Читать книгу Nachtengel von Köln - Reinhard Rohn - Страница 6
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ОглавлениеWas sie vermisste, war Zärtlichkeit – die Zärtlichkeit, die sie gespürt hatte, wenn ihr Großvater ihr über die Wange gestrichen hatte. Er war der Ziegelmacher des Dorfes, seine Hände waren voller Risse und Schwielen, und doch hatte er sie mit der größten Zärtlichkeit berührt. Ihre erste Erinnerung galt auch ihm – es war der Geruch von feuchtem Lehm und Tabak. Ihre Großmutter hatte sich immer im Hintergrund gehalten, sie war die Schweigerin, und ihre Eltern hatten sich 1995 in den Westen aufgemacht; da war sie ein Jahr alt gewesen. Zwei Jahre später waren sie bei der Fahrt zurück verunglückt, ein Lastwagen hatte sie überrollt, und ihr Versprechen, sie eines Tages nachzuholen, wenn sie eine große, schöne Wohnung hatten, hatte sich in nichts aufgelöst.
Ohne ihren Großvater wäre sie verloren gewesen. Wenn sie die Augen schloss, konnte sie ihn neben sich spüren, sie konnte nach seiner Hand tasten, und sie konnte die Wiesen riechen, auf denen die Arnika wuchs, und sie konnte die Schmetterlinge hören. Ja, davon war sie überzeugt – dass sie Schmetterlinge und deren Flügelschlag wahrnehmen konnte. Am liebsten mochte sie den Segelfalter. Ihr Großvater kannte sich wie kein anderer mit Schmetterlingen aus. Er kannte alle Namen, die deutschen und rumänischen und sogar die lateinischen. Als Kind hatte sie sich mit geschlossenen Augen auf die Wiese hinter seiner Werkstatt gestellt, hatte die Arme ausgebreitet und darauf gewartet, dass ein Schmetterling kommen und sich auf ihren Handrücken setzen würde. Meistens war auch einer herangeflogen – ein sanfter Lufthauch war bereits entstanden, wenn er sich ihrer Haut genähert hatte.
In Köln hatte sie noch nie einen Schmetterling gesehen. Wahrscheinlich gab es hier gar keine. Es gab Autos, Geschäfte, Menschen, sehr viele Menschen, aber keine Schmetterlinge.
Die Sehnsucht nach dem Großvater trieb ihr die Tränen in die Augen. Warum war sie nur hierhergekommen? Es war doch alles ein Irrtum.
Nein, war es nicht, musste sie sich eingestehen. Ihre Eltern waren hier gewesen, und sie hatte immer schon den Ort sehen wollen, an dem sie so viel Geld hatten verdienen wollen, um in ihrem Dorf ein Haus zu kaufen und es zum schönsten in der ganzen Gegend zu machen. Und außerdem hatte sie gedacht, dass sie ja die Sprache sprechen konnte. Ihre Großeltern hatten immer Deutsch mit ihr geredet, von klein auf, ihr Großvater war stolz darauf gewesen, ein Siebenbürger Sachse zu sein, Nachfahre von deutschen Auswanderern, aber als der Mann, der sich Radu genannt und sie in Sibiu angesprochen hatte, sie mit seinem Bus in Köln abgesetzt hatte, hatte sie zuerst kaum ein Wort verstanden. Ihr Großvater hatte seine Worte langsam und deutlich betont, hier jedoch redeten die Leute schnell, in einem merkwürdigen Singsang, und sie verwendeten Begriffe, die sie noch nie gehört hatte.
Radu war auch sofort wieder abgefahren, und Vladan, der andere Mann, der älter und viel unfreundlicher war, hatte sie zu einem Arzt gebracht. Sie hatte sich auf eine Liege legen müssen, und dann war ein noch älterer gebückter Mann ins Zimmer gekommen und hatte sie untersucht, ohne ein einziges Wort zu sagen.
Als Radu sie in Sibiu gefragt hatte, wie alt sie sei, hatte sie sich vier Jahre jünger gemacht. Zweiundzwanzig, hatte sie gesagt.
»Du bist hübsch«, hatte er auf Rumänisch gesagt, »und du sprichst Deutsch. Im Westen könntest du viel Geld verdienen. In einem Restaurant in Deutschland suchen sie so jemanden wie dich. Könnte es dich interessieren, viel Geld zu verdienen und eine eigene schöne Wohnung zu haben? Außerdem bist du nicht allein. Irina ist auch in Deutschland. Du kennst doch Irina, nicht wahr?«
Ja, sie kannte Irina, die auf ihre Schule gegangen war und auch deutsche Vorfahren hatte, trotzdem hatte sie Nein sagen wollen. Nein, ich bin zufrieden hier, in diesem Café in Sibiu zu arbeiten, aber es stimmte ja nicht. Und dann hatte sie gezögert und Radu gefragt, von welcher Stadt in Deutschland er spreche, und zu ihrer Überraschung hatte er Köln genannt, die Stadt, in der ihre Eltern gearbeitet hatten.
Davon, dass sie das Haus, in dem sie ein kleines Zimmer hatte, gar nicht mehr verlassen sollte, hatte Radu nichts gesagt; auch nicht, dass Vladan, ihr Aufpasser, ein mürrischer, wortkarger Mann war. Irina, die sie gleich nach ihrer Ankunft im Haus getroffen hatte, hatte sie gewarnt, dass er nachts in die Zimmer der Mädchen kommen würde. Und genau eine Nacht später hatte sie Irina schreien gehört, schreckliche Schreie, die noch in ihrem Kopf widerhallten. Vladan oder jemand anderes hatte Irina geschlagen, da war sie ganz sicher, auch wenn die Schreie abrupt aufgehört hatten. Doch am nächsten Tag war Irina nicht mehr da gewesen. Sie war ganz allein gewesen und hatte beschlossen zu fliehen. Aus dem Fenster hatte sie springen müssen und sich dabei den Fuß ein wenig verstaucht, doch nun würde alles gut werden. Sie hatte am Bahnhof Therese, eine freundliche alte Frau, getroffen, und sie würde nur noch einmal zurückgehen in dieses dunkle Haus, in dem noch zwei andere Mädchen eingesperrt waren, wie Irina gemeint hatte, die sie selbst aber nie gesehen hatte.
Es war fast Mitternacht. Irina hatte ihr verraten, wo der Schlüssel für die Kellertür lag, unter einem schweren Aschenbecher aus Stein, und dann würde sie hinaufschleichen in ihr Zimmer und ihre Tasche mit ihren Sachen, mit den Fotos und dem Geld holen, das Radu ihr als Anzahlung gegeben hatte – dreihundert Euro in sechs schönen neuen Fünfzig-Euro-Scheinen.
Sich anzuschleichen hatte sie immer schon vermocht; das hatten ihr die Schmetterlinge auch beigebracht – dass es Momente gab, in denen man ganz lautlos sein musste.
Sie hatte sich zuerst beinahe verirrt. Wo war das Haus, aus dem sie vor drei Tagen aus dem Fenster geklettert war?
Sie war am Rhein entlanggegangen, dann hatte sie ein Haus mit einem kleinen Turm gesehen, und da hatte sie gewusst, dass sie in der richtigen Gegend war.
Das Haus war weiß und sehr verwinkelt. Nur in einem Fenster, unten neben der Tür, brannte Licht. Wahrscheinlich wohnte Vladan, der Wächter, da. Ihm durfte sie auf keinen Fall über den Weg laufen.
Als sie an der Haustür entlangstrich, sprang sofort das Licht an. Hastig zog sie sich in die Dunkelheit zurück. Die Kellertreppe lag rechter Hand, da befand sich auch der schmale Kiesweg in den Garten, der von ihrem Fenster hübsch ausgesehen hatte. Eine Terrasse mit einer Rasenfläche und Büschen rundherum.
»Du wirst noch einmal untersucht werden«, hatte Vladan gemeint, »und dann darfst du auch in den Garten. Bevor deine Mission beginnt.«
Sie hatte nie herausgefunden, was das für eine Mission sein sollte, aber eines hatten ihr Irinas Schreie verraten: Mit einem Restaurant hatte diese Mission nichts zu tun.
Vorsichtig schlich sie die Kellertreppe hinunter. Und wenn der Schlüssel da gar nicht lag, wie Irina gemeint hatte?
Hier war es so dunkel, dass sie kaum etwas erkennen konnte.
Plötzlich surrte das alte Nokia-Handy, das Therese ihr gegeben hatte, in der Hosentasche ihrer Jeans. Wahrscheinlich machte die alte Frau sich Sorgen, wo sie abgeblieben war.
Sie tastete auf einem schmalen Fenstersims nach dem Aschenbecher. Tatsächlich, da stand etwas, das sich wie ein schwerer Stein anfühlte. Darunter kam in dem Lichthauch, der bis in die Treppenwinkel drang, ein silberner großer Schlüssel zum Vorschein.
»Abends betrinkt Vladan sich, obwohl er der Aufseher ist«, hatte Irina gemeint, »und dann steht er vor der Tür und raucht, und wenn die Tür zuschlägt und er den Schlüssel vergessen hat, kommt er durch den Keller ins Haus zurück.«
Sie nahm den Schlüssel, der sich wie ein Stück Eis anfühlte. Das Handy surrte immer noch. Mit größter Vorsicht schob sie den Schlüssel ins Schloss.
War es ein Fehler, dass sie ihre Sachen holen wollte? Nein, das Geld gehörte ihr und die Fotos und ihre wenigen Sachen, der Wollpullover, den ihre Großmutter ihr zum zwanzigsten Geburtstag gestrickt hatte. Diese Sachen konnte sie nicht einfach aufgeben. Und in ein paar Tagen war sie zurück, bei ihrem Großvater und den Schmetterlingen. Deutschland ist schön, würde sie ihre Großeltern belügen, aber es ist nichts für mich – zu laut, zu viel Verkehr und die Sprache verstehe ich auch nicht so richtig. Sibiu und euer Haus sind meine Heimat.
Das Surren des Telefons hörte auf. Geräuschlos drehte sie den Schlüssel herum. Mit einem leisen Knirschen drückte sie die Klinke herunter. Die Metalltür sprang sofort aus dem Schloss. Sie drückte die Tür einen Spaltbreit auf. Sie hatte keine Taschenlampe dabei, aber ihr Handy verbreitete ein wenig Licht. Ihr Zimmer lag im ersten Stock. Sie hoffte, dass es nicht abgeschlossen war, aber falls doch, hatte sie sich von Therese einen Dietrich geliehen, na, ausgeborgt, ohne sie danach zu fragen.
Nach zwei Schritten in den Keller hinein lauschte sie. War da irgendwo jemand? Nein, nur ihr Herz schlug hart und sandte ein dumpfes Pochen bis in ihre Ohren hinauf.
Geh nicht weiter, sagte ihr dieses Pochen. Es ist dumm, was du tust. Du bist hier abgehauen, und nur für ein paar Geldscheine und ein paar Erinnerungsfotos kehrst du zurück – zu einem Mann wie Vladan, der dich einsperrt hat.
Sie zögerte. Sie sollte auf ihr Herz hören. Bei Florim hatte sie es auch getan, obschon er sie dann betrogen hatte. Florim mit den langen blonden Haaren, der ihr die Unschuld genommen hatte.
Sie seufzte; es klang viel zu laut, ein Geräusch, das sie selbst erschreckte.
Großvater, flüsterte sie stumm, ich habe versprochen, sofort zurückzukommen, wenn es mir hier nicht gefällt. Und du hattest recht: Es gefällt mir nicht. Ich will zurück in unser langweiliges Dorf, ich will dir zusehen, wie du deine Ziegel brennst, und dann will ich mit dir über die Wiese gehen zu den Schmetterlingen und zu deinen Bienen, oder wir pflücken Arnika und bringen sie zu Daria, die es an den Apotheker in Sibiu verkauft.
Sie wandte sich um. Sie würde auf ihr Herz hören. Ja, das würde sie tun – sie würde zurück zu der alten Frau gehen und dann mit der Eisenbahn nach Rumänien fahren – ohne Geld und ohne ihren Pullover und ihre Fotografien.
Immer mehr, immer schnellere Gedanken wirbelten durch ihren Kopf. Zurück, ja zurück nach Daia, ihr Dorf, zu dem Großvater und seiner kleinen Werkstatt.
Doch da, kaum dass sie einen Schritt retour in Richtung Tür gemacht hatte, sprang ein Licht über ihr an, ein gleißendes, hässliches Licht, das ihr in den Augen wehtat und ein hartes Netz aus grellweißen Strahlen über sie warf.
Vladan stand auf der Treppe. Sein Schnauzbart verzog sich, seine Zähne sprangen darunter hervor, er grinste. Er war kein bisschen betrunken.
»Schön, dass du wieder da bist, Julika«, sagte er auf Rumänisch. Seine Stimme klang heiser, als hätte er den ganzen Tag geschrien. »Ich hatte mir schon Sorgen gemacht.« Sein Grinsen erfasste nun auch seine Augen.
Nun musst du aber abhauen, sagte ihr Herz, ganz schnell. Die Beine in die Hand nehmen, sozusagen.
Aber nein – das, was Vladan, da in der Faust hielt, war schwarz und aus Metall, der kurze Lauf einer Pistole, die eindeutig auf sie gerichtet war.