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Namen und Titel

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Traugott Helfer ist sehr wahrscheinlich der einzige Mensch auf der Erde, der in seinen Bewerbungsschreiben, mit denen er sich bei Arbeitgebern vorstellt, nicht nur sein Geburtsdatum angibt, sondern auch seinen Todestag. Eine erste vorläufige Begründung für das merkwürdige Verhalten liegt auf der Hand. Da er bislang nie ernsthaft krank gewesen, sondern bis heute, Gott sei Dank, kerngesund ist, kann man davon ausgehen, dass er lediglich seine potenziellen Vorgesetzten nicht im Unklaren über sein Schicksal lassen möchte. Denn gewissermaßen hängt auch deren Schicksal von dem seinen ab. Warum er aber seinen Tod so frühzeitig freigibt, veröffentlicht und sozusagen zur Kalkulation stellt, ist nicht ganz einfach zu erklären. Beginnen wir also von vorn.

Er ärgerte sich als Kind maßlos über seine beiden Namen, über seinen Vornamen in Verbindung mit seinem Nachnamen. Zusammengenommen klingt er wie ein gläubiger Gutmensch. Traugott und dann auch noch Helfer. Wie konnte das passieren? Wie konnten seine Eltern ihm das antun? Seine Mutter war katholisch und sein Vater jüdischer Abstammung. Das prägte wahrscheinlich auch ihn bzw. seinen Namen. Sein Vater war Kaufmann. Dadurch wurde die ganze Familie Helfer einigermaßen wohlhabend. Im Krankenhaus, direkt nach der Entbindung, machte seine Mutter Helene kurzen Prozess. Die beiden Namen würden melodisch sehr gut klingen und bestens zueinander passen, sagte sie lapidar zu ihrem Gatten und schrieb Traugott in ein Formular. Und schon war‘s passiert. Er ist als kleiner Mensch geboren und muss als Traugott weiterleben. Namen seien Schall und Rauch, sagte sein Vater zwar immer wieder zu ihm, insbesondere wenn Traugott sich über seine Mitschüler in der katholischen Jungenanstalt beschwerte, denn diese hänselten und gretelten ihn. Sein Vater war, als tüchtiger Geschäftsmann, oft auf Reisen. Seine Mutter blieb lebenslang Hausfrau, ihr ganzes kurzes Leben lang. Sie verstarb ganz plötzlich an einem Tumor in der Gebärmutter, als er noch nicht einmal elf Jahre alt war. Irgendwie meinte Traugott, er sei an dem großen Tumor irgendwie beteiligt gewesen. Denn elf Jahre alt war nicht nur er, sondern auch seine große und schier übermächtige Phantasie. Sie war es auch, die dem handballgroßen Ding im Bauch seiner Mutter einen originellen Namen gab, noch bevor die Ärzte sich vergeblich an ihm zu schaffen machten. Er nannte das Ding einen Muttermond. Es war wahrscheinlich auch sein Reichtum an Phantasie, der seine Mutter, seinen Vater und ihn so furchtbar leiden ließ. Dabei litt sein Vater sonst weniger stark. Er beschäftigte sich beruflich, sein endlos wirkendes Berufsleben lang, mit Medizintechnik, also mit Pumpen, Sonden, Röhren, Filtern, Herzkathedern, Prothesen. Aber diese Geräte halfen eben seiner Mutter leider gar nicht. Seinem Vater kam beruflich ihr gemeinsamer Nachname Helfer gerade recht, könnte doch dadurch ein potenzieller Kunde annehmen, sein Geschäft hätte wirklich etwas mit Helfen und Berufung zu tun. Die Medizintechnik war also für Traugott ein ebenso einprägsamer Begriff, ein Wort, wie sein Name als mutter- und vaterbezogener Gemütszustand. Sein Leben lang sollten ihn die Namen prägenden Begrifflichkeiten eindringlich beschäftigten. Seine Eltern wünschten sich seinerzeit lieber eine kleine Tochter, die wahrscheinlich nicht größer oder anders werden durfte, als sie sich eben ein kleines Mädchen in ihrer Imagination vorstellten. Und nun ist er gekommen. Traugott vermutet sogar noch heute, dass seine Eltern ihn, wenn er tatsächlich ein Mädchen geworden wäre, wahrscheinlich Engelchen genannt hätten.

Warum konnte er denn nicht Alexander oder Rudolf geworden sein? Rudolf hätte man auf Rudi reduzieren und verniedlichen können. Alexander hätte man mit Alex etwas spitzer machen können. Aber Gotti als Form der Verniedlichung? Das klingt viel zu frech und auch zu androgyn. So aber stand nun er, der Traugott, da und alle glaubten, er würde sich ernsthaft zutrauen, an Gott zu glauben und ihm zu vertrauen. Ihm selbst blieb also gar nichts anderes übrig, als sich darauf einzulassen. Gott könnte ihm vielleicht sogar manchmal dabei behilflich sein, ernsthaft das Glauben zu versuchen und seinen Namen als einen Auftrag zu verstehen. Schon als Jugendlicher war Traugott der festen Überzeugung, dass der Name des Menschen und das Schicksal seines Trägers auf geheimnisvolle Weise miteinander verknüpft seien. „Nomen est omen“, heißt es doch so einfach und verkürzt im lateinischen Volksmund. Quacksalberei und Aberglaube nannte sein Vater solcherart Andeutungen. Sein Vater ging üblicherweise allein, ohne seine Mutter, in die Synagoge. Er war nicht gläubig im engeren Sinn, sondern er war eben nur ganz schlicht von jüdischer Herkunft. Sein Vater, wenn er den Gottesdienst absolviert hatte, erwähnte danach recht häufig, dass jeder Mensch doch seines Glückes Schmied sei, aber alle Menschen unbedingt einen festen Glauben und eine gute Medizintechnik benötigen würden. Sein Vater war beileibe kein einfältiger Mensch, das auf keinen Fall, vielleicht etwas streng privatwirtschaftlich, utilitaristisch, also nützlichkeitsorientiert. Aber er war im Grunde ein sehr hilfsbereiter Mensch. „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ verstand sein Vater wie eine Art von Hilfsmittel, wie ein Instrument, wie eine Medizintechnik gewissermaßen, wie eben schon der Nachname Helfer signalisiert.

Traugott war ein exzellenter und auch ein sozialer Schüler. Zeit seines Lebens sollte er das bleiben dürfen. Er selbst nimmt an, dass dieser Umstand eventuell mit seiner kurios philosophischen Orientierung im Hinblick auf die Namensgebungen zu tun haben könnte. Alles konnte er sich sehr gut merken. Er konnte es gut wiedergeben und sich später bestens daran erinnern, weil er allen Dingen, Menschen und Ereignissen einen einprägsamen Titel, einen Namen, geben konnte: Wolf, Eselsbrücke, Schafspelz, Spielplatz, Kirche, Obama, Jesus, Stalin, Hitler, Ai Weiwei. Wenn man einen einprägsamen Namen hat oder trägt, dann kleidet man ihn gewissermaßen aus. So entstünde ein Titelträger, dachte er damals.

Seine Klassenlehrerin in der Grundschule hatte an einem seiner vielen beliebigen Schultage, vor allen seinen Mitschülern, zu ihm gesagt, er sei ein bescheidener Grübler. Das brachte ihm noch mehr äußere und auch innere Widerstände ein, als er sie ohnehin schon spürte. Auch diese beiden Titel wurde er nie wieder los. Bescheidenheit ist eben auch so ein imprägnierendes Wort, welches in Verbindung mit den Namen Traugott und Helfer zu weitreichenden Missverständnissen führen kann. Sein Vater sagte nur: „Bescheidenheit ist eine Zier, doch besser geht es ohne ihr.“

So hängen an allen großartigsten Worten immer auch schon die Verballhornungen und die Missverständnisse mit dran. Er hätte seinen Vater umbringen können, wenn dieser das oben zitierte wirklich mehr als einmal formuliert hätte. Schon für die Wahrscheinlichkeiten tadelte er seinen Vater, den Medizinverkäufer, recht häufig.

Noch mit 16 Jahren war Traugott ein körperlich recht kleiner, aber wendiger und sehr hübscher Junge. Später dann schoss er plötzlich in die Höhe und wurde über 1,90 Meter groß, denn sein Vater war auch so lang und darüber hinaus wirkte er noch sehr stattlich. Eine gewisse Eleganz in Traugotts Bewegungen aber blieb, trotz seiner Länge. Er musste sich wachstumsdynamisch eben anpassen, vermutete er. Seine Größe konnte er ausgleichen, indem er gertenschlank blieb, um nicht auch noch so stattlich zu wirken wie sein Vater „Helmut Kohl“. Zwei Helfer, groß und stattlich, so fand er, seien des Guten zu viel und würde möglicherweise zu überhöhten Ansprüchen führen.

Später, im Studium, Traugott studierte Geschichte an einer weltberühmten Universität, fühlte er sich wenigstens kognitiv wieder etwas kleiner und geschrumpfter. Ein Traugott Helfer aber blieb er auch dort. Schließlich rutschte er immer tiefer in die akademischen Fächer der Alten und Spätmittelalterlichen Geschichte hinein. Die Antike und das europäische Mittelalter mochte er sehr gern, weil man sich dort an sehr vielen berühmten Namen abarbeiten kann. Er erschrak also nicht sonderlich, als er das Wissen, die Hintergründe und die Bedeutung der Namenmantik im Studium erlernte. Das Orakelwesen, welches sich speziell an Namen festmacht, begann ihn auch als allgemeines Phänomen in der Geschichtsschreibung zu interessieren. Was für einen Historiker früher einmal gewesen, gibt es stets auch noch heute, in allen möglichen Gestalten und Formen. Dieses feinsinnige Gespür erlernte er speziell von seinem Doktorvater, der immer neue Umschreibungen des Alten mit Hilfe aktueller Vokabeln und Bezüge fand.

So schloss Traugott dann sein Studium direkt mit dem schier unangreifbaren und universell deutschen Medizinaltitel ab, wie er häufiger sagt, insbesondere wenn er als Statussymbol missverstanden wird. Er wurde natürlich kein Dr. med., sondern ein Dr. phil. . Seine Doktorarbeit verfasste er über das Heidelberger Schicksalsbuch, über die Namenmantik und das Kreisschema: Tafel von Pythagoras - Aufbewahrung - Standort/Fundort - Universitätsbibliothek Heidelberg - Bedeutung - Überlieferung - Form und Inhalt - Material und Technik - Pergament und Federzeichnung. Die Künstler hießen seinerzeit Thomas Schilt und Johannes Hartlieb. Keinen Menschen, außerhalb der Uni, schien das wirklich zu interessieren, nur seinen Doktorvater, so hoffte er jedenfalls. Nach dem Ende des Studiums war er nun ein ausgewachsener „Summa cum laude“, eine Visitenkarte: Dr. Traugott Helfer, Historiker.

Es war an einem kalten Novembertag, als sein Vater kurz nach dem Übergang in den Ruhestand verstarb. Er führte ein langes Arbeitsleben in jüdischem Glauben, hieß es in der Predigt, und mit dem Ruhestand sei dann sogleich leider der Tod gekommen. Die Tatsache des Ablebens selbst oder gar solche Predigten machten ihm weniger zu schaffen, sondern vor allem der Umstand, dass sein Vater mit Vornamen Siegfried hieß.

Traugotts Studium der alten und neueren Geschichte war ein überaus modernes Studium. Es war elektronisch, computergesteuert und bestens organisiert bzw. durchgerechnet. So lernte er im Laufe der Zeit exzellent in prosopographischen Namens-, Geburts- und Sterbedatenregistern zu lesen und zu recherchieren. Er lernte vernünftig zu mutmaßen und spezielle Erkenntnisse zu gewinnen, zum Beispiel, wie alt welcher spezielle Menschentyp mit einem speziellen Namen und Lebenslauf wird. Die Siegfrieds in der neueren und neuesten Geschichte, so konnte er sauber errechneten, erreichten durchschnittlich das 66zigste Lebensjahr. Man muss selbstverständlich in angemessener Form den kulturellen Zeitfaktor berücksichtigten. Bei seinem Vater stimmte das errechnete Sterbedatum haargenau. Natürlich wusste Traugott, dass es auch nur ein Zufall gewesen sein könnte, denn Durchschnitte setzen sich aus den Abweichungen der verschiedenen Lebensgeschichten zusammen. Aber ein merkwürdiges Datumsgeschehen war das schon, als sein Vater an einem Sonntag des Jahres 2010 verstarb. Er überprüfte viele biografische Daten von Personen, die Siegfried hießen. Und siehe da, alles bewegte sich ziemlich genau um den Durchschnittswert herum. Die Abweichungen waren marginal, im Leben und beim Sterben, wenn man die Kriege und die sonstigen unnatürlichen Todesfälle sauber ein- bzw. rausrechnete. Das Schicksal eines Menschen schien sich also wirklich an den Namen festzumachen. Für sich selbst und für alle anderen Traugotts der Neuzeit konnte er ein kulturelles Lebensalter von 81 Jahren errechnen. Selbstverständlich berücksichtigte er als Historiker noch viele weitere Einflussfaktoren. Nur der Name war eben auch zu wenig. So entwickelte sich sein tiefes Verständnis von Lebenszeitaltern und Alterskulturen. Der Vor- und Nachname, die man rechnerisch miteinander kombinieren muss, sind für ihn allerdings nur eine äußere Hülle des ansonsten inneren, zivilisatorisch-biologischen Geschehens. Es müssen viele innere Variable berücksichtigt werden, um ein korrektes Lebensalter zu bestimmen. Solche Variablen sind zum Beispiel: komplexe Namensverstrickungen, anonymisiertes Leben, Erde, Wasser, Luft, Feuer, Hände, Tiere, Mond, Sterne, Lage des Kindes, die Beschwörung der Toten, Sieger- oder Verlierermentalität, Schatzmeisterei und einige weitere unterschiedliche Prinzipien der innerpersönlichen Weissagungsfähigkeit. Alle Faktoren, zusammen genommen, sind für Traugott der allgemeine Prinzipienbaum des Lebens, der Kultur, des Glaubens und der Wissenschaft. Manchmal, so glaubt er, scheint ihm die ganze Sache schon aus dem Ruder zu laufen. Alles wird schließlich immer komplexer, wenn man sich damit beschäftigt.

Man kann erahnen, dass Traugott Helfer in die Gemeinschaft der Mystiker und Spirituellen abzutauchen drohte. Esoterisch ist er aber nicht geworden. Er ist schlichtweg nur prosopographisch orientiert, ein Künstler der aggregierten Biografik sozusagen. Schon sein Studienfreund Ewald und seine damalige Freundin Hanna, die nach seiner Promotion übrigens nicht mehr seine Freundin, sondern nur noch Frau Doktor sein wollte, hatten ihm schon viele Dinge prophezeit. Hannas Prophezeiungen wirkten aber immer eher wie Drohungen für ihn. Heute weiß er es besser. Es sind kleine Offenbarungen gewesen. Sie wollte ihn vor etwas Unbestimmtem warnen, vermutet er. Je wissenschaftlicher und präziser er mit der Zeit zu argumentieren lernte, desto magischer wurden für ihn weltliche Fakten, Zahlen und Ereignisse - im Grunde eine atemraubende Entwicklung. Die Weissagungstechniken im Speziellen sind für Traugott eine bestimmte Fähigkeit, nämlich wenn man gut und auch genügend verständlich abstrahieren kann.

Wenn er intensiver darüber nachdenkt, dann ist es wohl ein Seminar von Professor von Altmannsberger, dem weltberühmten Spätmittelalterprofessor an seiner Alma Mater, gewesen, welches ihn seinerzeit im Studienleben am stärksten beeinflusste. Altmannsberger, heißt vor und nach seinem Tod, mit Vornamen Emanuel, also wie der große Philosoph Kant. Altmannsberger von Emanuel interpretierte Traugott Helfer den komplexen Namen. Es ging im Seminar damals um Johannes Hartlieb, also um „Johannes“ und „Hartlieb“. Johannes Hartlieb, geboren um 1400, gestorben am 18. Mai 1468 in München, war Arzt, Hofdichter und Übersetzer. Das Leben von J. H. ist erst ab dem Jahre 1440 kontinuierlich in Urkunden nachweisbar. Davor gibt es gewisse Unstimmigkeiten mit der Zuordnung seines Namens. Hartlieb wurde in der Gegend von Ludwigsburg in Württemberg geboren. Erstmals namentlich erwähnt wird er in einem seiner eigenen Werke, in „Kunst der Gedächtnüß“, welches im Jahr 1432 fertiggestellt und im Auftrag von Herzog Ludwig VII., Bärtiger von Bayern-Ingolstadt, auf Schloss Neuburg an der Donau geschrieben wurde. 1437 war Hartlieb geistlicher Vorstand der Pfarrkirche St. Moritz in Ingolstadt gewesen. Noch im selben Jahr wurde er von Ludwig VII. seines Amtes enthoben, da er angeblich seine Pflichten vernachlässigte. Im Jahr 1439 wurde Johannes Hartlieb ausgerechnet im italienischen Padua promoviert, ehe er dann im Jahr 1440 in die Dienste des Herzogs Albrechts VI. von Österreich eintrat. Für den Herzog übersetzte er den „Tractatus de amore“ von Andreas Capellanus ins Deutsche. Man arbeitete eben schon damals für seinen Geldgeber, sogar in Liebesangelegenheiten, denkt Traugott.

Im Herbst des Jahres 1440 wurde Hartlieb der Leibarzt, Ratgeber und Übersetzer Herzog Albrechts des Dritten von Bayern-München. Er blieb bis zu seinem Tod, im Jahr 1468, in Diensten dieser Familie. 1456 schrieb er „Das puch aller verpoten kunst, ungelaubens und der zaubrey, welches die erste bekannte Aufzeichnung eines Hexensalbenrezepts enthält. In seinem Buch der verbotenen Kunst distanzierte sich Hartlieb von den damals so genannten verbotenen Künsten, obwohl er sich in seinen früheren Werken durchaus der Magie zugewandt zeigte. Dieser Wandel lässt sich allerdings nicht nur auf seinen Namen zurückführen, sondern möglicherweise auf die Begegnung mit Kardinal Nikolaus von Kues zwischen den Jahren 1451 und 1454. Es ist eine glückliche Namensverbindung gewissermaßen gewesen. Nikolaus von Kues habe, so heißt es, Johannes Hartlieb von der Sündhaftigkeit der Magie und des Aberglaubens überzeugt. Er habe ihn zu einer religiösen Haltung bekehrt. Hartlieb war mit Sibilla Newfarer verheiratet, eine Tochter Herzog Albrechts. Sie hatten zusammen drei Kinder.

Nun, was ist das Besondere an diesem alten Johannes Hartlieb? Warum kann man Traugott Helfer und Johannes Hartlieb in einer engen geistigen Verbindung sehen? Es ist auf keinen Fall das Schwarzsehen, was die beiden verbindet, sondern das Hellsehen.

Es ist nicht Johannes Hartliebs berühmtes Kräuterbuch, seine überragende medizinische Schrift, welche zwischen den Jahren 1435 und 1450 entstand, die für Traugott Helfer entscheidend gewesen ist. Es sind auch nicht die vielen verschiedenen Tiere und Pflanzen oder deren medizinischer Wertnutzen in Hartliebs Buch, die so selbsterklärend zu sein scheinen. Es ist ein ganz anderes Buch. Es ist Hartliebs „Buch aller verbotenen Kunst“, welches Professor Altmannsberger damals als originelles Seminarthema in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit seiner Studierenden rückte. Es waren acht Männer und drei Frauen.

Das ominöse Buch ist im Jahr 1456 als Auftragswerk für Johann von Brandenburg-Kulmbach entstanden und gliedert sich in zwei Teile, wobei der erste Teil überwiegend der Intention des Autors Johannes Hartlieb gewidmet ist, nämlich die Verurteilung der Zauberei und des Aberglaubens. Im zweiten Teil beschreibt Hartlieb die sieben sogenannten verbotenen Künste genauer: Nigromantia, Geomantia, Hydromantia, Aeromantia, Pyromantia, Chiromantia, Spatulamantia. Es handelt sich wahrscheinlich um das früheste deutschsprachige Zeugnis, welches sich mit dem Aberglauben des Mittelalters gewissermaßen enzyklopädisch beschäftigte. Es sind diese zu damaliger Zeit „verbotenen Künste“, die sich in Traugotts Gedächtnis eingenistet haben. Wie kleine Vögel haben sie in seiner Erinnerung ihre Nester gebaut, nicht etwa weil sie verboten oder gar magisch sind, sondern weil er in ihnen alle wichtigen Lebensweltprinzipien gut erkennen kann. Seiner Meinung nach beeinflussen sie den Lauf der Weltgeschichte. Orakelfragen sind für Traugott heute nicht etwa historisch überholt, sondern sie sind überaus aktuell und allgegenwärtig, auch in der allermodernsten Moderne. Man gibt den Dingen jeweils ganz andere Namen. Man verwissenschaftlicht und politisiert sie. Das magische Orakel aber bleibt das gleiche. Traugott kann also das europäische Mittelalter ohne große Umschweife in Prinzipien der Neuzeit verwandeln, weil er die Wege der Umwandlung in neue Namen und Worte kennt.

Die Namensmantik ist für Traugott ein kleiner, aber dennoch sehr wichtiger Teil aller anderen Mantiken. Es geht im Kern um das Wahrsagen, welches man eben heutzutage nur in viele neue, wissenschaftliche und politische Vokabeln umdefiniert hat.

Traugott Helfer hat sogar eine ordentliche Liste aller einschlägigen Techniken der Wahrsagerei angefertigt, in der die gängigsten Alltagsformen alphabetisch sortiert und schematisch festgehalten sind. Schon diese listige Sache, die einfache Auflistung von Verfahren ist eine magische Angelegenheit.

Viele der nachfolgenden Techniken hat er selbst ausprobiert. Jede hat ihre Vorzüge und Nachteile. Aber um die konkrete Möglichkeit der Vorausschau in einem engeren Sinn geht es ihm auch gar nicht. Ihn interessiert die Theorie. Warum macht man so etwas? Wie wird das eigene Leben dadurch verändert oder gar verbessert? Welches Erkenntnisziel verfolgt man? Wie weitrechend wird die Gemeinschaft oder sogar die Gesellschaft dadurch beeinflusst?


Wahrsagerei ist für Traugott das anscheinend unstillbare Bedürfnis vieler Menschen, in die Zukunft blicken zu können, um eventuell für die Gegenwart etwas daraus zu lernen: nichts Unappetitliches, nichts Frevelhaftes, nichts Konjunkturschädigendes, ureigentlich nichts Verbotenes.

Was nutzt mir meine Liste, hat er sich dutzende Male gefragt. Den Tod seiner Mutter und seines Vaters hätte man vielleicht mit einer der Methoden sogar voraussagen können. Aber mit keiner dieser Methoden kann man das Schicksal wirklich entscheidend beeinflussen, vermutet er. Als Polizeiarbeit, so glaubt er, ist das Phänomen zu beschreiben. Man kann den Tod eines Mordopfers niemals wirklich verhindern, weil man den Mörder erst nach der Tat zu fassen bekommt und ihn erst dann aburteilen kann. In dieser Hinsicht stellt sich Traugott also immer die gleiche Frage nach der Präventionsmöglichkeit und der Vorbeugung sowie der damit verbundenen allgemeinen Zukunftszuversicht, so, wie Wissenschaftler, Politiker und Polizisten das eben normalerweise den Menschen signalisieren. Allerdings für einen Historiker der alten Schule wie Traugott scheint das Präventionsprinzip selbst schon außergewöhnlich zu sein.

Für Traugott herrscht in vielen deutschen Universitäten inzwischen eine Art Teufelstrend, wegen der großen und grotesken Überspitzungen bzw. Spezialisierungen. Mittlerweile gibt es in Deutschland über 18.000 verschiedene Studiengänge, ein neuer Deutschlandrekord, aber gänzlich ohne akademischen Sinn, also nur ein neuer berufspraktischer Versuchsaufbau. Akademische Abschlüsse, wie der Master in Körperpflege oder der Kreuzfahrt-Bachelor, stören den Historiker Helfer in erheblichem Maße, denn der Berufsname bzw. der Aus- und Einbildungstitel, wird stets auch ein wichtiger Teil der Entwicklungsgeschichte einer einzelnen Person.

Mit Namenmantik bzw. Onomatomantie bezeichnet man das Wahrsagen aufgrund der Namenskonstellation. Das Verfahren war schon in der griechischen Antike bestens bekannt und dort sehr beliebt. Aus dem semitisch-arabischen Raum stammt die Erweiterung der Onomatomantie um die Zahlenwerte der Buchstaben. Der älteste schriftliche Hinweis auf die Onomatomantie in Deutschland ist in einer Handschrift aus dem vierzehnten Jahrhundert überliefert. Dieser Text wurde dann in mehreren Handbüchern zur Fechtkunst verwendet. Es geht um den Sieg beim Fechten wegen der Kenntnis von Namen. Offenkundig hatten die damaligen Fechter ein starkes Interesse daran, aus dem Namen des Gegners auf den Ausgang des Fechtkampfes schließen zu können. Wahrscheinlich trauten sie sich selbst, technisch gesehen, nicht genügend zu. Auch in der zeitgenössischen Esoterik ist die Onomatomantie noch weit verbreitet, beispielsweise in den Anleitungen für das Partnerschaftsorakel, bei dem die Namen der Partner direkt oder über den Umweg von Zählwerten in Beziehung gesetzt werden. Anstelle der Umwandlung in Zahlwerte wird auch die Umsetzung von Buchstaben in Runen vorgeschlagen.

Johannes Hartliebs Abhandlung über die Namenmantik besteht aus zwei Teilen. Der erste Teil soll dabei behilflich sein, den Ausgang eines gerichtlichen Zweikampfes, also die günstigen Kampftage und Tageszeiten, aus den Taufnamen der beteiligten Kämpfer vorher zu sagen. Der zweite Teil bezieht sich auf kämpferische Auseinandersetzungen jedweder Art, die auf das allgemeine Lebensschicksal einen entscheidenden Einfluss nehmen könnten. Das also wurde und wird nun berechnet.

Traugott Helfer hat sich eine sehr lange Zeit in seiner Ausbildung gegen den Gedanken gesträubt, solche Berechnungen könnten einen Sinn ergeben. Die Realität hat ihn allerdings immer eines Besseren belehrt. Dafür ein kleines Beispiel: Gibt man die Vor- und den Nachnamen berühmter Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens mit der Bitte um Erläuterung einer Untersuchungsgruppe zur Kenntnis, bittet man die Gruppe gar eine kurze Stellungnahme zu verfassen, so erhält man die erstaunlichsten Ergebnisse. Fast jeder Proband traut sich ein relativ festes Urteil zu. Persönlichkeiten und Ereignisse können eingeschätzt werden. Sogar den Tod können einige sogar vorher- oder hinterhersagen: Adolf Hitler, Josef Stalin, Nikita Chrustschow, Barack Obama, George Bush, Christoph Schlingensief. Kein Wunder, könnte man meinen, man kennt doch den entsprechenden Lebenslauf und die mit einer berühmten Persönlichkeit verbundenen Menschenschicksale. Traugott Helfer sagt indes dazu nur: Namen werden zu Titeln, zu Zeitgeistern und Aktionen. Das Lebensende einer Persönlichkeit kann man frühzeitig voraussagen, wenn man genügend Variable zur Verfügung hat. So wussten viele Deutsche schon zu Zeiten der Weimarer Republik, dass Adolf Hitler und sein avisiertes Drittes Reich ein schlimmes Ende nehmen werden. Jeder politisch interessierte Bürger kennt dieses Phänomen. Wenn der politische Gegner oder auch die eigene, präferierte Partei siegreich ist, also die Wahl und die Demokratie gewinnen, so kann man in den unterschiedlichsten Formen den Verlauf der Geschichte voraussehen. Politik ist eine Form der Herrschaft, die mit Hellseherei verbunden ist. Das ist es auch, was uns zu Anhängern oder Gegnern eines bestimmten Gewinner- oder Herrschernamens macht. Es geht um die Prognosefähigkeit, um die Zukunftsfähigkeit. Selbst die Weltgeschichte der Historiker selbst macht sich häufig genug schon am Namen der wichtigsten Kämpfer und Herrscher fest. Meist sind die großen Organisationstalente die wichtigen politischen Gestalten. Aber nicht immer wird auch der Intelligentere oder der Schlagfertigere gewinnen, sondern es kommt eben auch auf die „Kampftage“ und die „Tageszeiten“ an. Natürlich auch auf den Gegner, der ebenfalls einen einprägsamen Namen trägt. Der Kampftag ist ein Teil der gemeinsamen Kampfwoche. Diese wiederum ein Teil des Monats und der Monat nur jeweils ein Teil des Jahres, des Jahrzehnts und des Jahrhunderts. Die Vorausschau von Ereignissen und Schicksalen besteht in der Imagination bezogen auf dieses jahreszeitliche Geschehen, in das die Akteure und Rezipienten quasi automatisch eingebunden sind. Schon das allein scheint eine wichtige politische Botschaft und vielleicht sogar ein weltanschaulich-psychologisches Auftragsorakel zu sein. Selbst die Emotionen von Wissenschaftlern, während sie Feldforschungen betreiben, wird man eines Tages exakt voraussehen und entschlüsseln können, sobald sie sich der Allgemeinheit preisgegeben haben und man ihre speziellen Formen des Orakelns genauer kennt.

Wenn es also gelingt, die Namen von Personen im Nachhinein relativ exakt einzuordnen, so kann das in einem entsprechenden Umfang auch schon von vornherein tun. Das Orakel ist prospektiv. Man muss sich allerdings intensiv darum bemühen, die Informationsflut zu bändigen und zu kanalisieren. Das ist für Traugott in der modernen Politik leider bislang noch nicht in einem nennenswerten Umfang gelungen. Das mangelhafte Erkennen liegt für Traugott auch im politischen System selbst begründet. Dennoch hängt das System auch an den einzelnen Personen. Sobald ein Mensch sich in der Öffentlichkeit preisgegeben hat, und sei es nur in einem einzigen selbstgeschriebenen Text im Internet oder einem einzigen selbstgemalten Bild, so könnte die Vorausschau möglicherweise schon gelingen. Traugott ist fest davon überzeugt, dass das internationale digitale Weltennetz den Menschen bei diesem Unterfangen in Zukunft behilflich sein wird.

Es ist der Name eines Führers, den man wie ein Etikett einem jeweiligen System anklebt, um diesem System eine gewisse Stabilität zu verleihen. Für Traugott geht es immer um das gleiche Phänomen, ganz egal ob in Politik, Religion oder Wissenschaft. Es geht um die Führung, die Gefolgschaft und das diesbezügliche Vertrauen ins Schicksal. Die Etiketten und die Anhänger treiben im Fluss der Zeitgeschichte. Erst wenn man sich davon löst, die Etiketten sozusagen herausfischt, könnten Diktatur und Demokratie, Menschlichkeit und Verantwortung neuartig definiert werden. Wenn der Etikettenschwindel wegfällt, dann verschwindet mit der Etikettierung auch die anonyme, weitgehend blinde Anhängerschaft. Das ist für Traugott der wesentliche Beitrag der Namenskunde zum Weltgeschehen. Ganz einfach eigentlich, aber doch auch irgendwie verdreht und schwer zu begreifen. Der einzelne Name ist prägend. Zugleich ist er auch der Kosmos der Verallgemeinerungen, der Abstraktionen und Beliebigkeiten. Je mehr Namen einem ganzen System zugeschrieben werden, desto unübersichtlicher wird das Zeitgeschehen. Man könnte sogar das Gefühl von Zeit und Raum, von Leben und Sterben dabei verlieren.

Nun, warum kann Traugott Helfer das konkrete Ende seines Lebens voraussehen? Alles wird doch mit dem Alter zweifellos immer komplexer und unübersichtlicher. Wenn immer mehr Namen ins Spiel kommen, dann wird die Spielergemeinschaft zuweilen auch viel zu groß.

Irgendwann ist es notwendig, einen Schlussstrich zu ziehen und zusammenzurechnen, sagt er. Dem ursprünglichen Namen muss man sozusagen wieder eine besondere Bedeutung zumessen. Der Schlussstrich ist zum Beispiel die Revolution, die jeder in seinem Leben einmal oder sogar viele Male vollbringt. Wenn man die Revolte allerdings verpasst, weil vielleicht die Demenz schon zu weit fortgeschritten ist, wird man nur noch ein Teil der Medizintechnik sein. Am eigentlichen organischen Lebensende ist vorbeigeplant worden. Traugotts Vater hat ihm die Reduktion des Menschen auf diese Technik einige Male erläutert, wenn das Leben nur noch die organische Aufrechterhaltung des Kreislaufs der Säfte ist, um wenigstens noch in den Fernsehapparat schauen und bunte Bilder aufzunehmen zu können: Pumpen, Sonden, Röhren, Plasma und LCD, Filter, Herzkatheder und einschlägige Medikamente.

Traugott kann die Entstehung und den Verfall der biologischen Körperfunktionen bei normalem Lebensverlauf relativ genau bestimmen. Der Zeitpunkt des Abtretens liegt bei ihm persönlich auf dem Berg des 25. September, in seinem 81. Lebensjahr. Allerdings hat er bei der Berechnung ein wenig geschummelt, weil er noch den Sommer des betreffenden Jahres gerne noch mitnehmen möchte. Kleine Korrekturen braucht eben auch der exakte Rechner, der er nun einmal als Wissenschaftler ist.

Nun wissen wir, warum Traugott Helfer in seinen Bewerbungsschreiben schon seinen Todestag angibt. Also keineswegs ein Geheimnis oder Magie, sondern nur purer Eigennutz, Rechenleistung, Selbsteinschätzung und Selbstverantwortung.

Mit einem Lehrstuhl an der Universität hat es in der Folgezeit bei Traugott nun leider nicht geklappt. Ausgerechnet sein Studienfreund Ewald schnappte ihm die passende Stelle vor der Nase weg, obwohl die Mitglieder der Berufungskommission ihn für seinen Mut, wegen der Preisgabe seines Todestags, ausdrücklich lobten. In seinem nunmehr noch genauer festgelegten Spezialgebiet, der Geschichte der Weißsagungstechniken, braucht man übrigens nicht habilitiert zu sein, um ein Hochschullehrer werden zu können. Inspiration und der Nachweis sauberen wissenschaftlichen Arbeitens reichen vollkommen aus. Mantiker selbst benötigen nie einen formalen Abschluss.

Ins Ausland zu gehen, um wissenschaftlich zu arbeiten, will Traugott nicht. Das sei wegen der Vernetzung und Digitalisierung der Welt nicht mehr notwendig. Das passe auch nicht zu den anderen mantischen Verfahren, mit denen er sich bislang beschäftigt hat. Insbesondere einige wenige geomantische Gesichtspunkte, so vermutet er, schienen seiner Berufung an die heimatliche Universität im Wege gestanden zu haben.

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