Читать книгу Grüße von Charon - Reinhold Vollbom - Страница 5
Heißes Eis
ОглавлениеKnirschend bohrten sich die mächtigen Autoreifen in die lockeren Kieselsteine des Einödhofes. Gleich darauf kam die Luxuslimousine zum Stehen.
Egon Thalmann, der Einödbauer mit den breiten Schultern und dem braungegerbten Gesicht, hatte den Wagen bereits frühzeitig bemerkt. Mit sicherem, stetigem Gang bewegte er sich auf den Fahrer zu. Der verließ zu dieser morgendlichen Stunde schwungvoll das Fahrzeug.
»Um es kurz zu machen«, eröffnete Egon Thalmann das Gespräch, »den Vorvertrag vom Grundstücksverkauf kannst du zerreißen. Den Zuschlag bekommt ein anderer. Nächste Woche wird der Vertrag unterschrieben. Deswegen bist du doch hier, oder?!«
Mit scharfem Blick sah Alwin Markowitz sein Gegenüber wortlos an.
»Du kannst dich wieder in deine Blechbüchse setzen und verschwinden«, sprach Egon Thalmann, nachdem der andere weiterhin schwieg.
»Hör zu, du alter Querkopf«, entgegnete ihm dieser jetzt, »du hast also herausbekommen, dass ich das Grundstück am Waldrand brauche, um den Freizeitpark zu bauen …«
»Gerade deshalb bekommst du das Land nicht«, unterbrach er ihn. »Sollen sich deine Stadtratten doch woanders austoben, als hier vor meiner Haustür.«
Mit stechenden, funkelnden Augen sah er den Bauern ärgerlich an. »Du bist ein aussterbendes Fossil im Rentenalter, Egon. Die Einwohner in der Umgebung halten dich für verrückt …«
»Weil ich mich weigere, an eurer sogenannten Zivilisation teilzunehmen?!«, entgegnete er spontan. »Weil ich keine Wasserleitung benötige, sondern mein Wasser aus dem Brunnen hole? Weil es bei mir keine Abwasserrohre, sondern nur einen Misthaufen gibt? Oder weil ich jeden vom Grundstück schmeiße, der mir hier ein Stromkabel verlegen will? Ich brauche keine Flimmerkiste, die mir das Elend der Welt ununterbrochen vor die Nase hält.«
Alwin Markowitz stand dem Kontrahenten nun von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Er vernahm den feuchten Atem des anderen im Gesicht. »Hör zu, Egon, ich habe den Vertrag hier bei mir. Und du wirst ihn unterschreiben … sonst …« Seine Stimme zitterte vor Erregung. Die Hände krampften sich zu einer Faust zusammen, um sich gleich darauf wieder langsam zu öffnen.
»Sonst, was?«, schrie ihn Egon Thalmann fragend an.
Den nächsten Satz sprach Alwin Markowitz leise, kaum hörbar. »Sonst bist du ein toter Mann.« Bei diesen Worten zog er einen Revolver aus der Tasche und richtete ihn auf sein Gegenüber.
»Ha! Und auf Grund des Vorvertrages hast du dann das Vorkaufsrecht nach meinem Tod, nicht wahr? Aber, wem glaubst du, wird man zuerst verdächtigen, wenn ich erschossen auf dem Grundstück gefunden werde? Du neunmalkluger Mistkerl.«
Langsam vorwärtsgehend zwang Alwin Markowitz den anderen Schritt für Schritt zum Rückzug. Wie eine Schlange, die das Opfer nicht mehr aus den Augen lässt, sah er hierbei den Einödbauern in die Pupillen. Nachdem sie die Türöffnung des Schuppens erreicht hatten, blieb er plötzlich stehen. Ein flüchtiger Blick zur Decke und zur Seite. Überraschend schnell zog er einen Hocker heran. Den bugsierte er unter einen dicken Balken, nahe der Schuppentür. Ebenso eilig ergriff er ein Seil, das locker über einem Kasten lag. Mit flinken geübten Handbewegungen knüpfte er eines der Seilenden zu einer Schlinge.
Sekundenlang sahen sich beide starr in die Augen. Gleich darauf sprach Alwin Markowitz den anderen mit schneidender Stimme an. »Los Alter, rauf auf den Hocker.« Und noch ehe Egon Thalmann etwas erwidern konnte, lag die Schlinge um seinen Hals. Das andere Ende warf er über den Balken und zog mit einem kurzen Ruck daran.
»Ich bekomme keine Luft mehr, du Idiot«, röchelte der Bauer schwer atmend. Hierbei stieg er auf den Hocker, um den Druck der Schlinge zu mindern. »Trotzdem unterschreibe ich nicht«, hechelte er mühsam. »Mag sein, dass ich in der Hölle lande. Du aber auf jeden Fall im Gefängnis.« Obwohl die Worte mutig klangen, machte sich in seinen Augen Angst breit. Todesangst.
Das lose Seilende hatte Alwin Markowitz an einem Querbalken der Schuppenwand befestigt. »Man wird annehmen, du hast den Tod deiner Ehefrau nicht verwunden. Weißt du, die Polizei sucht immer nach Motiven und all so ’n Kram.«
Egon Thalmann stand bewegungslos auf dem Hocker. Den Kopf hielt er wie erstarrt geradeaus gerichtet. Die Augen beobachteten hierbei jede Bewegung des anderen. Was tat der da, überlegte er? Doch allmählich keimte ein Verdacht ihn ihm auf. Verflixt, so viel Gerissenheit hätte er diesem Schurken gar nicht zugetraut. Die Augen weiteten sich. Dicke Schweißperlen bildeten sich urplötzlich auf seiner Stirn. Ihm wurde übel …
◊
Schweißtropfen mit dem Taschentuch von der Stirn tupfend, betrat Kommissar Steffen sein Büro. »Mein Gott, ist das heute wieder eine Hitze.« Gleich darauf setzte er sich an den Schreibtisch und nahm einen Schluck Mineralwasser aus dem Glas, das vor ihm stand. »Hatte ich dich nicht gebeten Eiswürfel hineinzuschütten, Kröger?!«
»Die waren auch drin, Chef«, knurrte dieser ärgerlich. »Vor einer guten Stunde jedenfalls noch. Ich konnte nicht ahnen, dass Sie wegen der Bagatellsache Thalmann eine knappe Stunde am Seziertisch zubringen würden.«
»Das ist keine Nebensächlichkeit mehr«, sprach der Kommissar zu seinem Assistenten gewandt. »Thalmann war bereits tot, als er sich erhängte. Er starb an einem Herzinfarkt. Tut mir leid, anders kann ich mich nicht ausdrücken.« Entschuldigend zog er die Achseln hoch.
»Moment mal, dann müssen sich doch die Mitarbeiter aus dem Sezierraum täuschen. Ein Toter kann sich nicht erhängen. Und ein möglicher Mörder wird wohl nicht sein bereits getötetes Opfer strangulieren, um sich unnötig in Verdacht zu bringen?! Das Motiv liegt doch auf der Hand. Thalmann hat den Tod seiner Ehefrau nicht verkraftet. Er schien soundso ein eigentümlicher Kauz gewesen zu sein.«
Kommissar Steffen seufzte. »Was meinst du, warum ich eine Stunde bei denen zugebracht habe? – Komm, gib mir einige Eiswürfel ins Glas. – Danke.«
Kröger schüttelte immer noch verständnislos den Kopf. »Einer seiner Bekannten, dieser Markowitz, hat sogar gesagt, dass Thalmann ihm gegenüber Selbstmordabsichten äußerte. Allerdings hat er das nicht ernst genommen, sagte er.«
Der Kommissar sah mit krauser Stirn grübelnd aus dem Fenster. Irgendwo in der Ferne verlief sich sein Blick. Gedankenverloren griff die rechte Hand das Glas mit dem Mineralwasser und führte es zum Mund. Mit einem Mal erschrak er, als die Eiswürfel gegen seine Oberlippe schwappten. »Herrje! Bin ich nervös«, stöhnte er.
»Trinken Sie das Glas in einer halben Stunde aus. Dann haben sich die Eiswürfel aufgelöst«, schmunzelte Kröger. Doch plötzlich stutzte er. »Ist was, Chef?« Neugierig sah er seinen Vorgesetzten an. »Sie sind auf einmal so blass geworden.«
»Mensch Kröger, ich habe da eine Idee. Sag mal, der Thalmann, hatte der eigentlich einen Kühlschrank im Haus?« Bei diesen Worten schwenkte der Kriminalbeamte die Eiswürfel in seinem Glas.
»Auf dem ganzen Grundstück gab es nicht einmal eine Steckdose. Das war doch ein ausgeflippter Eigenbrötler.«
»Los, schnapp dir die Taschenlampe. Wir müssen noch mal auf diesen Einödhof. Wenn das stimmt, was ich vermute …« Er unterbrach sich selber.
Eine knappe Stunde später standen sie unter dem Balken, an dem der Briefträger den dort bereits zwei Tage hängenden Bauern fand.
»Hier irgendwo muss es gewesen sein«, sprach der Kommissar, mit auf dem Boden gesenktem Kopf. »Da!« Seine ausgestreckte Hand deutete auf zwei breite Bretter. Hastig hob er eine der Holzbohlen an. »Los Kröger, runter mit dir.« Kommissar Steffen zeigte auf die schmale Treppe, die in die aus Ziegelstein gemauerte Vertiefung führte. Nachdem dieser ihn verwundert ansah, sprach er weiter. »Das ist der Kühlschrank vom Thalmann. Da staunst du, was?«
Am Boden angekommen ließ der Kriminalbeamte den Lichtkegel seiner Taschenlampe umherhuschen. »Tatsächlich, eine Vorratskammer. Und ziemlich kalt hier drin. – He, hier sind Schuhabdrücke von Halbschuhen. Glatte Sohle. Ein Abdruck von Thalmann kann das nicht sein. Der hatte nur Gummistiefel. Und die haben eine geriffelte Fläche.«
»Hier müssen die Jungs von der Spurensicherung noch mal ran«, dröhnte es von oberhalb der Öffnung. »Siehst du irgendwelche feuchten Flecke auf dem Boden?«
Es dauerte eine gewisse Zeit bis der Assistent dem Kommissar antwortete. »Ja, große dunkle Schmutzflecken. An denen ist es kälter als an den anderen Stellen.«
Befriedigt sprach Kommissar Steffen: »Du kannst hochkommen. Das genügt. Den Mörder vom Thalmann kenne ich.«
Kröger wusste, dass es in solch einer Lage zwecklos war, seinen Vorgesetzten nach dem Grund der Meinung zu fragen. Über kurz oder lang würde er es soundso erfahren. Nachdem er die Gruft verlassen hatte, sah er wie sein Chef, mit vorgebeugtem Oberkörper, nach irgendetwas auf dem Fußboden Ausschau hielt.
»Hmm …«, murmelte Kommissar Steffen leise vor sich hin. »Direkt über dieser Stelle hing der Thalmann.« Tastend befühlte er den mit Stroh bedeckten Boden. Da er mit dem Ergebnis der Suche nicht zufrieden war, wischte er kurzerhand das Stroh zur Seite. Plötzlich weiteten sich seine Augen erfreut. »Also doch«, triumphierte er. »Meine Vermutung war demnach richtig.«
»So, so«, entgegnete Kröger abwartend.
»Wie hieß der mit dem Vorkaufsrecht auf das Grundstück noch mal?«, wollte der Kommissar wissen. »Richtig, Markowitz. Der Einzige, der scheinbar in einer Beziehung zu Thalmann stand. Alle anderen kannten den Eigenbrötler zwar, hatten aber nichts weiter mit ihm zu tun.«
»Markowitz war auch derjenige, der vorgab, Thalmann hätte ihm gegenüber etwas von Selbstmord geäußert.«
Kommissar Steffen stellte sich nun aufrecht hin. »Dann, Kröger, würde ich sagen, wird es Zeit der Person eine Postkarte zu schicken, mit der Bitte bei uns einmal vorbeizukommen.« Schmunzelnd legte er bei diesen Worten seinen Arm auf Krögers Schulter und verließ mit ihm den Einödhof.
◊
Wenige Tage später betrat Alwin Markowitz das Büro der beiden Kriminalbeamten.
Nachdem sie sich gegenseitig vorgestellt hatten, nickte der Kommissar dem Assistenten kaum merklich zu. Daraufhin brachte Kröger seinem Vorgesetzten ein nur mit Eiswürfeln gefülltes Glas.
Wie selbstverständlich stellte der Kommissar das Becherglas in die Fensterbank, wo es den sengenden Strahlen der Mittagssonne ausgesetzt war. »Wie lange glauben Sie, Herr Markowitz, wird es dauern, bis die Eiswürfel aufgetaut sind?«
Die Augen des Angesprochenen huschten wieselflink von einem der Beamten zum anderen. Seine Zunge benetzte hektisch die trocknen Lippen. »Woher soll ich das wissen?«, krächzte er mit unsicherer Stimme.
Kommissar Steffen war über diese Antwort nicht überrascht. »Ehrlich gesagt, wir wissen es auch nicht. Wahrscheinlich werden die Eiswürfel erst aufgetaut sein, wenn Sie einige Etagen tiefer in einer der Zellen Platz genommen haben.«
»Ich verstehe nicht?!«
»Wo waren Sie letzten Samstagvormittag, gegen zehn Uhr?«
»Ab der Mittagszeit habe ich ein lückenloses Alibi …«
»Das kann ich mir denken«, unterbrach ihn der Kriminalbeamte mit ruhiger Stimme. »Aber Herr Thalmann starb bereits gegen zehn Uhr. Und nicht, wie Sie planten, irgendwann am späten Nachmittag. Zu einem Zeitpunkt, wo Sie keiner mehr verdächtigen konnte.«
»Ich verstehe immer noch nicht?«
Kommissar Steffen seufzte laut hörbar. »Also gut, fangen wir von vorn an. Wahrscheinlich ist es zwischen Ihnen beiden zu Unstimmigkeiten beim Grundstücksverkauf gekommen. Die Lösung sahen Sie im Tod des Einödbauern. Getarnt, als Selbstmord. Um nicht verdächtigt zu werden, brauchten Sie ein Alibi. Thalmann musste also zu einem Zeitpunkt sterben, der Sie über jeden Verdacht erhaben machte. Und da haben Sie sich etwas Besonderes einfallen lassen.«
Alwin Markowitz hörte dem Kriminalbeamten wortlos zu.
»Sie legten Thalmann eine Schlinge um den Hals. Als gelernter Matrose dürfte Ihnen das nicht schwergefallen sein, nicht wahr?! Dann zwangen Sie ihn, auf einen Hocker zu steigen. Das Seil zogen Sie nun bereits so fest, dass er sich kaum bewegen konnte. Danach holten Sie die großen Eisstangen aus seinem Vorratsraum. Ich meine die ausgemauerte Vertiefung mit den zwei Brettern darüber. Thalmann stach sich diese Eisstangen im Winter aus dem nahegelegenen Teich und benutzte sie über Monate hinweg zur Kühlung des Vorratsraumes …«
»Eine tolle Phantasie haben Sie«, schrie er den Kommissar gereizt an. »Nur haben Sie leider keine Beweise.«
Der andere winkte gelassen ab. »Unsere Spurensicherung hat im Vorratsraum einen Schuhabdruck sichergestellt, der nicht zum Toten gehört. Nachher werden Sie uns Ihre Schuhe zur Verfügung stellen müssen. Jedenfalls stapelten Sie die Eisstangen bis in die Höhe des Hockers übereinander. Danach zogen Sie das Seil ein wenig an. Um diesem Druck die Kraft zu nehmen, musste sich Thalmann ein, zwei Schritte vorwärts bewegen. Nachdem er dann auf dem Stapel Eis stand, traten Sie den Hocker nach hinten weg.«
Sekundenlanges Schweigen.
»Erst jetzt schien Herr Thalmann sich der Lage voll bewusst zu werden. Vermutete er vorher einen Einschüchterungsversuch von Ihnen, war ihm nun schlagartig klar geworden, dass er irgendwann im Laufe des Tages sterben müsste. Und alle würden denken er hätte sich aus Trauer, über den Tod seiner Ehefrau, das Leben genommen. Im Übrigen fand ich unter dem Stroh noch dunkle feuchte Flecken auf dem Holzboden.« Kommissar Steffen legte eine kurze Pause ein, bevor er weiter sprach. »Dieser Schock, über seine ausweglose Lage, führte dazu, dass Herr Thalmann einen Herzinfarkt erlitt. Nachdem sein Körper daraufhin schlaff in sich zusammensackte und die Schlinge sich um seinen Hals schloss, war er bereits tot. Nachdem Sie den Tatort verließen, lebte Herr Thalmann wahrscheinlich schon nicht mehr.«
»Ha!« Die Augen von Alwin Markowitz leuchteten urplötzlich funkelnd auf. »Er starb also an einem Herzinfarkt! Was, zum Teufel, mache ich dann hier in der Mordkommission?! Die Strafe, einen Leichnam unflätig behandelt zu haben, nehme ich gern in Kauf. Mehr nicht, meine Herren!«
»Nun«, entgegnete Kommissar Steffen, »unsere Rechtsprechung kennt auch den Vorwurf des Mordversuchs. Da kann schon einige Jahre gesiebte Luft zusammenkommen. Im Übrigen hat der Bürgermeister der Baugenehmigung für den Freizeitpark widersprochen. Wie wir erfahren haben, nutzten Sie Ihr Vorkaufsrecht bereits aus. Sie sind somit Besitzer des teuersten Brachlandes weit und breit. Sie sehen, Herr Markowitz, man kann sich auch an Eis die Finger verbrennen …«