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Оглавление»Die Kunst des Gehens liegt im richtigen Weg.«
Wege zum Erfolg
Mein Tun ist a priori nicht notwendig. Es ist möglich. Trotzdem bin ich überzeugt von meinem Tun. Das Leben besteht in erster Linie darin, uns auszudrücken, unsere Fähigkeiten auszunutzen, unser Menschsein zu erfahren.
Unsere Schöpferkraft auszuschöpfen ist die Möglichkeit schlechthin. Alles, was wir in die Welt hineinlegen – Sinn, Werte, Lebensfreude –, macht uns aus. Die wichtigste menschliche Fähigkeit ist Sinnstiften. Nicht weil ich besonders stark, ausdauernd, kühn wäre, bin ich erfolgreich. Ich mache mir mein Tun zuerst sinnvoll. Dabei bin ich weniger durch meine Erfolge der geworden, der ich heute bin, als vielmehr durch mein häufiges Scheitern. Und wenn ich noch lebe, verdanke ich dies zu einem Teil dem Glück. Ich bin nicht vollkommen. Ich habe immer wieder Fehler gemacht. Ich bin ein Mensch.
Und nur weil ich menschlich bin, können meine Erfolge, die ich neben den Misserfolgen als Erfahrungsgrundlage habe, von Interesse sein. Auch für andere. Wäre ich physisch oder psychisch stärker, ausdauernder, leidensfähiger als andere, wäre das, was ich weiß, nicht anwendbar für sie. Ich bin nicht das, was man in der griechischen Mythologie einen Helden genannt hat. Ein solcher wäre abgehoben von den übrigen Menschen, nicht verwundbar, nicht vergleichbar und damit uninteressant.
Ich will in diesem Buch nicht erzählen, warum ich auf Berge steige. Auch nicht, wie ich zum Halbnomaden wurde zwischen den großen Gebirgen und den Eiswüsten. Wie ich es getan habe, ist mein Thema, und wie ich es weiterhin tun will. Nicht technisches Können, die Ansprüche an mich selbst sind entscheidend. Ich möchte das Wie hinter sensationellen Verpackungen verständlich machen: Wie gehe ich einen Berg an? Wie nähere ich mich einer großen Wüste? Wie verhalte ich mich mir selbst, der Natur, meinen Partnern gegenüber? Wie man klettert, wie man sich sichert, gehört zum Handwerk, aber niemals zum Erfolgsgeheimnis.
Ich möchte nicht behaupten, dass nur ich kann, was alle anderen noch nicht getan haben. Ich unterstelle sogar, dass die meisten Menschen – Erfahrung vorausgesetzt, mit entsprechendem Training, im richtigen Alter – auf den Mount Everest hätten steigen oder durch die Antarktis hätten laufen können. Wenn sie es nur mit der gleichen Vehemenz wie ich gewollt, mit der gleichen Besessenheit betrieben hätten. Zum Glück aber wollten und wollen die anderen etwas anderes.
Meine Welt, der Hintergrund meines Tuns, ist vertikal und horizontal. Gipfel – spitz und hoch, symbolhaft darstellbar wie Pfeile – für Konzentration und Ebenen für Sich-Verlieren. Die entsprechenden Landschaften, die Stimmungen gehören zum Faszinierendsten auf dieser Erde. Erfolge finden dort allerdings nicht statt. Dort lebe ich auch nicht. Ich bin nur zeitweise da, ganz da, und Erfolge kommen heraus wie die Summe beim Addieren.
Alles beginnt mit einem Tagtraum. Daraus wächst eine Idee. Indem ich mich auf sie konzentriere und an ihr arbeite – wochenlang, monatelang, jahrelang –, entsteht ein Ziel. Ein stiller Entschluss in mir zündet die Tat. Jeder Aufstieg beginnt im Kopf. Der Berg draußen ist nur die Entsprechung. Sich ganz und nur mit einem einzigen Ziel zu identifizieren heißt das Ziel sein.
Jeder kann sich einen Berg vorstellen: Europäer das Matterhorn, Japaner den Fujiyama, Amerikaner den Devil’s Tower. Ein Berg hat eine klare Form. Vor allem für Kinder bestehen Berge aus klaren Linien. Diese laufen nach oben hin zusammen. Alle ragen sie in die Höhe. Alle Kanten treffen sich in einem Punkt, dem Gipfel. Für Kinder ist es selbstverständlich, dass ich auf einen Berg hinaufsteigen will. Das Ziel ist sichtbar, die Motivation ist vorgegeben.
Die Geschichte des Bergsteigens zeigt, dass es nicht immer so war. Der Mensch ist zwar schon vor 5000 Jahren auf Berge gestiegen, auf hohe Berge sogar; er tat dies jedoch, um leben zu können. Um den Himalaja zu überqueren, um Tiere über die Alpen zu treiben, um zu jagen.
Heute klettern wir aus Selbstzweck. Das moderne Selbstzweck-Bergsteigen ist etwa 200 Jahre alt. Entstanden aus Neugierde und Ausgleichsspiel in der jungen Industriegesellschaft. Der Mensch wollte wissen, wie es da oben aussieht, wie die Temperaturen sind. Er wollte immer höher hinauf, immer schwierigere Wege klettern. Er hat inzwischen die höchsten Berge der Welt erreicht und die schwierigsten Wände durchstiegen.
Stetig vollzog sich der Wandel vom Bergsteigen als Natursportart mit Abenteuercharakter zur Nur-Sportart mit Show – und Rekordcharakter.
In den letzten 20 bis 30 Jahren habe ich versucht, das Abenteuer Berg durch Verzicht wieder spannend zu machen. Es will nicht gelingen. Ich verzichte mit Absicht auf die Überlegenheit des Menschen dank seiner Technik, um menschliche Fähigkeiten zu fordern, um meine Schwächen und Ängste kennenzulernen. Trotzdem, der Berg wird in unserem Bewusstsein mehr und mehr zum Sportgerät.
Wir sind risikofeindlich, rekordsüchtig. Wie soll ich Angst als die andere Hälfte des Mutes begreifen, wenn es keine Gefahr gibt? Es gibt keinen Mut ohne Angst. Das Bild vom furchtlosen Helden täuscht. Er ist ein Fantasieprodukt. Ein Held, der keine Angst hat, braucht keinen Mut. Ein Kletterer, der nur schneller oder schwieriger klettern will, lässt den Weg zum Rekord absichern, vorbereiten. Wo bleibt da noch Platz für Zweifel, für Er-fahrungen? So jemand kennt das eine wie das andere nicht. Er ist steril, eindimensional, langweilig.
Es geht mir beim Bergsteigen nicht darum, irgendeinen Gipfel zu »erobern«. Für wen auch? Wie jede Form von Kolonialismus aufhören muss, hat der Eroberungsalpinismus aufzuhören. Er hat keine Berechtigung mehr.
Mir geht es um Erfahrungen. Zur wilden Landschaft, den hohen, abweisenden Bergen, der Wüste draußen gibt es in mir eine seelische Entsprechung. Je höher der Berg vor mir, umso größer der Zweifel, die Angst in mir. Riesige Berge entsprechen riesigen Abgründen in uns, in die wir fallen können.
Trotzdem, beim Bergsteigen ist die Zielsetzung einfach: Der Gipfel ist oben. Er ist sichtbar. Meist ist er auf Landkarten eingetragen. Ich kann ihn vor Ort und anhand von Bildern studieren. Es braucht nicht viel Fantasie, sich als Bergsteiger Problemstellungen an einem Berg auszudenken, vorzustellen.
Der K2, der zweithöchste Berg der Erde, ist eine gewaltige Pyramide. 42 Matterhörner hätten in ihr Platz. Trotzdem ist er besteigbar. Niemandem aber wird es gelingen, ihn zu überrennen. Heute wollen, am nächsten Tag starten und am dritten Tag den Gipfel erreichen geht nicht. Nur nach langer Vorbereitung, nach der Auseinandersetzung mit dem Berg, wächst jene Energie in uns, die bis zum Gipfel trägt.
Jede Bergtour beginnt vor dem Aufbruch, und der letzte Schritt zum Gipfel hängt ab vom ersten Schritt dem Ziel entgegen. Für die letzten und meist anstrengendsten Schritte zum Gipfel braucht es ein starkes Momentum. Die Anerkennung, die anschließend winkt, die mögliche Auswertung reichen dafür nicht aus. Auch Ehrgeiz und Medaillen als Siegespreis fallen dort oben als Motivation aus. Die Motivation wächst mit der Begeisterung. Wenn ich das, was ich tue, mit Begeisterung tue, wenn es meinem Wesen entspricht, bin ich stark. Je länger ich mich mit meinem Ziel auseinandergesetzt habe (auch wenn ich vorher am Gelingen zweifelte), je mehr Energie ich eingebracht habe, um den ersten Schritt zu tun, umso mehr Motivation habe ich später.
Meist ist es so: Ich entdecke eine Möglichkeit. Sie ist der Ansatz zu einem Gedankenspiel. Woher sie kommt, ist sekundär. (Ein Gespräch, der Blick auf ein Bild, das Studium der Abenteuergeschichte lösen sie aus.) Plötzlich habe ich die Idee. Der Grenzgang beginnt also im Kopf. Dann trage ich meine Idee lange mit mir herum. Daheim, im Halbschlaf, Auto fahrend vielleicht kann sie reifen. Langsam wächst die Notwendigkeit, die Idee zu realisieren. Es kommt zur Geburt. Die Idee, dieses Luftschloss, das sich herauskristallisiert hat, wird lebendig.
Jetzt muss ich das Unternehmen finanzieren. Ich brauche Ausrüstung, eine Logistik, Partner. Einmal unterwegs, muss alles stimmen. Natürlich kann ich (kleine) Pannen, die im Rahmen der Vorbereitung gemacht worden sind, vor Ort ausgleichen. Ausrüstungsgegenstände können geflickt werden. Oft aber sind es die kleinen Fehler, die zum Scheitern führen. Mängel in der Kondition oder Ausrüstung können bei Grenzgängen sogar tödlich sein. (Kein Grenzgänger ist deshalb ein potenzieller Selbstmörder. Wir steigen nicht auf Berge, um uns umzubringen. Wir wollen lebendig wieder herunterkommen.)
Ich habe in meinem Leben als Grenzgänger nicht immer »Erfolge gehabt«. Und gelernt habe ich bei den gescheiterten Expeditionen mehr als bei den erfolgreichen. Eine Einschränkung: Hätte ich bei meinen ersten drei Expeditionen Misserfolge gehabt, ich wäre aus wirtschaftlichen Gründen zum Aufgeben gezwungen gewesen. Ich wäre also als Grenzgänger pauschal gescheitert.
Bis 1975 hatte ich wenige Kritiker. In dem Augenblick aber, als ich die bis dahin geltenden »Gesetze« des Höhenbergsteigens infrage stellte, Tabus brach, gab es plötzlich viele, die meinten, ich würde unerlaubt handeln.
Trotzdem ging ich meinen Weg weiter. Was mich faszinierte, war das Neue: tun, was noch nicht da war; versuchen, was niemand vorgegeben hatte; weiter gehen als alle anderen vor und neben mir. Ich wusste, wie es die anderen gemacht hatten, und ich wagte zuerst einen Schritt mehr, dann einen neuen Stil. Dieser Stil revolutionierte das Bergsteigen. Nicht nur, weil meine Expeditionsform billiger war; sie war leichter, schneller, auch sicherer. Wenn nur zwei sich den Gefahren der großen Höhe, der sauerstoffarmen Luft, Lawinen und Steinschlag aussetzen, können nur zwei umkommen. Nicht ein Dutzend, nicht Hunderte.
Risiko gehört zum Bergsteigen. Aber ich steige nie auf, um umzukommen. Deshalb die »Disziplin des Risikos« als Gegengewicht zum Ehrgeiz. Disziplin des Risikos heißt Wachsein, Vorbereitung, Training, Selbstbeherrschung, Einschränkung. Die preußische Eigenschaft Disziplin, von innen kommend, ist Voraussetzung für meinen Erfolg. Natürlich gehören auch Kreativität, Lebensfreude, »L’arte del vivere« – ich kenne als Südtiroler die südländische Lebensart – dazu. Aber ohne Disziplin sind meine Ziele nicht zu erreichen. Ohne Verzichtbereitschaft sind sie eine Todesfalle.
Schritte, die als nicht möglich gelten, fordern meine Fantasie, meinen Ehrgeiz und meine Disziplin gleichermaßen heraus. Immer noch. Es ist mir dabei nicht wichtig, worum es geht, wie hoch der Berg, wie groß die Wüste ist, mit denen ich mich auseinandersetze. Die Intensität der Auseinandersetzung entscheidet. Die höchstmögliche Intensität setzt Besessenheit voraus. Ich weiß, dieser Ausdruck ist negativ besetzt. Aber ich stehe zur Besessenheit. Ohne Fanatismus sind extrem schwierige Ziele nicht zu erreichen – so einengend er gleichzeitig auch ist.
Senkrechte Fels- und horizontale Eiswüsten haben gleichermaßen eine große Faszination. Sie fordern dich ganz. Wenn auch ganz anders. Beim Klettern bin ich äußerst konzentriert. Konzentriert auf Griff und Tritt, auf die Steigeisen, auf den Pickel, den ich an einem bestimmten Punkt ins Eis schlage. Ein Fehltritt, ein lockerer Griff kann Absturz, kann Tod bedeuten. Konzentration ist beim Fels- und Eisklettern lebenswichtig.
Beim Gehen, wenn ich wochen-, ja monatelang nur weiterziehe, verliere ich mich in Zeit und Raum. Nach einiger Zeit, wenn das Vorankommen zum Alltag geworden ist, beginnt die Leere. Es wird Platz frei für neue Sichtweisen. Die Fan-tasie bekommt Nahrung. Der Geist beginnt zu arbeiten. Nicht mehr Konzentration und Willen helfen, um weiterzukommen, sondern der schweifende Geist.
Klettern ist also eine Konzentrationsübung. In schwierigen Momenten bin ich ganz Fingerspitze, Zehenspitze. Im Kopf ist kein Platz mehr für Spielereien, für Fantasie, für Energien von außen.
Das Gehen, das Leben in der Eiswildnis entspricht der Meditation. Es macht leer. Keinerlei Ablenkung: Nichts als die weiße Weite um dich herum, kein Laut, nicht einmal ein Felsen; ein Horizont, der immer weiter wird, weil er mit jedem Schritt zurückweicht. Die Gedanken werden klar. Plötzlich strömen mir von außen Energien zu, Ideen, Kraft. Ich betrachte mich aus Distanz. Und Distanz zu sich selbst ist Grundvoraussetzung für starke Entscheidungen. Ich habe nie so weit und so klar denken können wie beim Marsch durch die Antarktis. Viel weiter als in der Stadt, wo meine Gedankenwelt von Häusern umstellt ist, von Regeln, Paragrafen, Konventionen. Weiter auch als in den Alpen, wo die Welt von Bergen eingerahmt ist. Mich interessiert es immer weniger, wie hoch ich steigen oder wie weit ich laufen kann. Den Abgründen meiner Seele, dem Verlorensein in der Einsamkeit gilt meine Neugierde. Ich will Ideen in die Tat umsetzen und wissen, was mit uns und zwischen uns im Grenzbereich passiert. Wenn die Gefahr groß, das Alleinsein lang wird, fallen die Masken.
Scheitern ist unter diesem Blickwinkel so wichtig wie der Erfolg.
Scheitern bringt, wirtschaftlich betrachtet, fast immer Nachteile, von der menschlichen Seite her gesehen nur Vorteile. Es macht menschlicher. Erfolg geht oft einher mit Entmenschlichung.
Meine (bisherigen) Spielfelder.
Eine senkrechte Felswand und eine Wüste sind als Medium für Ausgesetztsein ähnlich. Obwohl ihre Strukturen grundverschieden sind. Auch die Dimensionen sind unvergleichbar.
In der Felswand aber reichen oft 1000 Meter Vertikale, um jenes Gefühl von Herausgenommensein in uns entstehen zu lassen, das in einer tausendmal größeren horizontalen Wüste da ist.
Ein Berg ist eine aufgestellte Wüste; eine Wüste ist ein hingestreuter Berg.
Erfahrungswüsten
Beispiel Senkrechte: Dolomitenwände
Beispiel Waagrechte: Antarktis
Beispiel Berg: Mount Everest
Beispiel Mythos: Mallory
Jede Zeit hält ihre Grenzgänge bereit: Vom Nomaden, der zuerst wohl als Gejagter, dann als Jäger und Sammler überleben lernen musste, über den Eroberer der Wüsten, Pole und höchsten Gipfel bis zum Grenzgänger heute, der einem Anachronismus verfällt, wenn er sich freiwillig dorthin begibt, wo das Überleben schier unmöglich wird. Seine Herausforderungen schrumpfen mit der Technologie, und sie wachsen mit der Zerstörung der Umwelt.
Grenzpunkte
1 Im Winter durch Grönland
2 Die ultimative Erstgegehung
3 Die Rupalwand am Nanga Parbat
4 Ein Achttaussender im Alpinstil
5 Mount Everest ohne Maske
6 Nanga Parbat solo
7 Der Hattrick
8 Lhotse-Südwand
9 Quer durch die Antarktis
10 Ein Land begreifen
11 Takla Makan
12 Den Nordpol gibt es nicht