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Luft

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Die Luft ist noch viel frecher als das Wasser oder der Erdboden. Selbstverständlich sind Weissagungen, die aus der Luft gegriffen sind, auch eine der wichtigen und elementaren mantischen Künste.

Die Aeromantie beruht auf der menschlichen Beobachtung von Himmelsphänomenen. Dazu zählen die Windstärke und die Windrichtung, die Wolkenformen, Farbspiegelungen wie auch der Regenbogen, Blitze und Donner, die Vogelschau und das Zugverhalten sowie die Deutung von Meteoritenbewegungen. Die Aeromantie ist durch ihre Vielschichtigkeit die am weitesten verbreitete Weitsichtmethode der Geschichte, sozusagen die Urwissenschaft und der Urglaube der ersten sesshaften Menschen.

Die Luft dient schon in alten Zeiten als Weissagungsmethode, mit der man aus der Atmosphäre und allen luftigen Elementen Vorhersagen bezieht. Es ist die Kunst, die ihr Wesen in allen Himmelserscheinungen sucht und zu finden vermag. Interpretiert wird der Wind, der zu bestimmten Zeiten und an bestimmten Orten besonders stark bläst oder lau abflaut. Besondere Wolkenformationen oder die Vogelzüge ziehen in bestimmte Richtungen und zu ungewöhnlichen Zeiten. Mit anderen ungewöhnlichen Ereignissen besitzt die Luft sogar eine magische Erdanziehungskraft. Man kann sie einatmen. Blitze, Wetterlagen und Meteoriten dienen als sehr gute Medien, mit denen man viele Dinge voraussagt.

Die steife Brise an der Ostsee lässt das lange wirre Haar oder auch die ordentlich geföhnte Frisur einer Frau im Winde verwehen. Die pralle Sonne wird durch die Luft hindurch die Haut allmählich austrocknen. Das Leben erstirbt in Ehrfurcht vor dem kalten Wind. Viele Völker in allen Zeitaltern verschafften sich über die Luft und durch den Himmel darüber einen Zugang zu höherem Wissen.

Die akademischen Fächer Ornithologie, Astronomie und Meteorologie wurden fast zeitgleich begründet. Selbst der kleine Wind des Furzes wird heute noch, zwecks Medikamentierung der Flatulenz, mit wissenschaftlichen Methoden untersucht. Üblicherweise unterteilte man auch die frühe Aeromantie in Untergebiete: die Deutung der Winde, ihrer Richtungen und Ausprägungen. Donner und Blitze sind Inhalt der Keraunoskopie. Die Choamantie beobachtet und interpretiert insbesondere die verschiedenen Wolkenformen und ihre Bewegungen sowie die Regenbögen.

In Tibet wird streng darauf geachtet, ob anlässlich des Todes eines inkarnierten Lamas oder zur Geburt eines kommenden Dalai Lamas irgendwo ein Regenbogen gesichtet werden kann. Die Beobachtung von Vogelzügen einzelner Vogelarten dient dazu, besondere Verhaltensweisen zu interpretieren.

Nicht nur die Tibeter messen der Auslegung von Naturphänomenen eine besondere Bedeutung zu. Wir alle wissen von dem und kennen das. Die Phänomene, die sich in Luft und Wasser spiegeln, interessierten die Babylonier, Perser, Ägypter und Etrusker. Sogar die antiken Hochkulturen der Römer und Griechen richteten sich an den Naturphänomenen des Himmels aus. Sternkonstellationen wurden schon immer und ewiglich als bedeutungsvolle Zeichen angesehen. Die Natur der Luft war für alle Völker der Erde der allesbeherrschende Eindruck vom Weltgeschehen, dem man sich nicht entziehen kann. War beispielsweise die Geburt eines Hohepriesters von einem heftigen Gewitter begleitet, übertrug man dies auf seine Persönlichkeit, seine Bedeutung und seine potenzielle Machtfülle. So lag es nahe, den Himmel schließlich als Sitz der Götter anzusehen. Die Natur und die Weite in ihrem mächtigen Einfluss machten die Menschen demütiger. Sie wurden Teil eines immer weiteren Umfeldes. Himmelsphänomene konnten Ernteerträge zunichtemachen und sogar den Fluss des Wassers lenken. Sie gaben Orientierung und vermittelten Hoffnung auf die glückliche Heimkehr des Seemanns oder eine erfolgreiche Pilgerschaft. Der Himmel stellte die Menschen aber auch vor große Rätsel.

Die Ehrfurcht vor dem Leben ließ Geister und Götter zu einflussreichen Instanzen werden, denen man im Grunde alle Phänomene des menschlichen Geistes zuschreiben konnte.

Himmelsphänomene wurden von den Indianern auf Lederdecken gezeichnet und so ihrer Nachwelt überliefert. Im Anblick der Götter im Himmel entstand eine relative Geschichtsschreibung. Wer mag, der kann sogar den allabendlichen Wetterbericht im Fernsehen als angewandte Aeromantie begreifen, nur dass wir die Vorhersagen heutzutage nicht mehr auf so viele innere Ereignisse außerhalb des Wetters beziehen. Niemand in einem hochindustrialisierten Land würde mehr ernsthaft den Regenbogen als Glück verheißend für eine Geburt ansehen. Oder doch? Das Wetter ist noch mehr als der Venusblick einer schönen Frau. Im tosenden Meer steht Poseidon mit seinem Drei-Zack.

Alle Grundelemente weisen in die Zukunft. Es gibt unzählige Medien, mit denen es möglich ist, einen Blick in diese Zukunft zu wagen. Die Luft scheint das am meisten präferierte Medium zu sein. Es ist so stickig und stinkig hier. Und überall, wo es stickig und stinkig ist, halten endlich die wissenschaftlichen Disziplinen ihren Einzug. Insbesondere die Astronomie und Meteorologie verschafften einen exklusiven und luftigen Zugang zu höherem Wissen.

Die Deutungshoheiten für das Elementare scheinen indes zu verkümmern. Sie hinken in Traugotts Verständnis inzwischen sogar den indianischen Völkern und ihren Weisheiten weit hinterher. Auch und gerade deshalb scheint sich Vieles in der Moderne nicht mehr sinnhaft deuten zu lassen. Die Irrationalitäten nehmen zu, trotz oder wegen der Rationalität, was allerdings auf Umstände außerhalb der Wetterwissenschaft zu verweisen scheint. Die Geheimnisse des Lebens geraten allmählich in Vergessenheit. Die vergessenen Dinge werden nur noch oberflächlich dem aktuellen Zeitgeist mit Hilfe der Evolutionstheorie angepasst. Um die geheimen Lehren der alten Weisen und Wissenden, wie man zum Beispiel den Krieg vermeidet, kümmern sich nur noch die politischen Schweinepriester. Kein Astralwanderer schickt mehr das Ich der Seele auf die lange Reise. Die geheimen Logen sind nur noch eine fragwürdige, politisch-wirtschaftliche Zusammenkunft von Herrschenden geworden. Alles andere wird schon mit dem Pinsel der wissenschaftlichen Drohgebärde hinwegrecherchiert. Die reale Magie ist nur noch ein Geldbeutel. Alles andere spielt sich in Fantasy-Filmen ab.

Agnieszka und Traugott machen gemeinsam ihre erste lange Flugreise. Beide fliegen nach Vietnam. Sie unternehmen ihre erste gemeinsame Reise, noch als Ledige, aber in den geplanten vier Wochen werden sie alles zusammen machen. Sie nennen es nicht Urlaubszeit oder Auszeit, sondern Erlebniszeit.

Vom Flughafen Frankfurt am Main aus geht es mit der Lufthansa nach Hongkong und dann mit Dragonair nach Đà Nẵng. Wie beeindruckend doch Honkong in der Nacht, vom Flugzeug aus betrachtet, aussieht: bunte Bauklötzchen in wirrem Durcheinander, zusammengestellt und strahlendhell beleuchtet.

Đà Nẵng liegt genau in der Mitte des langgezogenen Wasser- und Wetterlandes Vietnam. Der 17. Breitengrad, die Marmorberge und der Wolkenpass, welcher Nord- und Südvietnam teilt, haben eine schreckliche neuzeitliche Geschichte. Traugott wird sich während des vierwöchigen Aufenthalts in Hoi An deshalb in einen Graswurzelhistoriker verwandelt haben. In Vietnam sind es Luft, Wasser und Erde, zusammen betrachtet, die die elementare Geschichte ausmachen - und nicht etwa nur die Geschichte der jeweiligen Herrscher. Vieles ist in Vietnam inzwischen als Weltkulturerbe geadelt worden. Das Flussdelta des Han in der Nähe von Hoi An versorgt die Menschen vorzüglich mit Fisch und Reis. In den Marmorbergen haben zwei Dutzend Vietkongkämpferinnen mit 13 Mörsern fast 20 Flugzeuge der Amerikaner abgeschossen. Ansonsten schaut man aus allen kleinen vietnamesischen Häuschen direkt in den feuchtwarmen Himmel.

Was wollten die Amerikaner und Franzosen hier eigentlich?

Traugott antwortet Agnieszka: „Zweifellos wollten die Besatzer keinen Reis anbauen oder gar in den Himmel schauen. Sie wollten nur fragwürdige einheimische Herrscher stützen oder andere fremde Herrscher besiegen. Dabei richteten sie ‚Kollateralschäden‘ an. Die Tempelanlagen in MySon wurden ein weiteres Mal zerstört und auch in der alten Kaiserstadt Huế richtete man Unheil an, nur um die Geschicke des Landes einem gewünschten Bündnispartner übergeben zu können. Immer sucht man die Verstecke von Gegnern mit der politischen Wünschelrute. Aber die kleinen Vietnamesen haben sich ganz allein gegen die große, übermächtige Gegnerschaft gewehrt. Weil das Land so feucht und so fruchtbar ist, viel Wasser, Bäume und Sträucher gibt es, hat man einen natürlichen Schutzwall. Den Ausgang des Vietnam-Krieges konnte man also voraussagen. Die Luft, der Boden, das Feuer und das Wasser wurden zu Trutzburgen des Widerstands. Niemand, außer den Einheimischen, wird dieses Phänomen wirklich erkennen und sinnstiftend beschreiben können.“

Agnieszka stimmt aus vollem Herzen zu.

Wie faszinierend es doch, dass ausgerechnet dieses wundervolle asiatische Land zur europäisch-lateinischen Schriftsprache gefunden hat.

Chữ quốc ngữ entwickelte sich durch Modernisierungen und Vereinheitlichung von Schreibweisen zu einer lateinischen Schriftsprache mit zwei zusätzlichen Buchstaben für die Vokale, die in westlichen Sprachen nicht existieren. Daneben werden die sechs Töne durch Diakritika dargestellt. Chữ quốc ngữ ist seit dem Jahr 1945 die offizielle Staats- und Verkehrsschrift Vietnams.

Ab dem 16. Jahrhundert begann die missionarische Tätigkeit von katholischen Priestern aus Europa. Aus Portugal, Italien, Spanien und Frankreich kamen sie. Sie benötigten eine Umschrift der vietnamesischen Aussprache in lateinische Buchstaben, um die Sprache derer, die sie vom Christentum überzeugen wollten, zu lehren. Gleichzeitig hofften sie, dass das Erlernen des lateinischen Alphabets auch das Erlernen des jeweiligen europäischen Verständnisses erleichtern würde. Die Pioniere der Entwicklung waren Christofora Borri, Francisco de Pina und Francisco de Buzomi. Die Missionare Gaspar d’Amaral, Antoine de Barbosa und Alexandre de Rhodes erstellten unabhängig voneinander die Wörterbücher der vietnamesischen Sprache. Im Jahre 1651 wurde das Dictionarium Annamiticum Lusitinum et Latinum von Alexandre de Rhodes in Rom zum Druck freigegeben.

Traugott glaubt, dass die vietnamesische Aussprache von Wörtern manchmal sogar ein wenig polnisch klingt. Agnieszka kann das nicht bestätigen. Sie ist noch zu stark mit deutschen Erklärungs- und Übersetzungsversuchen beschäftigt. Aber vor allem bringen die Schwüle und die Luftfeuchtigkeit im subtropischen Sommer in der Mitte Vietnams beide Verliebte sprachlich noch viel enger zusammen. Ohne die Reise hätte das möglicherweise viel länger gedauert.

Agnieszka sagt auf dem langen Rückflug von Hongkong nach Frankfurt immer wieder in verschiedenen Varianten, dass Hồ Chí Minh dem Land gut getan habe. Traugott findet das großartig, denn auch er hatte als junger Student häufige den Namen des vietnamesischen Führers laut auf deutschen Straßen den Polizisten entgegengerufen. Er ist sich nur nicht mehr ganz sicher, ob das auch politisch klug war. Agnieszka hat ihn nun überzeugt. Selbstzweifel sind nicht angebracht. Vietnam ist heute ein blühendes Land und wird eine große Zukunft im Kleinen haben. Wenn man in Vietnam noch mehr auf Kleinräumlichkeit, Landwirtschaft und Verkehr setzen würde, sagt Traugott, so würden noch sehr viel mehr Touristen aus europäischen Ballungsgebieten der Chemie- und Pharmagiganten ins Land strömen und sich endlich befreien wollen.

Deshalb also ist Traugott Helfer in Vietnam ein Graswurzelhistoriker geworden, der nun von ganz unten nach ganz oben in den Himmel schaut. Ein Träumer gewiss, aber auch ein großer Realist.

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