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»Das erreichte Ziel ist eine Art Gewohnheit geworden und damit rückständig.«

Die Vertikale gestrichen

20.5.1969

Während der Vorbereitungen zu zwei Prüfungen (Mathematik und Mechanik) erreicht mich in Padua, wo ich Hoch – und Tiefbau studiere, ein Telegramm. Ich bin eingeladen, anstelle von Kurt Schoißwohl, genannt »Gagga« (Innsbruck), an einer Tiroler Expedition in die Anden teilzunehmen.

Obwohl ich wegen des intensiven Studiums unter Schlafproblemen und seelischen Erschöpfungszuständen leide, will ich die vorgesehenen Prüfungen ablegen und im Sommer nur klettern. Körperlich fühle ich mich in guter Form, weil ich trainiere (Dauerläufe und Krafttraining im Klettergarten). Im Frühling sind mir ein Dutzend Klettertouren in den Piccole Dolomiti bei Vicenza, in der Schiara und Sella gelungen.

Ich sage zu. Statt in eine Art »innere Emigration« zu gehen, gehe ich in die Anden. So beginnt meine erste Auslandsbergfahrt.

25.5.1969

Abflug von Innsbruck. Über Zürich und Rio geht es nach Lima in Peru. In nur vier Tagen habe ich Pass, Impfungen und fehlende Ausrüstung besorgt. Das Studium ist vorerst vergessen.

3.6.1969

Fahrt von Lima nach Chiquian (3150 m). Beginn des Anmarsches.

6.6.1969

Marsch zum Caruacochasee (Basislager).

14.6.1969

Peter Habeler und ich starten kurz nach 3 Uhr im Lager I und steigen mit dem ersten Tageslicht in die Ostwand des Yerupaja Grande ein. Über harten Firn kommen wir rasch voran. In 5500 Meter Höhe Steinschlag! Unter uns ein Nebelmeer. Rückzug. Auch ein Versuch, den Yerupaja Chico zu besteigen, scheitert im grundlosen Pulverschnee.

Sepp Mayerl fixiert zur gleichen Zeit am Südwestpfeiler des Yerupaja Grande 100 Meter Fixseil.

18.6.1969

Um 1 Uhr nachts stehen Peter und ich auf.Sternenklare Nacht.Es ist kalt.Mit Stirnlampen, einem 60-Meter-Seil, fünf Firnhaken, vier Eisschrauben und sieben Felshaken steigen wir in die Ostwand des Yerupaja Grande ein.

Es ist gespenstisch, wenn mitten in der Nacht ein Licht hoch über oder tief unter dir herumfuchtelt. Die Vertikale wird so als Abgrund nach unten und nach oben in den Himmel erfahrbar. Unheimlich! Trotzdem nichts Beängstigendes. Beim Hellwerden sind wir 6600 Meter hoch. Im felsigen Gipfelaufbau, wenige Dutzend Meter unter dem höchsten Punkt, beginnen wir abzusteigen. Der Gipfelfelsen ist zu morsch. Abwechselnd lassen wir uns am fixen Seil hinunter. Der Zweite steigt jeweils frei nach. Nach nur 3 Stunden – wir verständigen uns mit Seilziehen und Wortfetzen – sind wir wieder unten.

In einer so großen Wand zu klettern bedeutet Eindeutigkeit. Ich mache mir dabei keine Sorgen, ob ich mit 30, mit 60 oder vielleicht erst mit 100 Jahren sterbe. Wichtig ist nur, dass ich mich konzentriere, keinen Fehler mache, meinen Weg gehe. Mein Leben ist ganz ausgefüllt.

23.6.1969

Um 2 Uhr nachts steigen Peter und ich wieder in die Ostwand des Yerupaja Grande ein. Wir wollen Sepp Mayerl und Egon Wurm unterstützen, die den Pfeiler links der Wand erstmals über eine sehr schwierige Route durchklettern. Aufgrund von Steinschlag und mehreren Schneerutschen gehen wir ins Ostwandlager zurück. Der Expeditionsleiter Otti Widmann und Heli Wagner sind am Vortag vom Pfeilerlager III ins Basecamp abgestiegen.

Peter und ich gehen über die Südwestflanke auf den Yerupaja Chico. Dabei beobachten wir Sepp und Egon bei ihrer diffizilen Kletterei zwischen dem Vorgipfel und einer riesigen Wechte unterm Hauptgipfel, den sie morgen erreichen werden.

9.7.1969

Rückkehr nach Villnöss. Besuch bei Sepp und Egon in der Universitätsklinik Innsbruck, wo ihre Erfrierungen behandelt werden, die sie sich bei ihrem dramatischen Abstieg vom Yerupaja Grande zugezogen haben.

15.7.1969

Nach einem halben Dutzend Klettertouren in den Dolomiten Fahrt nach Chamonix, wo ich als Gast der ENSA (Nationale Französische Berg- und Skischule) mit Erich Lackner ausWien zusammentreffen soll. Er ist nicht da.

16.7.1969

Erich Lackner ist an den Petites Jorasses. Aufstieg zur Argentièrehütte.

17.7.1969

Nach einer schlaflosen Nacht später Start für die Durchsteigung der Droîtes-Nordwand. Erster Alleingang in weniger als 8 Stunden. Abstieg bis nach Chamonix.

18.7.1969

Aufstieg mit Erich Lackner zum Fourchebiwak am Fuße der Brenvaflanke des Montblanc.

19.7.1969

Aufstieg zum Col de Peuterey und weiter über den Frêney-Zentralpfeiler zum Gipfel des Montblanc.

Ich sehe die Gipfel als Ziel, und meineWelt ist die Vertikale. Ich bin im Gleichgewicht. Es stimmt, ich mache es mir einfach. Die Gipfel sind oben. Indem ich Tag für Tag, Woche für Woche auf Berge hinaufsteige, bin ich immun gegen Zweideutigkeit und Kompromisse. Unentschlossenheit ist mir zuwider. Ich bewundere und suche Geradlinigkeit. Die Einsamkeit, die tagelange Stille, der Himmel schützen mich vor den vielen Unsicherheiten und Unverbindlichkeiten in der menschlichen Gesellschaft.

22.7.1969

Das Vorhaben, den »Helenenpfeiler« an den Grandes Jorasses erstzubegehen, geben Erich und ich am Wandfuß wegen Steinschlags auf. Erste Unsicherheit macht sich bemerkbar.

23.7.1969

Aufstieg zur Argentièrehütte und Studium des Nordostpfeilers an den Droîtes.

24.7.1969

Erste Begehung des Droîtespfeilers. Wir nennen ihn »Berglandpfeiler«, nach dem Wiener Kletterclub, dem Erich und ich angehören.

25.7.1969

Abstieg von der Couverclehütte nach Chamonix. Abschiedsfeier bei der ENSA. Nachricht vom Tod Jörg Lehnes am Fuße desWalkerpfeilers. Jörg Lehne gehörte zehn Jahre lang zu den kreativsten deutschen Bergsteigern (Große-Zinne-Direttissima, Eiger direkt imWinter). Sein Seilpartner Karl Golikow liegt mit einem Oberschenkelbruch in der Klinik. Besuch (am nächsten Tag) bei Karl Golikow.

Bezeichnenderweise hängen Unfälle häufig mit Ausgebranntsein zusammen. Für viele von uns folgen auf eine große Serie von Erfolgen Erstarrung und Inflexibilität. Beim Bergsteigen kommt es in solchen Fällen häufig zum Tod. Anspruchsdenken, losgelöst von Begeisterung, Kreativität, Motivation, bremst nicht nur die Leistung, es führt in einen Teufelskreis von Energieverlust, Sinn- und Lustlosigkeit.

Eine große Zahl von tödlichen Bergunfällen zeigt dies: Hermann Buhl, der erfolgreichste Alpinist der Fünfzigerjahre, starb 1957, unmittelbar nach der Besteigung seines zweiten Achttausenders. Jerzy Kukuczka 1989, nachdem er alle 14 Achttausendergipfel erreicht hatte. Wanda Rutkiewicz, zwei Jahrzehnte lang die erfolgreichste Bergsteigerin, blieb 1992, ausgebrannt, zuletzt tot am Kangchendzönga liegen. Pierre Béghin stürzte wenige Monate später an der Südwand der Annapurna ab. Der Franzose war sensibel, gescheit, kreativ und sehr erfolgreich gewesen.

2.8.1969

Nach weiteren Erstbegehungen im Montblanc-Massiv glückt mir die erste Alleinbege-hung der Philipp/Flamm-Verschneidung an der Civetta-Nordwestwand. Regen ab Wandmitte, Schnee im Gipfelbereich, Nebel!

Es gelingt mir deshalb nicht, neue Erkenntnisse über den schwach ausgeprägten Pfeiler links der »Philipp/Flamm« mitzubringen. Die Struktur der Felsen schreibt dort eine neue Route zwingend vor. Sie gehört zu einem halben Hundert Erstbegehungsmöglich-keiten, die ich in einem kleinen Heft vermerkt habe, das ich immer bei mir trage. Es ist mir wichtiger als mein Tourenbuch. Es ist mir »heilig«. Nur mein jüngerer Bruder Günther hat Einblick. In dieses Ideenheft notiere ich meine Realutopien. Viele gedachte Routen, mit geschätztem Zeit- und Materialaufwand, den zu erwartenden Schwierigkeiten bei der Erstbegehung.

Als »ultimative Erstbegehung« ist eine Linie an der Marmolada gezeichnet. Durch die 1000 Meter hohe, durchwegs senkrechte Plattenflucht der Südwand der Marmolada d’Ombretta, rechts der »Via dell’Ideale«, muss ein Weg führen. Ich weiß, er ist möglich. Mir fehlt nur noch die richtige Einstellung zu ihm. Dabei gibt es nicht etwas zu entdecken, sondern alles wieder und wieder zu erfinden. Das Felsklettern steht an einem neuen Anfang. Alles wurde immer wieder erfunden. Nichts und alles war vorher da.

10.8.1969

Einstieg in die Eiger-Nordwand. Versuch eines Alleingangs.

Eine Seilschaft hoch über mir tritt immer wieder Steine los. Nebel auf der Höhe des Zweiten Eisfeldes.

Fluchtartiger Rückzug.

16.8.1969

Am Nachmittag (nach dem Zustieg) klettere ich über die Vinatzer-Führe in der Südwand der Marmolada di Rocca bis zum Band (Wandmitte). Wieder im Alleingang.Die Route kommt mir schwieriger vor als bei den zwei Begehungen in Seilschaft mit meinem Bruder Günther.

Biwak. Mein zehntes in diesem Jahr.

17.8.1969

Erste Begehung (Solo) der Marmolada-di-Rocca-Gipfelwand. Einige Stellen zweimal geklettert. Fast alle Haken belassen. Mein schwierigster Alleingang.

24.9.1969

Nach einem Dutzend Erst-und Solobegehungen will ich die Alleinbegehung der Scotoni-Südostwand wagen. »Bergmüde« verzichte ich am Einstieg und klettere die Pisoni-Route in der breiten Wandflucht weiter rechts.

25.9.1969

Mein Mathematikbuch ist nicht gebunden. Zu Stapeln von je 20 Blättern liegt es auf meinem Schreibtisch. Es sind zehn oder zwölf. Ich nehme einen dieser Stapel und setze mich auf den Balkon, um zu lernen. Das mit den doppelten Integralen verstehe ich noch. Aber sonst ist mir vieles abhanden gekommen. Am nächsten Morgen suche ich die losen Blätter zusammen und stelle sie dorthin, wo sie den Sommer über waren. Für einen Neuanfang im Studium fehlt mir die Motivation. Einen Sommer lang habe ich Universität, Freundin und meinen Nebenberuf als Bergführer vergessen. Ich genieße die Freiheit dessen, der nichts hat, was er verlieren könnte, außer seiner Begeisterung.

4./5.10.1969

Kletterausklang im Kaisergebirge mit meinem Bruder Günther und Walter Troi: Fleischbank-Ostwand, Christaturmkante; Predigtstuhl, Dülfer-Route; Hintere-Goinger-Halt-Nord-grat; Bauernpredigtstuhl, Rittlerkante. Der Schnee in den Dolomiten ist früher gekommen als sonst. Es reicht nicht einmal für einen Versuch an unserer ultimativen Marmolada-Tour. Als kletternder Mensch bin ich sicher und kreativ, solange ich mich in meinem Element bewege. Mein Gleichgewicht, das ununterbrochen verloren sein könnte, muss ununterbrochen zurückgewonnen werden. Mit jedem »Move« (Bewegung einer Hand, eines Fußes usw.) würde ich abstürzen, setzte ich den Instabilitäten nicht (instinktiv oder bewusst) eine Reaktion entgegen.

Ich ahne nicht, dass meine Kletterzeit mit diesem Sommer 1969 zu Ende ist. Ein halbes Jahr später gehen Günther und ich zusammen zum Nanga Parbat. Unser Ziel ist die Rupalwand, die höchste Fels- und Eisflanke der Erde. Günther kommt dabei ums Leben. Ich verliere ein paar Zehen und alle naiven Gewissheiten.

Weil wir für nichts eine Antwort gesucht haben, haben wir auch nichts infrage gestellt. Wenn die Objektivität, die Gewissheit, aufhört, haben wir Angst, im Nichts zu verschwinden, das Denken in Kreisen beginnt, das Sowohl-als-Auch wird zwingend. Subjektive und objektive Sicherheiten bröckeln. Nicht nur weil ich 1971 wegen der Amputationen nicht mehr so gut klettern kann wie vorher, streiche ich die Vertikale aus meinen Tagträumen. Auch weil ein Sättigungsgrad erreicht ist. Im Herbst 1969 bin ich ausgebrannt gewesen, klettermüde. Ich gehe auch nach der Tragödie am Nanga Parbat nicht auf die Universität zurück. Ich entscheide mich für die großen Berge. Meine »ultimative Erstbegehung« in den Dolomiten – in meinen Utopien als »Butterfly« abgelegt, später als »Fisch« von anderen realisiert – interessiert mich plötzlich viel weniger als die Grenzgänge im Himalaja und Karakorum. So vollziehe ich (fast unbewusst) den Paradigmenwechsel: vom Felskletterer zum Höhenbergsteiger.

Berge versetzen

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