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Warum war die Frauenleiche angezündet worden? Die Antwort konnte nur lauten: um die Identifizierung der Frau zu verhindern. Nur hatte der Täter den Schal übersehen, den die Frau getragen hatte. Sibiu hatte früher Hermannstadt geheißen. Viele Deutsche hatten sich dort angesiedelt. Also war es möglich, dass sie die verschwundene Julika tatsächlich gefunden hatten und Thereses Sorgen begründet gewesen waren. Jan hatte versprochen, das alte Nokia orten zu lassen, aber bisher war nichts dabei herausgekommen.

Birte spürte, wie erschöpft sie war, als sie nach Hause kam. Sie würde sofort duschen müssen, um den Brandgeruch abzuwaschen. Was musste das für ein Bild sein, einen lebendigen Menschen, der vor einem lag, mit Benzin zu übergießen, als wäre er ein Stück Holz? Bei dem Gedanken erschauderte sie.

Es war kurz vor Mitternacht. Max war auf dem Sofa eingeschlafen, zu seinen Füßen aufgeschlagene Kataloge. Hawaii – die Strände, die Bars und Cafés. Sie betrachtete die Aufnahmen mit einem gewissen Unbehagen. Eigentlich hatte sie nicht nach Hawaii fliegen wollen, aber Max meinte, es müsse sein – nur so könne er endlich mit seinem Unfall und der Amputation seines Beines abschließen.

Sie setzte sich an den Esstisch und klappte ihren Laptop auf. Noch stand nichts von dem Fund der Frauenleiche im Internet, doch lange würde man die Nachricht nicht zurückhalten können.

Als Nächstes gab sie »rumänische Mädchen« ein. Sie landete auf mehreren Seiten, auf denen Frauenbekanntschaften offeriert wurden. Rumänische Mädchen seien attraktiv, zärtlich, treu und nicht sehr anspruchsvoll. Mindestens zehn Anbieter präsentierten dazu im Netz ihre Dienste mit aufreizenden Fotos junger, stark geschminkter Frauen.

War diese Julika deshalb nach Köln gelockt worden – um verheiratet zu werden oder als Prostituierte zu arbeiten? Vermutlich. Aber wie passte da ein Mord ins Bild?

Birte klappte ihren Laptop zu. Die Fotos dieser Mädchen, die sich leicht bekleidet und in lasziven Posen anboten, deprimierten sie.

Max schlug kurz die Augen auf. »Bist du wieder da?«, flüsterte er.

»Ja«, erwiderte sie, aber im nächsten Moment war er schon wieder eingeschlafen.

Sie ging ins Bad und duschte so lange, bis sie meinte, den Brandgeruch völlig abgewaschen zu haben, dann kroch sie zu Max ins Bett, der im Schlaf sanft die Hand um sie legte. Doch bereits nach drei Stunden schreckte sie auf. Es war halb vier. Sie war hellwach. Max lag neben ihr und atmete ruhig ein und aus. Die verbrannte Leiche, die wie eine Mumie aussah, stand ihr vor Augen. Welch eine grausame Tat! In der Küche kochte sie sich einen Kaffee und zog sich dann fast geräuschlos an. Sie würde nicht mehr einschlafen können. Da konnte sie ebenso gut ins Präsidium fahren.

Auf der Straße war nur der Zeitungsbote zu sehen – ein alter grauhaariger Italiener, mit dem sie schon einige Male gesprochen hatte, als sie spät von einem Einsatz zurückgekehrt war, und der sie freundlich grüßte.

Statt sofort nach Kalk ins Präsidium zu fahren, rollte sie langsam an den Ringen entlang. Zwei Gruppen von Männern, die wahrscheinlich gerade aus einem der Clubs kamen, zogen die Straße entlang. Weitere Passanten waren nicht zu sehen. Wie viele junge Mädchen waren in den letzten Monaten mit falschen Versprechungen nach Köln gelockt worden?, fragte sie sich. Und wo kamen all diese Mädchen unter? Ungefähr fünfzehnhundert registrierte Prostituierte gab es in Köln, die Dunkelziffer kannte niemand. In der letzten Zeit hatte die Polizei sich um Shishabars, um die Salafistenszene und Rockerbanden gekümmert; um illegale Prostitution war es kaum mehr gegangen.

Birte begriff, dass sie immer eine Polizistin sein würde; Schiller hatte ihr gestanden, dass er nach ihrem letzten großen Fall seine Kündigung geschrieben hatte, die fertig in seiner Schublade im Präsidium lag und die er nur hervorziehen und mit einem aktuellen Datum versehen musste, wenn ihm alles zu viel wurde; sie aber könnte nie etwas anderes sein als eine Ermittlerin. Das würde auch Max verstehen müssen.

Von den Ringen bog sie über den Ebertplatz in Richtung Bahnhof ab. Hier hatte Therese die junge Rumänin entdeckt, die ängstlich umhergeschlichen war.

Der graue, öde Platz hinter dem Bahnhof lag verlassen da. Nur an einem Tisch vor einer Bäckerei saß eine Gestalt, die sich langsam aufrichtete und zu ihr herüberschaute. Birte stoppte den Wagen. Die Gestalt trug einen dicken Parka und eine Wollmütze, die sie tief ins Gesicht gezogen hatte. Neben ihr lag ein Rucksack.

Eine Frau, erkannte Birte, da saß eine junge Frau. Sie schaltete den Motor ab und stieg aus, und im selben Moment richtete die Frau sich auf, griff nach ihrem Rucksack und begann in Richtung Rhein zu laufen, doch sie hinkte leicht und kam nur langsam voran. Birte hatte keine Mühe, sie einzuholen.

»Bitte bleiben Sie stehen!« Birte zog ihre Polizeimarke hervor. »Ich möchte Sie nur etwas fragen.«

Erschöpft beugte die Frau sich vor und versuchte, ruhig ein- und auszuatmen.

»Ich habe nichts getan«, sagte sie mit einem schweren osteuropäischen Akzent. »Nichts getan.«

»Ich glaube Ihnen gerne«, erwiderte Birte mit sanfter Stimme. »Woher kommen Sie? Rumänien?« Es war eine Frage ins Blaue hinein.

Die Frau schaute auf, sie war jung, allenfalls Anfang zwanzig. Grünliche Augen starrten sie ängstlich an. »Polen«, sagte sie. »Ich bin Ewa aus Polen. Ich habe im Moment kein Haus.« Ihr Mund verzog sich schmerzhaft.

»Ich suche eine Frau – sie kommt aus Rumänien«, sagte Birte. Sie zog ihr Smartphone hervor und rief das Foto auf, das Therese von Julika Bottesch gemacht hatte. »Haben Sie diese Frau schon einmal gesehen?«

Ewa starrte auf das Display. »Ich weiß nicht«, sagte sie. »Kann sein. Ich weiß nicht … Einmal in der Woche kommt ein Bus aus Rumänien mit Mädchen.«

Im Bahnhof hatte bereits ein Café geöffnet. Als Birte hinüberdeutete, begann Ewa heftig zu nicken. »Kaffee?«, fragte sie.

»Ja«, sagte Birte. »Ich könnte auch einen vertragen.«

In dem Selfservice-Café mussten sie an der Kasse warten, weil bereits etliche Frühaufsteher anstanden. Wortlos tranken sie ihren Kaffee. Birte beobachtete die junge Frau, die auf dem Sprung zu sein schien, als wollte sie gleich wieder fliehen.

»Ich bin Danuta – aus Litauen«, erklärte die Frau unvermittelt. »Ich sage immer erst falschen Namen. Ich dachte, ich hätte einen Freund in Deutschland, aber es war kein Freund.« Sie brach abrupt ab. Ihr Blick glitt ins Leere. »Deutscher Mann war ein Lügner«, sagte sie leise. Zwischendurch trank sie, und als ihr Becher leer war, stand Birte auf, holte einen zweiten und ein Croissant.

»Wir haben eine tote Frau gefunden.« Birte beobachtete, wie Danuta sich über das Croissant hermachte. »Könnte sein, dass sie aus Rumänien eingereist ist.«

Danuta starrte sie über ihren Kaffeebecher an. »Ich habe eine Krankheit, schlechtes Blut. Eigentlich müsste ich nach Litauen zurück, aber da glaubt man, dass ich reich geworden bin in Deutschland. Habe am Telefon gesagt, ich hätte Geld. Zweitausend Euro.«

War jemand reich, der zweitausend Euro besaß? Birte besah die Hände der Frau, die schmutzig und rissig waren, als hätte sie schon längere Zeit auf der Straße gelebt.

»Was haben Sie in Litauen gemacht?«, fragte sie.

Danuta verzog erneut den Mund. Es sah aus, als würde diese Frage ihr Schmerzen bereiten. »Ich habe studiert. Englisch und Deutsch. Ich wollte Lehrerin werden …« Sie zögerte. »Nein, wollte ich eigentlich nicht. Ich bin … Puppenspielerin. In Vilnius bin ich durch die Altstadt gegangen, alte Stadt sehr schön, und habe gespielt … Vor dem Rathaus … vor der Kathedrale und am Tor der Morgenröte.«

»Tor der Morgenröte – was für ein schöner Name!« Birte lächelte.

Danuta nickte. »Es ist ein Tor und eine Kapelle mit einer schwarzen Madonna. Wunderschönes Haus.« Plötzlich liefen ihr zwei dicke Perlen über die Wangen, die sie sich mit einer schnellen Bewegung wegwischte. »Sorry«, sagte sie. »Mir geht es nicht gut. Ich muss zurück nach Hause, aber ich habe nichts. Meine beiden Puppen … gestohlen.« Sie zog sich die Mütze vom Kopf. Kurzes, blondes, schmutziges Haar kam zum Vorschein. »Ich habe sogar auf Deutsch gespielt, für Touristen. ›Faust‹. Eine Figur war Faust, die andere Mephistopheles.« Sie veränderte ihre Stimme ein wenig. »›Ich bin der Geist, der stets verneint.‹« Dann begann sie zu husten, und zwei weitere Tränen rollten ihr über die Wangen.

Birte wartete einen Moment. Dann sagte sie zu ihrer eigenen Überraschung: »Ich muss etwas über diese Mädchen wissen, die aus Rumänien kommen, aber vorher kannst du duschen und dir etwas anderes anziehen.«

Es war kurz vor halb sieben, als sie mit Danuta in ihrer Wohnung eintraf. Max schlief noch. Nachdem sie Danuta das Badezimmer gezeigt und ihr ein paar Kleidungsstücke hingelegt hatte, nahm Birte wieder ihren Laptop hervor. Gab es einen Fahrplan? Konnte man einsehen, wann Busse aus Bukarest oder Sibiu nach Köln kamen? Nein, sie fand nichts. Von Köln aus wurden sieben Ziele in Rumänien angeflogen, aber nur die Namen Bukarest und Sibiu sagten ihr etwas. Dann schickte sie Nele eine Nachricht, dass sie sich bei der Bundespolizei, die für den Bahnhof zuständig war, erkundigen mussten, ob etwas über Busse aus Rumänien bekannt war.

Als Danuta in einer ihrer alten Jeans und einem weißen T-Shirt aus dem Bad kam, trat ihr ein veränderter Mensch entgegen. Sie wirkte nun noch jünger und viel hübscher.

Gleichzeitig schlurfte leicht hinkend Max aus dem Schlafzimmer. Er trug seinen langen Bademantel, der seine Prothese bedeckte. Erstaunt blickte er die fremde Frau an.

Birte lächelte. »Max, das ist Danuta aus Litauen. Sie ist Puppenspielerin und irgendwie in Köln gestrandet. Ich glaube, wir müssen ihr ein wenig helfen.«

Nachtengel von Köln

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