otto Hahn allein wurde dann 1944 für die Entdeckung der Kernspaltung mit dem Chemienobelpreis ausgezeichnet.
„In der Umbenennung 2010 findet mehr statt, als nur die Ergänzung durch einen zweiten Namen“, sagte Peter-André Alt, der Präsident der Freien Universität, in seiner Festrede: „Sie ist ihrerseits die Korrektur eines historischen Unrechts, wie es sich über Jahrzehnte in der Unterschätzung der von Lise Meitner erbrachten Beiträge zur Kernforschung manifestierte. Die Freie Universität bekennt sich damit zur institutionellen Verantwortung für eine objektive und gerechte Wissenschaftsgeschichte, zu der Korrekturen früherer Einseitigkeiten ebenso gehören, wie die kritische Bestandsaufnahme und der Anspruch auf eine ständige Selbstreflexion von Werturteilen und Methoden.“
Fritz Strassmann erhielt später übrigens am 21. März 1960, in Anerkennung seiner großen Verdienste, vom Rat der Stadt Boppard die Nachbildung des großen Stadtsiegels von 1236. Darüber hinaus wurde er für die Rettung einer jüdischen Mitbürgerin in Berlin in der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem geehrt.
Journalist
Vorbei am Hörsaal des Instituts für Arbeitsmedizin und anderen Instituten der Charité - Universitätsmedizin Berlin gehen wir nun durch einen schmalen Fußgängerdurchgang von der Thielallee aus zum FU-Campus Thielallee-Boltzmannstraße.
Aporius
Die derzeitigen Nutzungen der Gebäude zeigen hier eine enge Nachbarschaft der FU mit der Charité und weiteren außeruniversitären Forschungsinstituten in Berlin-Dahlem.
Wir stehen nun vor der historischen Mensa I der FU. Der Eingang der Mensa ist nebenan in der Van´t-Hoff-Straße 6.
Journalist
Ich kann mir vorstellen, dass nach dem Krieg, in der Zeit der Gründung der FU 1948/49, die Mensa, bzw. das Essen und Trinken, etwas ganz Besonderes waren.
Aporius
Am Anfang des Lehrbetriebs in der FU, im Jahr 1948, drei Jahre nach Beendigung des Zweiten Weltkriegs, gehörte die Kantine zweifellos zu den wichtigsten zentralen Einrichtungen des akademischen Lebens. Die Kantine bzw. die Mensa war zu Beginn nur eine Baracke hinter dem Kaiser-Wilhelm-Institut für Biologie in der Boltzmannstr. 9. Rechts da vorne, sehen Sie. Die FU-Mensa I, vor der wir jetzt stehen, war dann viele Jahrzehnte, noch bis vor kurzem, auch die Kochmensa der FU.
Journalist
Wann ist die alte FU-Mensa I entstanden? Wie ist sie baulich und räumlich einzuordnen?
Aporius
Das Mensagebäude ist zwischen 1951 und 1953 entstanden. Das kubische Haus wird durch runde Betonfeiler zum „Schweben“ gebracht. Nun, wie ist ihre spezifische Erscheinungsform hier im Dahlemer Architekturensemble zu interpretieren?
Journalist
Ja, wie denn?
Aporius
Der neben Friedrich Meinecke zweite Gründungsrektor und Kunsthistoriker der FU, Edwin Redslob, sprach im Jahr 1963 von einem „Sinn-Bild“ der neu errichteten Universitätsbauten der Freien Universität Berlin. Er wies ihr eine wichtige Stellung innerhalb des architektonischen Gesamtgefüges der Hochschule zu. Dem „technischen Stil“ der Mensa antworte die „Repräsentation“ am anderen Ende des „Dahlemer Campusparks“ mit dem Henry-Ford-Bau. Das symbolische Verhältnis zwischen Mensa und Henry-Ford-Bau könne, so Redslob, auch als Ausdruck für die Schwierigkeit verstanden werden, im Systemkonflikt der Nachkriegszeit freiheitliche Erneuerung zu betreiben und gleichzeitig die bürgerliche Tradition der alten Berliner Universität unter den Linden weiterzuführen.
Und zwischen Mensa I und Henry-Ford-Bau liegt nun der Campuspark.
Journalist
Der studentenbewegte Campuspark der FU Berlin.
Aporius
Rechterhand liegt die ehemalige juristische Fakultät. Heute ist das der FU-Fachbereich Rechtswissenschaft mit Eingang in der Van’t-Hoff-Straße 6. Das Gebäude gehörte zu den ersten Fächer-Neubauten. Die Bauzeit, zwischen 1957-1959, betrug knapp zwei Jahre. Zusammen mit dem gleichzeitig entstandenen Gebäude der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät, direkt gegenüber, verbindet die juristische Fakultät die Gebäude der Mensa und des Henry-Ford-Baus zu einem Raum, den man früher Studentenaue nannte. Die Hörsäle beider Fakultäten, der Juristen und der Wirtschaftswissenschaftler, sind reine Stahlbetonskelett-Konstruktionen. Alles ist inzwischen aufwändig restauriert worden. Angrenzend zum Hauptgebäude der Rechtswissenschaft liegt das ebenfalls derzeit durch die Juristen genutzte Gebäude des ehemaligen Kaiser-Wilhelm-Instituts für Biologie.
Journalist
Was war hier zur Zeit der 68er Studentenbewegung los?
Aporius
Am 3. Juni 1967 warben die Studentenvertreter des AStA der FU in einem Flugblatt, gerichtet an die „Berlinerinnen und Berliner“, um Verständnis bei der Bevölkerung. Die AstA-Vertreter wiesen darauf hin, dass die Berliner Presse weitgehend Axel Springer gehöre und die Bevölkerung einseitig informiert werde. „Millionen Mark ... (werden) dem Schah (von Persien) in die Taschen gestopft.“ Der „Polizeiterror in West-Berlin“ wurde mit dem „stalinistischen Ulbricht-Regime“ verglichen, das „Menschen an der Mauer“ erschießt. Tags zuvor, am 2. Juni 1967, wurde der FU-Student Benno Ohnesorg erschossen, von einem DDR-Spitzel, wie wir alle erst sehr viel später erfuhren. Am Nachmittag des 3. Juni 1967 versammelten sich rund 4.000 Studierende auf dem Campus hinter dem Gebäude der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät in der Garystraße. Zum großen Teil kamen sie von einer Demo am Rathaus Schöneberg. Als Einheiten der Polizei anrückten, um die Versammlung aufzulösen, schloss der Dekan der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät, Prof. Dr. Wolfgang Wetzel, die Türen des Gebäudes auf und ermöglichte so den Studenten die Fortführung ihrer Protestversammlung in den Hörsälen der Fakultät.
Journalist
Beeindruckend friedlich. Was ist das hier am Ende des Campusparks für eine monumentale Skulptur, vor der wir jetzt stehen? Hat das auch etwas mit der 68er-Rebellion zu tun?
Aporius
Das sollten Sie selbst entscheiden, wenn ich Ihnen das Folgende darüber erzähle. Das Bankhaus Sal. Oppenheim, früher eine Privatbank und seit März 2010 eine 100-prozentige Tochtergesellschaft der Deutschen Bank AG, schenkte der Freien Universität Berlin ein monumentales Kunstwerk. Die Bronzeskulptur von Volker Bartsch wurde im September 2007 eingeweiht. Die Freie Universität widmete unter ihrem Präsidenten Dieter Lenzen die große Bronze-Skulptur jenen Erststudenten, die in der Gründungsphase der Universität wegen ihres Einsatzes für akademische und politische Freiheit ermordet wurden. Lenzen hob in seiner Rede die Verbindung von Kunstwerk und historischem Kontext hervor: „Hunderte der Erststudenten wurden verfolgt, einige verhaftet, verurteilt und in der damaligen Sowjetunion ermordet. Als wir erfuhren, dass mindestens zehn der ersten studentischen Mitglieder der Freien Universität ihr Engagement für die Freiheit von Lehre und Wissenschaft mit dem Leben bezahlt haben, stand fest: Die Freie Universität Berlin wird die Erinnerung an sie sichern und den nachwachsenden Generationen sichtbar machen.“
Journalist
Was sagt Volker Bartsch selbst zu seinem Werk?
Aporius
Das Kunstwerk „Perspektiven“ beschreibt einen fiktiven Raum, der durch drei in sich ruhende, kraftvolle Bronzestelen sowie ein horizontales schwebendes Element gefasst wird und sich nach oben in eine zweite Ebene aus drei Elementen neu öffnet. „Damit werden innerhalb des Werkes mehrfach Torsituationen geschaffen. Jede von ihnen symbolisiert ein Davor und Danach, Gefundenes und Gesuchtes, Altes und Neues, den Eintritt in weitere Ebenen mit neuen Perspektiven“, erklärte der Künstler Volker Bartsch. „Von jeder Betrachtungsposition aus offenbaren sich völlig neue Perspektiven und Raumerfahrungen“.
Journalist
Also hat es doch sehr stark auch etwas mit der 1968er Rebellion zu tun.
Aporius
Bartsch hat als Künstler zweifellos historisch und perspektivisch aber weniger direkt politisch gedacht.
Journalist
Wir nähern uns jetzt rechter Hand der Boltzmannstraße 3, einem FU-Gebäude, das ich schon auf mehreren historischen Fotos gesehen habe.
Aporius
Das ehemalige Kaiser-Wilhelm-Institut für Biologie in der Boltzmannstraße 3 war ab 1948 das erste Hauptgebäude der Freien Universität Berlin. Zeitweise waren hier die Philosophische Fakultät, das Germanische und Romanische Seminar, die Institute für Religionswissenschaft, Altertumskunde, Erziehungswissenschaft sowie die Deutsche und Niederländische Philologie angesiedelt. Im Erd- und Kellergeschoss gab es die Universitätsverwaltung, das Immatrikulationsbüro, die Hauptkasse und die Telefonzentrale. Im Inneren des Gebäudes hat sich über die Jahrzehnte hinweg wenig verändert. Zu den barockisierenden Schmuckelementen des Gebäudes zählen die Voluten und Ochsenaugen an den Dreiecksgiebeln, der runde Treppenturm mit geschweifter Haube sowie die Balustrade am Balkon des Hauptportals.
Journalist
Was ist hier im Jahr 1968 passiert?
Aporius
Vor dem Immatrikulationsbüro der FU in der Bolzmannstraße 3 erlebte man am 27. Mai 1968 nur pure Ironie. „Diese Damen und Herren haben sich rechtzeitig zurückgemeldet“, wurde plakatiert unter einem Bild von Mao Tse-Tung und anderen prominenten Linken. Die Presse berichtete: „Kurz nach sieben Uhr besetzen ca. 100 Mitglieder der Ad-hoc-Gruppe Germanistik und des SDS aus Protest gegen die Notstandsgesetze das Germanische Seminar der Freien Universität und benennen es in Rosa-Luxemburg-Institut um.“ In der Nacht wird ein Angriff von etwa 100 rechtsgerichteten Studenten, vorwiegend Burschenschaftlern, auf das Germanische Seminar von den inzwischen etwa 200 Besetzern, die sich hinter Barrikaden aus Möbeln verschanzt haben, mit Knüppeln und Wasser aus Feuerwehrschläuchen zurückgeschlagen.
Journalist
Die noch ältere historische FU-Stätte ist das gegenüberliegende Haus Boltzmannstraße 4. In der Boltzmannstraße 4 wurde im Jahr 1948 die FU gegründet?
Aporius
Gegründet wurde die Freie Universität am 4. Dezember 1948 mit einem Festakt im Titania-Palast in Berlin-Steglitz. Hier vor diesem kleineren Haus in der Boltzmannstraße 4 verlas man aber schon am 24. Juli 1948 ein Manifest: „Wer kann helfen und wie kann geholfen werden?“ Es wurden dann viele Dinge aufgezählt, die man für die Gründung der neuen Universität brauchte: Geld, Bücher, Möbel, wissenschaftliches Hilfsmaterial, Bereitschaft zur Mitarbeit, Lebensmittel, Freitische, Stipendien, Patenschaften.
Am 23. August 1948 begann das Sekretariat der Freien Universität mit seiner Arbeit, und das war hier in der Boltzmannstraße 4. Am 15. November 1948 fanden die ersten Vorlesungen an der Philosophischen Fakultät der FU statt, ebenfalls in diesem Gebäude.
Journalist
Wenn wir nun ein paar Schritte weiter zur Van’t-Hoff-Straße gehen, sehen wir hier das Fritz-Haber-Institut. Was ist das Fritz-Haber-Institut überhaupt?
Aporius
Das Fritz-Haber-Institut ist kein FU-Institut, sondern ein außeruniversitäres Grundlagenforschungsinstitut der Max-Planck Gesellschaft (MPG) für das bessere Verständnis von Katalyse-Prozessen auf molekularem Niveau und der Molekülphysik. Es ist das ehemalige Kaiser-Wilhelm-Institut für Physikalische Chemie und Elektrochemie.
Journalist
Wir verbinden bedeutende Persönlichkeiten der Wissenschaft mit diesem Institut.
Aporius
Max von Laue erreichte im Jahre 1953 die Eingliederung des früheren Kaiser-Wilhelm-Instituts in die Max-Planck-Gesellschaft. Zugleich erhielt das Institut seinen heutigen Namen. Für seine Arbeit zur Beugung von Röntgenstrahlen an Kristallen erhielt Max von Laue im Jahr 1914 den Nobelpreis für Physik.
Journalist
Hier in diesen Gebäuden arbeiteten viele weitere Nobelpreisträger, nicht wahr?
Aporius
Fritz Haber erhielt im Jahr 1918 den Nobelpreis für Chemie für die Synthese von Ammoniak aus dessen Elementen. Fritz Habers Frau, Clara Immerwahr, war engagierte Frauenrechtlerin und übrigens eine der ersten deutschen Frauen mit einem Doktortitel. 1900 wurde sie an der Universität Breslau mit einer physikalisch-chemischen Arbeit zur Löslichkeitsbestimmung schwerlöslicher Salze des Quecksilbers, Kupfers, Bleis, Cadmiums und Zinks promoviert. Fritz Haber aber war, wie wir wissen, nicht nur durch seine Forschung maßgeblich am Ersatz des Salpeters für die Sprengstoffherstellung beteiligt. Als er im Verlauf des Ersten Weltkriegs als Abteilungsleiter die wissenschaftliche Verantwortung für das gesamte Kampfgaswesen übernahm, missbilligte seine Frau Clara in aller Öffentlichkeit seine Unternehmungen und bezeichnete sie als eine Perversion der Wissenschaft. Am 2. Mai 1915 nahm sie sich in Berlin-Dahlem das Leben.
Otto Hahn erhielt, wie schon beschrieben, 1914 den Chemienobelpreis. 1986 erhielt Ernst Ruska den Nobelpreis für Physik für seine Arbeiten zur Elektronenmikroskopie. Im Jahr 2007 wurde Gerhard Ertl für die Erforschung oberflächenchemischer Katalysatoren mit dem Chemienobelpreis geehrt.
Journalist
Jetzt fehlt nur noch, dass auch Albert Einstein hier war.
Aporius
Vielleicht kam Einstein mal vorbei. Er wohnte im Jahr 1914 hier in Sichtweite bei Fritz Haber unter dem Dach.
Journalist
Die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft war der Hausherr vieler Gebäude hier in Dahlem.
Aporius
Die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (KWG) wurde im Jahr 1911 gegründet. Der evangelische Theologe und Kunsthistoriker Adolf von Harnack war ihr erster Präsident.
Das Harnack-Haus, vor dem wir jetzt hier in der Ihnestraße stehen, besteht aus drei Teilen, einem Clubhaus (mit Restaurant und Zimmern für Gastprofessoren), einem Übergangstrakt und einem Hörsaal. Erbaut wurde es als Ort zur wissenschaftlichen Kommunikation. Die Tochter des ersten KWG-Präsidenten, Agnes von Zahn-Harnack, war am 11. Mai 1926 in Berlin Mitbegründerin des Deutschen Akademikerinnenbundes (DAB), der die universitäre Frauenbildung förderte. Am 6. Oktober 1908 trug sie sich als erste Frau in die Immatrikulationslisten der Philosophischen Fakultät an der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin ein. Adolf von Harnacks Sohn, Ernst von Harnack, wurde wegen der Beteiligung am Attentat des 20. Juli 1944 gegen Hitler hingerichtet.
Journalist
In den Kaiser-Wilhelm-Instituten trieben die Nazis ihr Unwesen.
Aporius
Das Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik in der Ihnestr. 22, vor dem wir jetzt stehen, wurde im Jahr 1926 gegründet. Hier forschte man nicht nur, sondern verstrickte sich auf eine besonders perfide Art und Weise in die Ideologie der Nazi-Zeit. Im Habitus von Wissenschaftlern und Medizinern sammelte, vermaß, beschrieb und registrierte man für die NS-Rassenpolitik. Im Konzentrationslager Auschwitz wurden Menschen getötet, gequält und auch für die anthropologische Forschung an diesem Institut zur Verfügung gestellt.
Die Wissenschaft ist, wie man sieht, nicht gegen den Missbrauch ihrer selbst und gegen den politischen Irrsinn gefeit. Man sollte stets sehr intensiv darüber streiten, welche ethischen Maßstäbe man für seine Arbeit anlegt. Deutsche Wissenschaftler in den 1930er Jahre haben Menschen-Köpfe und Kiefer mit einer Schublehre vermessen, um Rasselandkarten anzufertigen. Vielleicht wird man in der Zukunft über die Primitivempirie der PISA-Studien ähnlich urteilen, mit denen man den Inhalt von Kinderköpfen erforschen möchte, um Bildungslandkarten anzufertigen.
Journalist
Ich finde der Vergleich hinkt. Lassen wir die schwierige Wissenschaftsgeschichte außen vor und sprechen wir lieber über das sogenannte „Harnack-Prinzip“. Was ist das für ein Prinzip?
Aporius
Während eines Spaziergangs kann man, denke ich, auch mal einen fragwürdigen Vergleich riskieren. Die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft jedenfalls baute ihre Institute um herausragende Persönlichkeiten der Wissenschaft herum und ließ ihnen Mitspracherechte bei der Gestaltung der Gebäude. Der Kaiser spendierte seinen Namen und die Grundstücke. Stiftungen gaben das nötige Geld. Viele kleine Parks zur Erholung durchziehen, wie ein grünes Band, das ganze Dahlemer Gebiet, denn nicht nur wir gehen spazieren und plaudern, sondern auch die Wissenschaftler tun und taten das, um Besinnung zu suchen und sich auszutauschen. Die Max-Planck-Gesellschaft, die Nachfolgerin der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, und die Freie Universität Berlin leben heute, durch regen Austausch auf dem Forschungscampus Dahlem, die Vision eines „Deutschen Oxford“.
Journalist
Das Hauptbäude des Otto-Suhr-Instituts (OSI) steht nun dort in der Ihnestraße 22, genau gegenüber, auf der anderen Straßenseite.
Aporius
Die Politikwissenschaft wurde am 1. April 1959 in die Freie Universität eingegliedert. Ihre Berliner Geschichte reicht zurück bis ins Jahr 1920. Am 24. Oktober wurde die Deutsche Hochschule für Politik (DHfP) in der ehemaligen Bauakademie von Karl Friedrich Schinkel im Zentrum Berlins eröffnete. Otto Suhr, der dritte Regierende Bürgermeister West-Berlins, lehrte dort von 1926 bis 1933 am Sozialpolitischen Seminar. Im Nationalsozialismus wurde die DHfP dann gleichgeschaltet und als Auslandswissenschaftliche Fakultät in die Friedrich-Wilhelm-Universität integriert. Am 15. Januar 1949, kurz nach der Gründung der FU, wurde dann auf Initiative von Otto Suhr und Theodor Heuss die Hochschule für Politik als eine eigenständige Institution wiedereröffnet. Im Jahr 1959 wurde sie ein Teil der Freien Universität Berlin, zunächst im Gebäude des ehemaligen Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik, in der Ihnestraße 21, untergebracht. Eine Stiftung des US-Außenministeriums ermöglichte dann die Grundsteinlegung für einen Neubau für das Institut direkt gegenüber.
Journalist
Welche Namen verbinden wir mit dem frühen OSI?
Aporius
Die Gründungsprofessoren waren Gert von Eynern, Ernst Fraenkel, Otto Heinrich von der Gablentz, Kurt Sontheimer, Otto Stammer, Gilbert Ziebura, Ossip K. Flechtheim und Richard Loewenthal.
Journalist
Am OSI tobte im Jahr 1968 der Berliner Bär, oder?
Aporius
Als Beleg dafür kann ich nur einige Beispiele herausgreifen. Schon am 18. Mai 1965 forderten die Studentenvertretung der Fachschaft Politologie und die politischen Gruppen des SHB und SDS die OSI-Studenten, -Assistenten und -Professoren auf, als Protestmaßnahme gegen das Redeverbot für den Journalisten Erich Kuby durch den FU-Rektor Herbert Luer, zwischen 9 und 13 Uhr, in einen befristeten Vorlesungsstreik zu treten. Das war gewissermaßen der Auftakt des Aufbegehrens an der FU, ganz am Beginn dessen, was man dann später die 68er-Bewegung nannte. Der AStA-Vorsitzende Lefèvre berichtete über die ergebnislose Unterredung mit FU-Rektor Lüers vom Vortage. Der geschäftsführende Direktor des OSI, Professor Kurt Sontheimer, erklärte gegenüber dem „Tagesspiegel“, dass der Vorlesungsboykott nur dazu diene, möglichst „viel Publicity“ zu machen und sagte: „Ich verurteile den Streik.“
Drei Jahre später, am 23. Mai 1968, wurde ein „Teach-in“ vom Vortage im Otto-Suhr-Institut mit gleichzeitiger Besetzung der Seminarräume fortgesetzt. Viele Teilnehmer hatten Luftmatratzen, Decken, Verpflegung und rote Fahnen mitgebracht. Das OSI wurde in Karl-Liebknecht-Institut umbenannt.
Journalist
Die 68er demolierten und konterkarierten das, was die Gründungsstudenten in der FU mit Hilfe der Amerikaner aufgebaut hatten.
Aporius
Zeiten sind sehr verschieden. Mit Sicherheit wäre ein aktiver 68er auch ein engagierter Gründungsstudent gewesen und umgekehrt.
Journalist
Wir stehen nun vor dem Komplex der Universitätsbibliothek der FU am Eingang zum Henry-Ford-Bau in der Garystraße.
Aporius
Am 17. Juli 1951 bewilligte die Henry-Ford-Stiftung der FU eine Spende in Höhe von 5.499.900 DM als Anerkennung ihres „unter großen Schwierigkeiten geleisteten Beitrages für die demokratische Erziehung“. Diese Mittel sollten vor allem für den Ausbau der Bibliothek, den Bau eines Auditorium Maximum, einer Mensa und zur Errichtung einer Abenduniversität verwendet werden.
Journalist
Wer hat das alles hier dann geplant und gebaut?
Aporius
Das nach Plänen der Architekten Sobottka und Müller gebaute Auditorium Maximum wurde im Jahr 1954 fertiggestellt. An der symbolischen Schlüsselübergabe nahmen für die Bundesregierung der Vizekanzler Hans Blücher (FDP) und die Bundesminister Ludwig Erhard, Gerhard Schröder sowie Robert Tillmanns (alle CDU) teil. FU-Rektor Ernst Eduard Hirsch verlas eine Grußbotschaft des amerikanischen Außenministers John Foster Dulles: „Wie Berlin als Symbol der politischen Freiheit, so gilt die Freie Universität als Symbol der akademischen Freiheit der Welt.“ Der Berliner Kultussenator Tiburtius teilte mit, dass die Ford-Foundation weitere 125.000 Dollar zum Aufbau der Universitätsbibliothek und eines Gesamtkatalogs der Berliner Bibliotheken bereitgestellt habe.
Journalist
Was ist hier im Henry-Ford-Bau zur Zeit der Studentenbewegung passiert?
Aporius
Am 22. April 1965 lehnte der AStA die Anfrage eines amerikanischen Geschäftsmannes an den Studentenausschuss ab, Pullover mit dem FU-Wappen vertreiben zu dürfen.
Am 22. Juni 1966, um 15.00 Uhr, begann ein „Sit-in“ von mehr als 3.000 Studierenden unter dem Sitzungssaal des parallel tagenden Akademischen Senats der FU. Die Versammlung diskutierte die Tagesordnung des Akademischen Senats (AS), die erstmals durch die studentischen Vertreter im AS bekannt gemacht wurde. Der Kabarettist Wolfgang Neuss trug Teile aus seinen Programmen „Neuss-Testaments-Eröffnung - aber in strenger Form ohne Musik“ und „Das jüngste Gerücht“ vor.
Am 31. Januar 1968 fand im Auditorium Maximum eine Vollversammlung aller Fakultäten statt, um einige Konflikte am Romanischen Seminar zu diskutieren. Als die Delegierten, zusammen mit den Professoren Gollwitzer und Nichols um 20 Uhr den Sitzungsraum betreten wollten, wurde ihnen der Zutritt verwehrt. Die Situation eskalierte.
Am Abend des 13. Mai 1968 sprach Herbert Marcuse zum Thema „Geschichte, Transzendenz und sozialer Wandel“. Rund 4.000 Studenten hatten sich im Audimax und in den drei anderen Hörsälen des Henry-Ford-Baus, in die die Veranstaltung synchron übertragen wurde, versammelt. Die Diskussionsredner drängten auf Solidaritätsaktionen für die französischen Studenten und zu Beratungen über die für den 15. Mai 1968 geplanten Kampfmaßnahmen gegen die Notstandsgesetze. Als die Diskussion immer mehr in Tumult ausartete und größere Teile der Anwesenden abzuwandern begannen, trugen etwa 50 Studenten, unter ihnen auch Mitglieder der Kommune 1, das drei Meter große Holzwappen der Freien Universität aus dem Auditorium Maximum vor das Rektoratsgebäude in der Bolzmannstraße und steckten es in Brand. Vereinzelt wurden auch Steine gegen das benachbarte Rektoratsgebäude geschleudert.
Journalist
Die Zeiten haben sich anscheinend geändert. Heute sieht das hier sehr friedlich und gediegen aus. Was findet im Henry-Ford-Bau heutzutage statt?
Aporius
Heute finden Seminare, Tagungen, Kongresse, eine Dauerausstellung zur Geschichte der FU und immer noch die Sitzungen des Akademischen Senats statt, natürlich nicht zu vergessen die Wahlen des Universitätspräsidenten und viele andere Großveranstaltungen im Audimax.
Journalist
Wir sind am Ende unseres Spaziergangs angekommen. Was machen wir jetzt?
Aporius
Ich denke, wir sollten uns noch die Ausstellung zur FU-Geschichte im Henry-Ford-Bau anschauen. Vorher können wir ja einen Kaffee trinken und einen Happen essen. Kommen Sie, ich lade Sie ein.
Journalist
Vielen Dank für Ihre Einladung, für das Gespräch und die interessante Campus-Führung.
Es war Freitag. Noel und Heumann waren sich an diesem Tag einige Male auf dem Flur begegnet. Fast im Vorübergehen hatten sie verabredet, sich duzen wollen. Noel heißt mit Vornamen Frank. Heumann sagte, er habe einen ganz besonderen Vornamen, nämlich Nikolaus, und fügte gleich noch hinzu, dass ihn das schon viele Scherzbolde spüren ließen. Beide waren am Ende ihrer Arbeitswoche erschöpft und hatten eigentlich gar keine Lust mehr zu sprechen, zu diskutieren oder gar zu streiten. Es war deshalb einigermaßen mutig, am frühen Freitagabend im Büro, noch einen “Spaziergang“ über den Campus der Freien Universität Berlin machen zu wollen.
„Das scheint mir das bislang detailreichste Aporius-Kapitel zu sein. Wenigstens wissen wir jetzt ganz gut über die Architekturgeschichte der FU Berlin Bescheid. Weißt du eigentlich, welcher Architekt unser Gebäude entworfen hat, in dem wir hier tagtäglich arbeiten?“, fragte Heumann zu Beginn ihres Telefonats. „Das ist ein ziemlicher Klotz. Nicht nur das Eingangstor, sondern auch die Treppenhallen und die riesigen verschnörkelten Türen oder auch die Stuckdecken in den Bürozimmern sind einfach bombastisch.“
Noel konnte Heumanns Frage nach dem Architekten nicht beantworten. Er antwortete dann ausweichend, dass er mit Architektur und Geschichte eigentlich nicht viel am Hut habe und mit Büroarchitektur oder Bürogeschichte schon gar nicht.“ Dann jedoch wurde er sehr konkret und persönlich: „Ich weiß nur, dass ich mit meiner Frau und meinen beiden Töchtern in einem Reihenhaus in Berlin-Lichtenrade wohne. Das 60er-Jahre-Haus, das wir damals gekauft haben, ist inzwischen abbezahlt. Ein ‚Zuhause im Glück‘ ist das aber schon lange nicht mehr. Daran sind hauptsächlich meine Nachbarn schuld. In den kleinen schmalen Gärtchen hinterm Haus, mit den niedrigen Zäunen, spielen inzwischen keine niedlichen Kinder mehr, sondern grantig gewordene Leute mähen ständig ihre kleinen Rasenflächen. Unser ‚Glückshaus’ könnte eventuell Dessauer Bauhaus-Stil sein, aber irgendwie ist es auch das Gegenteil von stilvoller Architektur. Es ist im Grunde die billige Version der Würfel-Eigenheime, die in den 1960er Jahren in den Außenbezirken Berlins massenhaft gebaut worden sind. Der Keller ist ständig feucht, die Außenwände unterhalb der Erde sind nicht richtig isoliert. Der Wind fegt durch alle Ritzen.“ Er fügte noch hinzu, dass seine beiden Töchter vor sechs Jahren, zum Studium nach Bamberg, fortgezogen seien.
Heumann war eigentlich völlig uninteressiert an nassen Außenwänden und zugigen Mauerritzen. Er fand es merkwürdig, dass Noel im Zusammenhang mit Architektur davon sprach, dass er mit seiner Frau und seinen zwei Töchtern in einem Reihenhaus wohne, obwohl doch seine Töchter schon vor einigen Jahren ausgezogen sind. Heumann fragte aber nicht weiter nach, weil er ja schon im ersten Aporius-Kapitel etwas über „Teilung und Verdoppelung“ sowie über die Frage des Für-Wen-Bauens und die Funktion von Architektur erfahren hatte. Heumann sagte stattdessen, dass er seinerseits mit seiner Freundin Annika in einer Drei-Zimmer-Altbauwohnung in Berlin-Charlottenburg wohne. Er habe es nicht weit zur Arbeit, und der Arbeitsweg sei für ihn ein ganz entscheidendes Wohn- und Architekturkriterium. Er wohne in Berlin-Charlottenburg ganz gerne, vor allem, weil die Wohnungen recht preiswert seien und er sich mit seinen Nachbarn gut verstehen würde. Das teilte er Noel, wie so häufig, in einem leisen, fast flüsterartigen Ton mit, weil seine Dienstzimmerkollegen es nicht hören sollten.
„Die Erinnerung an Architektur lohnt sich meiner Meinung nach nur, wenn es um ganz große Geschichte geht, so, wie bei der Freien Universität Berlin. Dort hast du dann nicht nur Gebäude und Architektur, sondern auch Persönlichkeiten und die Geschichte der Ideen von Freiheit, Gerechtigkeit und die Schrecken der Vergangenheit. Und dann kannst du Gebäude quasi als Ideen und Geschichtsmonumente besichtigen“, sagte Noel.
„Woran erinnerst du dich, ganz im Allgemeinen gesprochen, eigentlich am besten oder am liebsten, wenn man mal die Architektur beiseite lässt?“, fragte Heumann gänzlich unvermittelt dazwischen.
Noel reagierte für seine Verhältnisse recht schnell, so, als wäre er auf diese allgemeine und sehr persönliche Frage vorbereitet gewesen. „Ich persönlich erinnere mich an alle meine Mordfälle, an alle Täter und an alle Opfer. Ich erinnere mich im Grunde an alle Fälle, die ich bearbeitet habe, vor allem auch an die Rangeleien mit Tätern, Zeugen oder Kollegen. Und ich weiß noch, wie meine zwei Schusswunden zustande kamen. Das sind meine beiden Orden, die ich stolz auf der Brust trage. Erst danach denke ich an meine Frau, an meine zwei Töchter, an unsere Hündin Mowgli und an die vielen Spaziergänge, die wir alle zusammen gemacht haben. Ich denke häufig auch an die Anpöbeleien der Hundehasser, wenn wir kein Plastiktütchen dabei hatten.“ Noel spulte augenscheinlich eine Art autobiografisches Routineprogramm für Kommissare als Privatmenschen herunter. Jedenfalls hörte es sich fast so an. „Einen großen historisch-kulturellen Höhepunkt habe ich in meinem Berufsleben nicht gehabt, jedenfalls keinen, an den ich mich besonders gut erinnern könnte. Oder vielleicht doch, warte mal? An die Zeit nach der Wende 1989 kann ich mich noch gut erinnern, als wir die neuen Kollegen aus Ost-Berlin kennen lernten. Da hatte ich ein besonderes historisches Bauchgefühl, sogar für Architektur. Die Baracken, in denen die Kollegen in Ost-Berlin arbeiten mussten, sind mir noch gut in Erinnerung. Ich habe die neuen Kollegen aus dem Osten damals wirklich bedauert.“ Noel fand eigentlich, dass das, was er erzählte, viel zu persönlich sei und fragte Heumann dann wie eine Retourkutsche: „Was hast du denn vom Aporius-Spaziergang über den Campus der FU Berlin im Allgemeinen und im Besonderen mitgenommen?“
„Ich fand das Aporius-Gespräch über die Architektur und die Erinnerung ziemlich gut“, sagte Heumann. „Beeindruckend sind für mich die vielen Nobelpreisträger, die Aporius genannt hat. Da kann man als Berliner ja richtig stolz sein. Gruselig fand ich die Beschreibung des Eugenik-Instituts der Nazis. Das Gebäude in der Ihnestraße in Dahlem muss ich mir in nächster Zeit mal anschauen. Heute spricht man übrigens nicht mehr von Eugenik, sondern von Genetik“, mutmaßte er. „Auch die Geschichte des Gebäudes der Alliierten Kommandantur in der Kaiserswertherstraße zur Zeit des Viermächtestatus, in das dann der FU-Präsident mit seinem Gefolge eingezogen ist, fand ich ganz interessant.“
Noel sagte daraufhin: „Was mich persönlich inzwischen stutzig macht, ist der Umstand, dass Aporius immer so ausführlich über die Freie Universität Berlin redet. Walter Aporius war doch an der Technischen Universität Berlin. Warum redet der nicht über seine eigene Hochschule?“
„Warum sollte ein TU Professor nicht auch über die FU sprechen? Vielleicht gibt die Geschichte der TU Berlin, architektonisch gesehen, nicht so viel her“, entgegnete Heumann. „Mit Sicherheit ist es aber so, dass das ganze Gesprächskonzept eher auf die Beschreibung des Verhältnisses von FU Berlin und Humboldt-Universität Berlin angelegt ist. Das war schon im ersten Kapitel über das ‚Doppelte Berlin’ so. Wenn man ins nächste Aporius-Kapitel, ‚Geschichte, Bildung und Erkenntnis‘, hineingeschaut, dann geht es auch dort um die HU und die FU. Übrigens, was hat denn dein Gespräch mit Spartakus / Mändle vor ein paar Tagen ergeben? Du wolltest doch rauskriegen, ob Aporius überhaupt der Buchautor A. Nonymus ist. Denn eines ist doch wohl klar. Diese ganzen Aporius-Gespräche haben viel mit der Biografie des Autors zu tun. Das kann gar nicht anders sein.“
„Mein Telefonat mit der Dame vom Online-Dienst dieses Großkonzerns war nicht sehr ergiebig“, antwortete Noel. „Erst hing ich in der Warteschleife. Dann hatte ich die falsche Person in der Leitung. Als es dann endlich klappte, sagte mir eine ominöse Mändle-Dame, Gott weiß, wer das war, dass elektronische Mändle-Bücher ganz häufig unter einem Pseudonym veröffentlicht werden. Das sei überhaupt keine Seltenheit. Mändle habe natürlich die echten Namen und Adressen der anonymen Autoren. Diese dürfen sie aber, vertraglich zugesichert, nicht weitergeben, auch nicht an die Polizei. Es sei denn, wir würden ein formelles Verfahren daraus machen.“
„Das können wir ja dann tun, wenn wir die Fakten für die Wiederaufnahme des Mordfalls Aporius beisammen haben“, sagte Heumann.
Beide Kommissare verabschiedeten sich voneinander und waren nicht mehr so freitagserschöpft, wie sie es noch vor ihrem Telefonat waren. Beide gingen äußerst gut gelaunt vom Büro ins Wochenende. Das geschieht bei Beamten einer Mordkommission gar nicht so häufig. Entweder sind sie von routinemäßiger Büroarbeit gelangweilt oder durch die Hektik der Ereignisse aufgeputscht und hyperaktiv. Beides gleichermaßen ist stressig und erschöpfend. Noel und Heumann verabredeten, sich übers Wochenende an das nächste Kapitel über „Bildung, Geschichte und Erkenntnis“ heranwagen zu wollen. Sie hatten sich diesbezüglich schon vorab orientiert und wussten, dass sie mit der Lektüre des nächsten Kapitels eine etwas längere Wegstrecke auf ihrer Dienstreise durch die Kultur und die Wissenschaft zurücklegen würden. Beide hatten das Kapitel schon überflogen und freuten sich darauf, nun die Geschichte und Entwicklung zweier Berliner Universitäten näher kennenzulernen. Noel war voller Hoffnung, eine gute ortskundliche Führung durch den Dschungel der akademischen Bildungs- und Erkenntnisgeschichte zu erhalten, ähnlich unanstrengend, wie der Spaziergang über den Campus der FU in Berlin Dahlem.