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Wasser

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Pierer's Universal-Lexikon beschreibt Hydromantik als Wahrsagungstechnik mit Hilfe des Wassers. Die spezielle Wahrsagung aus reinem Quellwasser soll Pegemantie heißen.

Es geht um die Beobachtung der Abwechslung der Wassergestalten: das Steigen und Fallen, das Fließen, das Spiegeln, die Farbe und die sich daraus ergebenen mannigfachen Bilder. Zur Vorhersage des Ausganges einer Krankheit taucht der praktische Mantiker einen Spiegel ins Wasser und beobachtet, ob die Gestalt des Kranken sich heiter oder traurig spiegelt. Der theoretische Mantiker wird über das Spiegeln im Allgemeinen nachdenken. Man wirft Steine oder Münzen ins Wasser und beobachtet die verursachten Wirbel und Kreise. Das Hydromantische Gefäß ist wie eine Camera obscura, in der die gegenüberstehenden oder sich vorüberbewegenden Gegenstände im Wasser zu schwimmen scheinen.

Der Wasserlauf eines Flusses reicht von der Quelle bis zur Mündung. Die Wasseroberfläche ist ein Spiegelquell der menschlichen Seele. Wenn man ins Wasser hinabschaut, so sieht man zunächst sich selbst. Diese Sehnsucht des Menschen nach einem Wasserorakel scheint ungebrochen zu sein. Möchte man heutzutage allerdings zu den bekannten tibetischen Orakelseen wandern, wird man große Probleme mit der chinesischen Regierung und den Einreisebehörden bekommen.

So ist natürlich auch Traugott Helfer ein begeisterter Anhänger von Erkenntnissen über die Wasserwelt geworden. Er entstieg als rundliches Baby dem heiligen Fruchtwasser seiner Mutter und schon als Kleinkind durfte er wieder und wieder in eine Wanne mit lauwarmem Badewasser steigen. Der warme Regen bringt alles Natürliche zum Wachsen, zum Blühen und Gedeihen.

Das Wasser ist zwar wie die Luft nur ein Aggregatszustand der Materie. Das Physikalische im feuchten Element funktioniert allerdings völlig anders als auf dem blanken Erdboden oder in der Luft. Der Auftrieb im Wasser ist enorm. Das normale Atmen und Sprechen wird unter der Wasseroberfläche ohne Maske kaum gelingen, obwohl doch eine ganze Menge Sauerstoff im Wasser enthalten ist. Kein Wunder also, dass man das Magische des Wassers immer und jederzeit bemerkt.

„Archedemos, der Theraier, der von den Nymphen Hingerissene, hat auf Geheiß der Nymphen die Grotte ausgearbeitet.“ Und nun hat Agnieszka ihren treuen Dienstherrn, Traugott Helfer, auch noch gefragt, ob sie heute ausnahmsweise einmal in die Badewanne steigen darf, denn sie wolle sich reinigen und den Schmutz an ihrem Körper gründlich beseitigen. Zuhause habe sie nur eine schmale Dusche, die derzeit aber nicht funktioniere. Traugott hat, nachdem er zunächst überflüssigerweise auf seine Armbanduhr schaute, zugestimmt. Schier Unglaubliches widerfährt ihm anschließend, als Agnieszka sich auf den Weg ins Badezimmer gemacht hat. Das Badewasser an ihrem nackten Körper hat ihn so stark inspiriert, dass er sogar zur unmittelbaren Weissagung fähig wird. Sie will es nun endlich wissen, vermutet er. Sie wird sich langsam entkleiden und hoffentlich dabei auch ein klein wenig an seine Wünschelrute denken. Ihr Körper, vor allem ihr Hals und ihre Schultern, werden in der Badewanne nassglänzend nach oben in den Himmel gereckt sein. Sie wird ihre Füße festhalten, wenn das warme Wasser einläuft und an ihren weißen Oberschenkeln langsam höher steigt. Wenn sie sich dann zurücklehnt, wird das Wasser ihr bis an die Kinnspitze reichen und wahrscheinlich zwei wundervolle Schaumkronen wie verzauberte Hügel freigeben. Weissagungen über Weissagungen laufen Traugott durch den Kopf. Nicht Archedemos, sondern er wird ihre Grotte in Gedanken kunstvoll ausarbeiten. Ob er mal einen Blick durch die schmale Spalte der Badezimmertüröffnung werfen darf? Er riskiert einiges dabei. Was er sieht, ist überwältigend. Er steht mit beiden Füßen auf einem kalten Parkettboden, aber sie scheint im warmen Wasser wie eine Göttin zu schweben.

Orakel hin oder her, wenn sie aus dem Badewasser gestiegen und wiedergeboren bzw. angekleidet ist, wird er sie fragen, ob sie mit ihm essen gehen möchte. Nichts, aber auch gar nicht würde er dann mehr berechnen wollen. Er wird sie einfach fragen, wenn der gekühlte Wein durch ihre beiden Kehlen geflossen ist, ob sie seine Frau werden möchte. Er weiß, dass sie noch alleinstehend ist und derzeit keinen Partner hat. Deshalb wird sie hoffentlich einwilligen. Eine großartige Prophetie!

Drei Tage später, an einem Samstag, geschieht es wirklich. Die hübsche Wassernixe lächelt verschämt und zögert keinen Augenblick. Voraussehbar ist nun, dass sie nicht mehr für ihn putzen wird, sondern eine x-beliebige Reinigungsfirma mit vorwiegend männlichen Mitarbeitern diese Aufgabe übernehmen wird. Ihm würde es nichts ausmachen, wenn sie hin und wieder zu einem der jüngeren Putzmänner hinüberschauen würde. In die Badewanne werden die Putzmänner ja wohl nicht steigen.

Traugotts Phantasie ist nicht mehr zu bändigen. Seine innere Sprache beginnt sich allmählich durch Agnieszka zu verändern. Sie hat endlich eingewilligt. Sie ist 34 Jahre alt, zwei Jahre älter als er. Sie kann ihn in seinen Gefühlen und Gedanken gut verstehen und er sie auch.

Traugott beginnt kunstvoll zu philosophieren. Sein Repertoire ist gewaltig. Sind die gesichteten feuchten Sterne und die Spiralnebel, die ungeheuren Explosionen und Verlöschungskatarakte im unermesslichen Dunkel gleichsam nur der perlende Schaum auf den allseits umherrauschenden Materiewogen? Von Antimaterie ganz zu schweigen. Wird sich das All im Zuge der steigenden Fluchtgeschwindigkeit des Wassers zu explosiver Dichte zusammenballen oder im allgemeinen Nichts verschwinden oder etwa als eine neue Quelle entspringen? Woher aber diese Fluchtbewegung? Das ist das Sein? Wozu ist sie da? Alte Fragen und immer neue Antworten scheinen uns selbst existenziell in Frage zu stellen, als wenn wir dem Schicksal in allzu forscher und zudringlicher Weise Antworten abzuringen versuchen.

Das Rauschen des Wassers in Traugotts Kopf überdauert alle antimetaphysischen Epochen. Poseidon wird niemals in der Position des ersten Anfangs der Metaphysik ertrinken können. Das Vernunftvermögen wird vielleicht eines Tages den Drang des Wassers nach vollkommener Wahrheit zu stillen vermögen. Die Entrückung ist ein berauschendes Geschenk des Ozeans. Sie orientiert sich nur am Grenzenlosen wie auch der Weingenuss der Liebe. Die Metaphysik ist zugleich eine starke Ernüchterung, sozusagen die nüchterne Trunkenheit im Licht ihrer höchsten Idee, wie Platon sagt. Mit dem stets neu gekelterten Wein gelingt auch die übernatürlich fließende Verfassung der Allgemeinheit. Das „Wohnen im Spiegelsaal der Liebe“ wird selbst die Heillosen auf den Geschmack des neuen guten Weins bringen. Hildegard von Bingen hebt nicht zu Unrecht diese Gefäßlichkeit der Schöpfung hervor. Thomas Aquinas hingegen präferiert jenen dunklen roten Wein der Wahrheit, die gleichsam im klaren Wasser der Vernunfterkenntnis verdünnt wird. Das Rauschen der Wassermassen in der Moderne und in der Submoderne wird immer noch die Romantik bleiben, die sogar als schöpferisches und liebliches Wort zu berauschen vermag.

„Die Welt - ein Tor zu tausend Wüsten stumm und kalt! Wer das verlor. Was du verlorst, macht nirgends Halt.“ Traugott denkt, dass Friedrich Nietzsche, der das sagte, ein vollkommener Blödmann war. Nur ein menschen- und weltabgewandter Kerl ist er gewesen.

Mit einer Frau wie Agnieszka an der Seite verschiebt sich der Untergang des Abendlandes und die Weltklimakatastrophe auf den Sankt Nimmerleinstag. Traugott ist endlich bis über beide Ohren verliebt. Man benötigt für dieses Wassergeduldspiel der Liebe nur einen kleinen Stein. Wenn man diesen dann ins Wasser wirft, wird er Kreis um Kreis ziehen, bis alles sich schließlich am Ufer bricht und endlich reflektiert wird.

Noch nie in seinem Leben hat Traugott Helfer so viel Hilfe und so viel Erkenntnis auf einmal erhalten. Mit Agnieszka wird er sogar wieder sonntags in eine katholische Kirche gehen und Gott, ihrem Schöpfer und der Quelle allen Lebens, Dank sagen können. Wie zauberhaft polnisch kann sie seinen Vornamen und auch das Wort Kirche aussprechen, als wenn das rollende R nur für sie erfunden worden wäre.

Es ist Dienstagmorgen. Im Posteingang des Mailverzeichnisses bekommt Traugotts fröhliche Stimmung einen kleinen Dämpfer. Schon wieder hat er drei Mails von der Weltklimakatastrophe bekommen. Langsam wird die Dame aufdringlich, sagt er sich. Sie kündigt immer wieder ihr Kommen an. Sie fragt Traugott, ob er sie vom Hauptbahnhof abholen könne. Er denkt an die mögliche Eifersucht von ihr oder Agnieszka. Ausgerechnet vom Hauptbahnhof, der ist doch für sowas gar nicht gebaut worden. Bestimmt will sie dann auch noch gemeinsam mit im Haus wohnen.

Traugott Helfer ist noch nicht wieder in der Verfassung, Besuch von dieser Göttin aller Katastrophen zu bekommen. Obwohl, wenn er überlegt, dass Bangladesch überflutet wird, wird ihm unwohl in den Füßen. Bis vor zwei Wochen hatten bei ihm noch der sexuelle Lebensfrust und das vermeintliche Rentenloch gewohnt. Das war anstrengend genug. „Tag, ich bin das Loch auf dem Meeresboden. Kann ich mich mal bei dir im historischen Sessel ausruhen?“ Die ganze Zeit dann das Gejammer: „Ich bin ein Rechenfehler, nur ein kleiner Rechenfehler. Mich gibt es nur, weil andere sich verrechnet haben. Guck mal hier, ich hab’ schon wieder zugenommen.“

Im Herbst hatte Traugott noch zusätzlich die Massenarbeitslosigkeit zu Gast. Aber die hat sich mittlerweile irgendwo, in ein kleineres Zimmer, verzogen. In der Speisekammer haust aber noch immer die Pflegeversicherung und fühlt sich dort anscheinend pudelwohl. Die Gesundheitsreform dagegen hat Traugott schon vor Wochen ins Treppenhaus geschickt.

Traugott hat schließlich der Klimakatastrophe zurückgemailt: „Tut mir sehr leid! Zurzeit sind einfach keine Katastrophenplätze mehr frei. Vielleicht, wenn die Vogelgrippe dieses Jahr absagen würde. Aber man kann sich nicht darauf verlassen. Herzlichst, Ihr Traugott Helfer.“

Eine Weltklimakatastrophe, findet Traugott, kann so aufbrausend und stürmisch wie das Meer sein. Aber im Grunde ist sie zunächst nichts als eine pure Nachricht, eine Prognose, die schon viele Generationen bekommen und bewältigt haben. Wir schaffen das.

Am Abend liest Traugott seiner Agnieszka ein Gedicht von Johann Wolfgang von Goethe vor:

Gesang der Geister über den Wassern

Des Menschen Seele

Gleicht dem Wasser:

Vom Himmel kommt es,

Zum Himmel steigt es,

Und wieder nieder

Zur Erde muß es,

Ewig wechselnd.


Strömt von der hohen,

Steilen Felswand

Der reine Strahl,

Dann stäubt er lieblich

In Wolkenwellen

Zum glatten Fels,

Und leicht empfangen

Wallt er verschleiernd,

Leisrauschend

Zur Tiefe nieder.


Ragen Klippen

Dem Sturz entgegen,

Schäumt er unmutig

Stufenweise

Zum Abgrund.


Im flachen Bette

Schleicht er das Wiesental hin,

Und in dem glatten See

Weiden ihr Antlitz

Alle Gestirne


Wind ist der Welle

Lieblicher Buhler;

Wind mischt vom Grund aus

Schäumende Wogen.


Seele des Menschen,

Wie gleichst du dem Wasser!

Schicksal des Menschen,

Wie gleichst du dem Wind!


Agnieszka antwortet auf das Gedicht wiederum mit einem wundervoll gerollten polnischen R: „Ich kenne das wundervolle Problem aus Polen. Das ist die Romantik.“

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