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ОглавлениеDie verschiedenen Auslegungen der Offenbarung
Es gibt, vereinfacht erklärt, vier verschiedene Verständnisse bezüglich der Offenbarung. Sie unterscheiden sich fundamental voneinander. Aus jedem Verständnis resultieren unterschiedliche Auslegungen. Das ist für den Leser der Offenbarung oft verwirrend und daher erklärungsbedürftig.
Das folgende Bild kann uns helfen: Zwei Personen reisen nach Rom. Die eine von New York nach Rom, die andere von Zürich nach Rom. Dadurch, dass beide von einem ganz anderen geografischen Punkt aus nach Rom reisen, werden ihre Reisezeiten, ihre Reisekosten und ihre Reisefotos ganz unterschiedlich aussehen – obwohl beide nach Rom reisen! Es ist demzufolge entscheidend, WO ich mit einer Reise anfange: in New York oder in Zürich. Genauso ist es entscheidend, WO ich starte, wenn ich die Offenbarung des Johannes entdecken will. Mit diesem WO meine ich das persönliche Verständnis. Verstehe ich die Offenbarung z. B. als ein Buch mit echter biblischer Vorhersage (Prophetie) oder nur als eine Sammlung von Ideen und Urbildern über Gottes Handeln? Diesen verschiedenen Verständnissen entsprechend wird auch die «Reise» (die Auslegung) der Offenbarung unterschiedlich ausfallen.
Diesen Überlegungen vorgelagert wäre zudem die alles entscheidende Frage: Mit welcher Absicht hat denn Gott die Offenbarung in der Bibel aufschreiben lassen? Und: Was muss demzufolge mein Verständnis und die entsprechende Auslegung der Offenbarung sein?
1. Die Offenbarung als Geschichtstext über Vergangenes verstanden
Diese Variante wird auch «präteristisch» genannt («Präterita» = lateinisch = «das Vergangene»). Gemäß diesem Verständnis hat sich die Offenbarung in der Vergangenheit schon erfüllt. Insbesondere in der Zeit von ca. 70 n. Chr. bis ca. 500 n. Chr. Sie wird deshalb auch als «zeitgeschichtliche Auslegung» bezeichnet. Die Prophetien der Offenbarung werden gemäß diesem Verständnis nicht als wirkliche Vorhersagen über die damals ferne Zukunft verstanden; denn sie hätten sich bei deren Abfassung oder in den ersten rund vier Jahrhunderten nach deren Abfassung erfüllt. Die antichristlichen Despoten wären dann z. B. Nero und Domitian gewesen. Der Aufstieg des Christentums als Staatsreligion (Konstantinische Wende) und damit die Entstehung der katholischen Kirche in prunkvoller Variante wären gemäß diesem Verständnis Offb 21 und 22 zuzuordnen.
Die folgende Grafik stellt ein präteristisches Verständnis der Offenbarung dar. Der dunkel markierte Teil zeigt jenes Zeitfenster der Geschichte, in welchem sich gemäß dem präteristischen Verständnis die Offenbarung inhaltlich erfüllte. Die Pfeile stellen symbolisch einzelne markante Ereignisse dar:
Dieses Verständnis der Offenbarung ist relativ jung. Die erste systematische Darstellung wurde 1614 n. Chr. vom Jesuiten Alcazar auf 900 Seiten publiziert. Sie war ein Versuch, Luthers Behauptung zu widerlegen, dass der Papst der Antichrist ist. Dies wurde dadurch erzielt, dass man die Offenbarung als Geschichtstext aus längst vergangener Zeit interpretierte. Die meisten heutigen Ausleger einer liberalen Theologie vertreten die eine oder andere Variante dieser präteristischen Auslegung.
2. Die Offenbarung als historisierender Text verstanden
Gemäß diesem zweiten Verständnis ist die Offenbarung eine prophetische Skizze der gesamten westlichen Welt- und Kirchengeschichte ab deren Abfassung (ca. 95 n. Chr.) bis in unsere Gegenwart, respektive bis zum Ende der Geschichte. Hierbei liegt der Fokus auf der Geschichte der Kirche in der Auseinandersetzung mit dem Weltgeschehen. Ein historisierendes Verständnis der Offenbarung versucht somit für die großen Ereignisse und Zeitabschnitte der Kirchen- und Weltgeschichte einen entsprechenden Platz im chronologischen Verlauf der Offenbarung zu finden. Zwei Beispiele: Offb 12 sei das Jahrhundert Karls des Großen und Offb 13 das Mittelalter.
Ein historisierendes Verständnis grafisch dargestellt:
Ein historisierendes Verständnis entstand erst im 12. Jahrhundert. Der größte Einwand gegen ein historisierendes Verständnis ist, dass ihre Anhänger zu sehr konträren Interpretationsmodellen kommen – genauer gesagt: Die einzelnen Aussagen der Offenbarung werden unterschiedlichen Ereignissen der Kirchen- und Weltgeschichte zugeordnet. Zudem verliert jede dieser Zuordnungen ihre Glaubwürdigkeit mit jedem großen Zeitabschnitt, während dem die Geschichte weiter voranschreitet. Zwangsläufig müsste man nach jedem größeren Zeitabschnitt diese Zuordnungen neu anpassen. Unter den historisierenden Auslegern gibt es entsprechend beinahe so viele Interpretationen wie Ausleger. Man zählt ca. fünfzig verschiedene Grundmodelle. Heute gibt es mit ganz wenigen Ausnahmen kaum noch Befürworter dieser historisierenden Auslegung.
3. Die Offenbarung als idealistischer Text verstanden
Diese dritte Variante wird auch als die zeitlos-symbolische benannt. Gemäß diesem Verständnis beinhaltet die Offenbarung keine Vorhersagen und Beschreibungen realer geschichtlicher Ereignisse, sondern nur Ideen und Urbilder zeitloser Wahrheiten («idea» = griechisch = Idee, Urbild). Sie beschreibe insbesondere Wahrheiten über den endlosen Kampf zwischen Gut und Böse, zwischen Christentum und Heidentum, zwischen Gottesreich und Weltreich oder beschreibe Wahrheiten über Prinzipien, wie Gott ist und handelt, respektive wie das Böse ist und handelt.
Ein idealistisches Verständnis grafisch dargestellt:
Dieses Verständnis glaubt, dass uns die Bibel in der Offenbarung keine real-historischen Abläufe oder Ordnungen und schon gar nicht prophetisch reale Geschichte der Zukunft mitteilt. «Prophetische Bibeltexte» seien nur Bilder und Illustrationen, um uns wichtige Anliegen Gottes mitzuteilen. Das könnten selbstverständlich Bilder bezüglich zukünftiger Ereignisse sein, aber diese Bilder seien überzeitlich und nicht bezogen auf reale Ereignisse aus vergangenen, gegenwärtigen oder zukünftigen Zeiten.
4. Die Offenbarung als zukünftig-finalisierender Text verstanden
Dieses vierte Verständnis wird auch «futuristisch» genannt. Dabei beziehen sich die Formulierungen «zukünftig-finalisierend» oder «futuristisch» immer auf die ganz große Zeitspanne von den ersten prophetischen Aussagen (z. B. bei Daniel im AT oder bei Jesus in den Endzeitreden) bis zur Vollendung mit dem neuen Himmel und der neuen Erde. Die Offenbarung sei somit nur ein Teil – wenn auch ein Kernteil – dieses zukünftig-finalisierenden Verständnisses biblischer Prophetie ab dem ersten Jahrhundert bis zu deren Finalisierung. In Anlehnung an die Vorhersage von Jesus in Matth 24,8 verlaufe die Geschichte wie bei einer schwangeren Frau: Die Wehen werden zum Ende hin immer häufiger und heftiger. Am Ende (nach der Endzeit) werde ein neuer Himmel und eine neue Erde – eine neue Schöpfung – geboren. Die Wehen illustrierten die schmerzenden Ereignisse der Weltgeschichte: Krieg, Naturkatastrophen, despotische Herrscherfiguren, Pandemien, diabolisch-dämonische Störungen usw.
Die Bibel wird bei diesem zukünftig-finalisierenden Verständnis in ihren prophetischen Aussagen als Einheit verstanden: Im AT und im NT zeigten sich gemeinsame Bilder über zukünftige Entwicklungen, wobei das AT die groben Linien vorgebe, welche z. B. in den Endzeitreden von Jeus und in der Offenbarung des Johannes detaillierter beschrieben würden. Indessen würden uns keine detaillierten Fahrpläne präsentiert, aber Ordnungen, Abläufe und Zusammenhänge.
Ein zukünftig-finalisierendes Verständnis grafisch dargestellt:
Verglichen mit den drei anderen Verständnissen der Offenbarung bietet ein zukünftig-finalisierendes Verständnis aus meiner Sicht die besten Möglichkeiten, um an einer grammatikalisch-historischen Bibelauslegung festzuhalten. Zum Begriff «grammatikalisch-historische Bibelauslegung» siehe «Lichter in der Nacht», Teil 1 im einleitenden Kapitel «Die Offenbarung des Johannes entdecken».
Selbstverständlich bietet jede der drei anderen Verständnisse ebenso einige wertvolle Hilfen:
• Die Offenbarung als präteristischer Text verstanden, betont, dass deren Texte auch in den Wirren der ersten Jahrhunderte eine hilfreiche Quelle für Orientierung und Trost waren. Johannes schreibt z. B. in 1. Joh 2,28, dass schon damals «viele Antichristen aufgetreten sind». Aber gemäß dem zukünftig-finalisierenden Verständnis betritt am Ende der Zeit eine letzte Ausgeburt des Antichristen die Weltbühne.
• Die Offenbarung als historisierender Text verstanden, betont, dass deren Texte in der ganzen Zeit der Welt- und Kirchengeschichte für alle Menschen eine hilfreiche Quelle für Orientierung und Trost waren und bleiben.
• Die Offenbarung als idealistischer Text verstanden, bietet uns viele Texte und Bilder, die zeitlos wertvoll sind. Sie ermutigen und trösten uns. Sie eignen sich immer wieder, um in aktuellen Herausforderungen grundlegende Bibelwahrheiten verständlich zu illustrieren. So ist z. B. eines der Urbilder die wiederkehrende Aussage, dass «Jesus Christus ist, war und kommt». Dieser Satz ist gewaltig! Sein Inhalt ist unabhängig von der Zeit, der Prophetie und dem Offenbarungsverständnis.
Aber die Offenbarung des Johannes will sich aus meiner Sicht primär als zukünftig-finalisierender Text mit viel Prophetie zu realen zukünftigen Geschichtsereignissen verstanden wissen. Mit dieser Absicht bietet sie viel Trost, Ermutigung und Orientierung für alle Zeiten. Dieses Verständnis wird dem Anliegen der Offenbarung und ihren Paralleltexten am ehesten gerecht. Außerdem sind die Varianten, die Offenbarung als rein präteristischer oder historisierender Text zu verstehen, verhältnismäßig jung. Wie ich es wahrnehme, hat man die Offenbarung unmittelbar nach ihrer Entstehung und in den ersten Jahrhunderten als zukünftig-finalisierender Text verstanden (futuristisch). Erst mit dem Aufkommen liberaler Theologie, welche echte biblische Prophetie infrage stellt – weil sie die Bibel entmythologisieren will – entwickelte man alternative Verständnisse.
Einzelne Beobachtungen, weshalb ich die Offenbarung als zukünftig-finalisierenden Text verstehe:
Die Offenbarung beschreibt vom ersten bis zum letzten Kapitel mehrheitlich Ereignisse der Zukunft (futuristisch). Das ist z. B. daran zu erkennen, dass solche Ereignisse auf einem Zeitstrahl ganz nach vorne mit dem Ende unserer Zeit verknüpft sind. Diese Ereignisse führen z. B. zur Wiederkunft Jesu Christi am Ende unserer Zeit. Diese Wiederkunft ist geradezu einer der markantesten zukünftigen Fixpunkte im finalen Geschehen der Zeit: «Ich (Jesus Christus) bin das Alpha und das Omega, der Erste und der Letzte, der Anfang und das Ende» (Offb 22,13). Offb 1,8 ergänzt: «Ich (Jesus Christus) bin das Alpha und das Omega, spricht der Herr, Gott, der ist und der war und der kommt, der Allmächtige». Ebenso Offb 2,25 / Offb 3,11 / Offb 4,8 / Offb 11,15–18 / Offb 14,14–20 / Offb 16,15 / Offb 19,11–21.
Die Jünger fragten Jesus ebenso nach dem Ende unserer Zeit und somit nach einem zukünftigen Fixpunkt. Jesus beantwortete ihre Frage in gleicher Weise, wie es die Offenbarung des Johannes macht: Er beschrieb in seiner Antwort vorausschauend das Ende unserer Zeit mit einer Schreckenszeit, dem Durcheinander der kosmischen Elemente und seiner finalen Wiederkunft. In Matth 24,3.4.29.30 ist nachzulesen: «Als Jesus auf dem Ölberg saß, traten seine Jünger für sich allein zu ihm und sprachen: ‹Wann wird das geschehen? Welche Ereignisse werden dein Kommen und das Ende des Zeitalters ankündigen?› Jesus sprach zu ihnen: ‹… Unmittelbar nach dieser großen Schreckenszeit wird sich die Sonne verfinstern und der Mond nicht mehr scheinen. Die Sterne werden aus ihrer Bahn geschleudert, und die Kräfte des Weltalls geraten durcheinander. Dann wird das Zeichen des Menschensohnes (Jesus Christus) am Himmel erscheinen. Die Menschen auf der ganzen Erde werden vor Entsetzen jammern und heulen. Alle sehen dann, wie der Menschensohn in großer Macht und Herrlichkeit in den Wolken des Himmels kommt.›» Ebenso in Mark 13,1–37 und Luk 21,5–33.
Weitere Ereignisse in der Offenbarung des Johannes, die alle zielgerichtet mit dem zukünftig-finalen Ende unserer Zeit verknüpft sind:
• Der Teufel wird in einer einmaligen und letzten Variante auf die Erde geworfen (Offb 12,2).
• Der letzte Aufstieg und Untergang einer teuflischen, antichristlichen, globalen Weltherrschaft (Offb 12–13 / Offb 17–18 / Offb 20,1–10)
• Die einmalige Hochzeit des Lammes Jesus mit seiner Braut der Gemeinde und sein sichtbares Wiederkommen auf die Erde (Offb 19,6–16)
• Der letzte Sieg von Jesus Christus über den Antichristen und seinen Helfer (Offb 19,17–21)
• Das einmalige und letzte Friedensreich auf dieser Erde (Offb 20,1–6)
• Das letzte Losbinden Satans und sein letzter Freiraum (Offb 20,7–9)
• Das einmalige und letzte Verwahren Satans (Offb 20,9.10)
• Das einmalige und letzte Endgericht über die gottlose Menschheit (Offb 20,11–15)
• Ein erneuter Schöpfungsakt Gottes, aus dem ein neuer Himmel und eine neue Erde hervorgehen werden (Offb 21–22)
Es ist unmöglich diese Themen der Offenbarung, welche alle ganz nach vorne mit dem Ende der Zeit und dem Neuanfang danach verknüpft sind, rein präteristisch (in der Vergangenheit erfüllt) oder rein historisierend (in der gesamten Geschichte erfüllt) zu verstehen. Auch eine rein idealistische Auslegung der Offenbarung würde diesen markanten Ereignissen nie gerecht, zumal sie in der Offenbarung auf einer Zeitachse aufeinanderfolgend historisch-real beschrieben sind. Selbstverständlich gab es in der ganzen Geschichte der Menschheit immer unsäglich viel Leid, viel Trübsal, Bedrängnis und Untergang, viel Ende und Neuanfang. Aber hier in der Offenbarung des Johannes ist alles so global, so allumfassend, so final ganz am Ende platziert und zugleich kombiniert mit einem totalen Neuanfang. Demzufolge kann aus meiner Sicht nur eine zukünftig-finalisierende Bibelauslegung der Offenbarung diesem letzten Buch der Bibel gerecht werden.
Indem die Offenbarung des Johannes gewaltige Ereignisse vor unseren Augen skizziert, entwirft sie ein «Buch der Weissagung» (griechisch = propheteia = ein «Buch der Prophetie») und will somit zukünftig-prophetisch-finalisierend nach vorne verstanden werden:
• «Glückselig, der liest und hört die Worte der Weissagung (propheteia) und bewahrt, was in ihr geschrieben ist! Denn die Zeit ist nahe» (Offb 1,3)
• «‹Und siehe, ich (Jesus Christus) komme bald. Glückselig, der die Worte der Weissagung (propheteia) dieses Buches bewahrt!› … Und er spricht zu mir: ‹Versiegle nicht die Worte der Weissagung (propheteia) dieses Buches! Denn die Zeit ist nahe›» (Offb 22,7.10). Ebenso Offb 22,18.19
Gegen Ende des 1. Jahrhunderts waren die Urgemeinden durch ihre Umgebung vielfachen Anfeindungen ausgesetzt und innerlich durch Irrlehren gespalten. Zudem war Johannes, ihr geistlicher Hirte, durch seine Verbannung auf die Insel Patmos von ihnen getrennt. Was sollte nun in dieser jämmerlichen Situation aus diesen Gemeinden und den einzelnen Christen werden? Wo war Gott in all dem Leid, der Not, dem Untergang? Genau auf solche Fragen war die Offenbarung des Johannes die tröstende Antwort, indem er ihnen den zukünftig-finalen Zeithorizont vor Augen malte: Gott und sein Reich gehen nur scheinbar unter. Aber sein Reich wird am Ende der Zeit über alle irdischen Reiche und Feinde siegen! Die Offenbarung skizziert somit eine Sicht weit voraussehend:
• Bis ans Ende unserer Zeitrechnung: «denn das Erste ist vergangen» (Offb 21,1.4)
• Bis hin zu einer neuen Schöpfung: «siehe ich mache alles neu» (Offb 21,5)
Das Buch der Offenbarung will eben nicht billig trösten, indem es nur sagt «reißt euch zusammen», sondern indem es eine gewaltige Sicht – eine Perspektive – weit nach vorne öffnet und diese Sicht zudem an die kompetente und wiederkommende Person Jesus Christus bindet.