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»Mein Weg basiert auf Versuch und Irrtumsbeseitigung.«

Scheitern als Lernprozess

In einer ausweglosen Situation, wie beim Rückzug aus dem winterlichen Grön-land, entstehen Zweifel. Zweifel am Sinn eines solchen Unternehmens, Zweifel am eigenen Können, Zweifel am Leben. Gleichzeitig aber kommen neue Ideen, klare Erkenntnisse. So kam mir in Isartok die Idee, dass die Grönland-Durchquerung von Süden nach Norden, die ich für den Sommer 1993 geplant hatte, als Diagonale von Südosten nach Nordwesten spannender und eleganter ist als der ursprüngliche Plan, vom äußersten Südzipfel bis nach Thule zu laufen.

Um im Süden aufs Eis zu kommen, hätte ich Helfer gebraucht. Wochenlang hätten wir die schwere Ausrüstung über aperes Gelände bis zum Eisrand schleppen oder – einfacher, aber nicht nach meinem Geschmack – einen Hubschrauber für diese felsige Anfangsstrecke einsetzen müssen. Im Südosten von Grönland gibt es nicht nur Hunde, das Eis reicht dort bis zu den Dörfern, bis zum Wasser. Also konnte ich in Isartok besser als irgendwo sonst am Meer beginnen, diagonal über Grönland laufen, um dann im Norden am Meer aufzuhören. So ist im Eis, beim Scheitern im Winter, die Idee der »Grönland-Längsdiagonale« entstanden.

Klingt es für Laien in Sachen Grenzgang unglaubwürdig, wenn einer, der nicht mehr ein noch aus weiß, der mit seinen Grenzen konfrontiert ist, am Rande eines Abgrunds steht, im Geiste bereits mit neuen, vielleicht noch kühneren Ideen herumspielt? Mir geht es oft so: Statt über das endgültige Aufgeben meiner Grenzgänge nachzudenken, entwerfe ich neue. Immer wieder. Und ich bin nicht der einzige Abenteurer, der so reagiert. Die Frage, ob wir unsere Welt nicht immer neu erfinden müssten, taucht vorwiegend beim Scheitern auf.

Sir Ernest Shackleton, nach meinem Dafürhalten der kühnste Eisfahrer dieses Jahrhunderts, ist zu immer neuen Ideen gekommen, weil er immer wieder gescheitert ist. Er hat keines seiner Projekte mit Erfolg zu Ende geführt. Er ist immer gescheitert. Seine Erfahrungen aber haben ihn sukzessive zu immer kühneren Schritten im Grenzgang beflügelt. Am Beginn des Jahrhunderts ist Shackleton zusammen mit Scott und Dr. Wilson ein gutes Stück über das Ross-Schelfeis Richtung Südpol marschiert. Sie sind nicht allzu weit gekommen, bis knapp vor Gateway. Dabei haben sie den Zugang zum antarktischen Hochplateau geahnt. Beim Rückmarsch erlebten sie dramatische Momente.

Obwohl Scott Shackleton für eine weitere Expedition als »zu schwach« abschob, hat dieser eigenwillige Ire wenige Jahre später ein eigenes Unternehmen auf die Beine gestellt: den Fußmarsch zum Südpol. Mit drei Freunden stieß er, über Gateway und den Beardmoregletscher aufsteigend, weit in das Innere der Antarktis vor. Sie kamen bis knapp vor den Südpol. Erkennend, dass Zeit, Brennstoff und Nahrungsmittel nicht ausreichten, um zum Südpol zu gelangen, kehrte Shackleton um. Der Rückzug wurde zu einem Wettlauf mit dem Tod.

Trotzdem ist Shackleton 1914 wiedergekommen. Vom Weddellmeer aus wollte er die Antarktis überqueren. Über den Südpol. Amundsen und Scott hatten den Südpol inzwischen erreicht. Shackleton wollte einen Schritt weiter gehen. Er wagte »den letzten Trip auf Erden«. Bei dieser Expedition ist er gleich zu Anfang gescheitert, die Selbstrettung aber dauerte Jahre. Shackleton hat mit seiner Mannschaft alles durchgemacht, was Menschen aushalten können. Wenn zu guter Letzt alle nach Hause kamen, obwohl ihr Schiff, die »Endurance«, von den Eisbergen zerdrückt worden war wie eine Nussschale, dann nur, weil Shackletons Führertalent und der Zusammenhalt der Mannschaft mit der Not gewachsen waren.

Shackleton hatte immer noch nicht genug. In den Zwanzigerjahren reiste er ein viertes Mal in die Antarktis. Am Eisrand ist er gestorben. An Herzversagen. Ohne einen weiteren Versuch unternehmen zu können, in das Innere des »siebten Kontinents« vorzudringen.

Das Ausgesetztsein mobilisiert Kräfte in uns, die wir vorher nicht gekannt haben. Und im Scheitern ist das Ausgesetztsein oft gesteigert. Oft regt es zu neuen Kombinationen in der Lösung von Problemen an. Plötzlich ist etwas Nichtfür-möglich-Gehaltenes möglich. Auch deshalb beim Rückzug kaum Angst zu versagen. Die Angst vor dem Versagen war bei meinen Expeditionen hauptsächlich vor dem Start da. Nie beim Rückzug. Auch nicht unmittelbar nach dem Scheitern. Natürlich war mir jedes Mal klar, wenn ich aus einer Wand abseilte, ohne den Gipfel erreicht zu haben, dass ich »verloren« hatte. Auch in Grönland, als ich am Beginn der Winterdurchquerung im vielen Neuschnee stecken blieb, kam das einem Imageverlust gleich. Aber das belastete mich nicht.

Das Image bedeutet mir weniger als die gewonnene Erfahrung. Und Erfahrung wächst uns gerade beim Scheitern zu. Die wiederholte Erkenntnis, begrenzt zu sein, vor allem den Naturkräften gegenüber, ist wichtig. Erfahrungen beim Grenzgang wären nicht möglich, wenn ich nicht begrenzt wäre. Begrenzt in meiner Energie, begrenzt in meiner Kraft, begrenzt in meinem Mut, begrenzt auch in meiner Erfahrung.

Weil ich begrenzt bin, sind Erfahrungen in der Auseinandersetzung mit der wilden Natur möglich. Deshalb auch nie Probleme, mich beim Scheitern fürs Weiterleben zu entscheiden. Die Erkenntnis: »Bis hierher und nicht weiter« kommt spontan, oft in Bruchteilen einer Sekunde. Und ich gebe ihr nach.

Als wir beim Versuch, die Südostwand des Cho Oyu im Himalaja erstmals im Winter zu durchsteigen, knapp unterm Gipfel in einen lawinenschwangeren Ich bin weder eine Kampfmaschine noch ein Fitnesswunder. Auch kein Durchhaltefanatiker. Ich bin viel verletz-licher und begrenzter, als man glaubt. Schneehang stapften, schaute ich meinen Partner Hans Kammerlander nur an. Wir sprachen kein Wort. Aber ich wusste, dass auch er für Umdrehen war. Die Gefahren – der Hang hätte bei jeder Erschütterung abgehen und uns mitreißen können – waren zu groß. Lieber absteigen, lieber Imageverlust als vielleicht tot.


Zeit-Erfolg-Diagramm in Bezug auf das Scheitern.

Die Kunst des großen Abenteuers ist das Überleben. Nicht wer einmal, zweimal oder dreimal den Hasardeur spielt und dann zwangsläufig umkommt, ist der Größte, sondern der Grenzgänger, der immer wieder überlebt. Abbruch in diesem Zusammenhang bedeutet nicht nur, ein paar Jahre weiterzuleben, es bedeutet Zuwachs an Instinkten, das Überleben betreffend. Und es macht frei für andere, »vernünftigere« Dinge, für neue Ansätze. Das Risiko ist zwar Grundbedingung für das Abenteuer, aber nicht Ziel. Ohne Risiko ist Abenteuer nicht denkbar. Aber es kommt nicht darauf an, in der Gefahr umzukommen. Durchkommen heißt die Devise!

Diese Aussage erscheint nur einem Laien widersprüchlich. Mir ist sie so selbstverständlich wie das Wissen, dass Risiko generell zu einem intensiven Leben gehört. Ein Künstler, ein Sportler, ein Geschäftsmann akzeptiert in seiner Sparte Risiken. Er wächst an ihnen. Risiken sind die Widerstände, die wir erkennen, annehmen, meistern wollen. Oder umgehen. Wer das Riskmanagement besser beherrscht, wird auch erfolgreicher sein.

Nun ist das Risiko in einer senkrechten Felswand etwas anderes als in einem Wirtschaftsunternehmen. Wer als ungesicherter Alleingeher abstürzt, ist tot. Ein Manager, der einen wesentlichen Fehler macht, setzt »nur« seinen Betrieb in den Sand. Trotzdem will ich das Risiko am Berg nicht mystifizieren. Ich nehme es an. Es gehört dazu. Ich bin also vom Risiko nicht fasziniert oder hypnotisiert. Mehr Intensität bedeutet mehr Risiko. Aber ich ängstige mich nicht allzu sehr davor,weil ich mir das Scheitern erlaube. Der Abbruch einer Expedition, das sogenannte Scheitern, ist kein Makel, sondern ein wichtiger Erfahrungsprozess.

Wie der Erfolg auch. Erfolg kann ich auf Dauer nur haben, wenn ich scheitern darf. Wie soll ich denn spielen, ohne zu verlieren, ohne zu scheitern? Würde ich aufgrund von Können, Glück, Zufall in Serie erfolgreich sein, wäre ich früher oder später verloren. Allzu große Distanz zur Realität wäre die Folge. Und Realitätsverlust führt früher oder später unweigerlich zum endgültigen Scheitern. Wir alle sind Menschen und als solche begrenzt. Wir alle machen Fehler.

Ich begreife das Scheitern als mehrfache Chance. Häufig bin ich mit neuer Entschlusskraft und klareren Vorstellungen aus dem Scheitern herausgegangen. Allein für das Besteigen der 14 Achttausender habe ich 30 Expeditionen gebraucht. 18-mal bin ich bis zum Gipfel gekommen, zwölfmal gescheitert. Und wenn ich am Ende das Ziel erreicht habe, dann auch deshalb, weil ich immer wieder aufgestanden bin, nicht aufgegeben habe. Um weiter zu kommen als andere, muss ich öfter wiederaufstehen können als andere, auch häufiges Scheitern verkraften lernen. Unterlegensein macht zudem bescheiden, weise und tolerant. Der Erfolgreiche ist auch der, der öfter als alle Gescheiterten bereit war, von Neuem anzufangen. Wir alle sind Sisyphus und müssen uns vom Abstieg die Freude nicht verderben lassen. Die Erfahrungen aus dem Gescheitertsein einzubringen und zu versuchen, über den letzten Umkehrpunkt hinauszugehen, lohnt sich.

Mein Lebensziel besteht nicht darin, möglichst viele Erfolge anzuhäufen. Obwohl ich mich natürlich über Erfolge freue. Obwohl Erfolg selbstbewusst, stark, erfolgreich macht. Nichts ist erfolgreicher als der Erfolg selbst. Mein Lebensziel –auf weite Sicht betrachtet – ist Weisewerden. Ich möchte weder ein reicher noch ein erfolgreicher, kein berühmter alter Mann sein (sollte ich ein hohes Alter erreichen), sondern ein weiser alter Mann.

Weisesein bedeutet Erfahrungen haben, bedeutet Distanz, Toleranz, Großzügigkeit. Begriffenhaben und Wissen sind viel, Weisheit ist mehr: Mit allen Sinnen, mit dem Herzen, mit dem Verstand begriffen haben, wie limitiert wir sind. Weisesein bedeutet vor allem das Erkennen und Anerkennen der menschlichen Grenzen. Weniger der Möglichkeiten. Das menschliche Beschränktsein wird vor allem beim Scheitern bewusst. Es ist wie rückwärts fliegen. Und es macht menschlich.

Weisesein heißt nicht passiv sein. Keine Fehler macht nur der, der nichts wagt. Ob aus Vorsicht oder Angst vor Versagen bleibt sekundär. Die panische Angst zu scheitern aber bremst nicht nur die Tat, sondern auch den Erfahrungsprozess im Leben. Deshalb sind mir Menschen, die handeln und scheitern, lieber als Zögerer, Zweifler, Abwarter. Wer nicht scheitern will, kommt auch nicht weiter.

Also sage ich mit Goethe: »Am Anfang stand die Tat.«

Berge versetzen

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