Читать книгу 7 Mythen über Europa - René Cuperus - Страница 6
ОглавлениеEine Europakonferenz in Berlin
»Für die Zukunft Europas muss man nach Deutschland gehen«
Letzten Sommer war ich in Berlin auf einer Konferenz über die Zukunft Europas. Meine erste internationale Konferenz seit anderthalb Jahren Corona-Elend. Das Treffen fand in einer Villa im schicken Berliner Stadtteil Grunewald statt. In dieser Villa befindet sich die Europäische Akademie, ein Bildungs- und Konferenzzentrum »zur Stärkung der Europäischen Union«. Die Konferenz war organisiert von der Willi-Eichler-Akademie und der Bundeszentrale für politische Bildung. Ein solches Treffen bietet einen guten, innovativen Einstieg in das übliche Europadenken in Deutschland.
Über Europa wird geredet, als wäre es eine Religion. Für die Deutschen ist Europa Ersatznation und Ersatzreligion zugleich: Ersatzheimat und neue Religion. Dieses europäische Denken entsprang der moralischen Schuld und den historischen Narben der deutschen Gräueltaten im 20. Jahrhundert.
Der auch in Deutschland bekannte holländische Schriftsteller Arnon Grunberg schrieb dasselbe für de Volkskrant in seinem Essay über das Ende der Ära Merkel (Volkskrant, 10. Juli 2021). »Für Deutschland ist die Vereinigung Europas Staatsräson, das heißt, die Vereinigung ist aus Sicht des deutschen Staates notwendig (…). Als Nationalstaat verfolgt Deutschland implizit seine eigene Auflösung im Austausch für ein sich langsam verschlechterndes Verhältnis zu Europa (…). Deutschland sieht seine Daseinsberechtigung darin, seine moralische Schuld zu erfüllen, unter anderem durch die Zusammenführung Europas (…). Das deutsche Experiment im 21. Jahrhundert besteht in der schrittweisen Abschaffung des Nationalstaates.«
Gerade in progressiven, sozialliberalen Kreisen – und sie führen oft solche Bildungszentren in Deutschland – ist das in der Tat die offizielle Diktion, die man hört. Die Menschen glauben an eine postnationale Zukunft. Die europäische Einigung wird als der einzig mögliche Fortschritt angesehen, sogar als eine Art altruistisches Abenteuer, bei dem Deutschland seine nationale Macht im großen europäischen Plan auflöst.
Auf einer solchen Konferenz in Deutschland wird stark schwarzweiß gedacht und gesprochen. Analysen unterscheiden richtig und falsch, Gut und Böse. Zum Beispiel wurde Donald Trump immer noch stark kritisiert – die Pervertierung der Politik in Person. In einem Impulsreferat eines europäischen Spitzenpolitikers der SPD war der Trump-Schock noch immer quicklebendig. Bemerkenswerterweise wurden Putin und Xi überhaupt nicht erwähnt. Nur Victor Orbán. Unsere westliche Demokratie wird offenbar nicht von China und Russland bedroht, sondern lediglich von Nationalisten, Populisten und Rechtsextremisten. Ihnen gegenüber wird ein antipopulistisches Programm propagiert: Europa, Klima, Migration und LGBTI. Alles, was dafür ist, ist gut. Alles, was dagegen ist oder es aufweicht, löst einen Rutschbahneffekt hin zu Extremismus, Nationalismus, Fremdenfeindlichkeit aus.
Jedes Mal fällt auf, dass die Deutschen die Europäische Union bewusst und unbewusst als eine Art vergrößerte Bundesrepublik sehen – nur mit zusätzlichen Bundesländern. Das ist die Sichtweise und die DNA, mit der die Deutschen Europa betrachten, ob es ihnen gefällt oder nicht. Deutschland ist wie Belgien mit föderalem Denken vertraut. Die Aufgaben- und Arbeitsteilung zwischen dem Berliner Regierungszentrum und den Bundesländern ähnelt zunehmend der europäischen Dynamik zwischen Brüssel und den Mitgliedstaaten. Ein deutscher Experte sagte mir, ohne Augenzwinkern, dass in Zukunft die nationalen Mitgliedstaaten nur noch für die Bildungs- und Kulturpolitik zuständig sein würden und der Rest nach Brüssel verlagert werde. Genau das deutsche Modell. Man ist an Kompetenzverteilung und Finanztransfers zwischen Regionen und Zentrum gewöhnt. Den Niederländern ist das völlig fremd.
Zudem sieht Deutschland im Gegensatz zu den kleinen europäischen Ländern die EU nicht schnell als Bedrohung der eigenen Identität. Nicht allein ist der deutsche Nationalstaat historisch belastet, und sein Aufgehen in einem größeren europäischen Ganzen darum moralisch gut. Es ist auch so, dass im Gegensatz zu den kleineren Mitgliedstaaten insbesondere Deutschland und Frankreich von einer größeren und stärkeren EU profitieren. Sie bekommen im Gegenzug die europäische Führung; das ist manchmal etwas kostspielig, aber trotzdem vorteilhaft. Je größer die EU, desto mächtiger werden die großen Länder und desto relativ machtloser die kleinen Länder.
Ein »vorsichtiges Europa«
Auf dieser Konferenz in Berlin habe ich eine unangenehme Position vertreten. Nicht nur in fehlerhaftem Deutsch (wie viele Niederländer sprechen die Sprache Goethes und Heines noch fließend?), sondern auch, weil ich eine andere Europasensibilität betonen wollte als die deutsche Europautopie, nämlich die Europasicht kleinerer Länder wie der Niederlande.
Ich habe für ein »vorsichtiges Europa« plädiert, eine EU, die ihre Grenzen und Schranken kennt. Warum? Weil für die Mehrheit der Menschen in Europa europäische Politik keine gelebte und bekannte Demokratie ist. Mit der Abschaffung der Nationalstaaten kann man keine Mehrheiten gewinnen (und man kann andere Länder nicht auffordern, ihren Nationalstaat wegen der historischen, nationalistischen Barbarei Deutschlands zu opfern). Darüber hinaus müssen vor allem auf nationaler Ebene politisches Vertrauen zwischen Politik und Bevölkerung und demokratisches Selbstbewusstsein wiederhergestellt werden.
Es gibt eine »Populismus-Kluft« in der Gesellschaft zwischen den Hochgebildeten und den Weniger-Gebildeten, wobei Europa die Gruppen eher trennt, als verbindet. Im Moment gibt es daher kein Mandat für die etablierte Politik (die gar nicht mehr so etabliert ist) oder für große Schritte und Sprünge in Europa. Ich bin daher sehr besorgt, wie das größenwahnsinnige Klimapaket der Europäischen Kommission (Fit for 55) enden wird: Top-down-Technokratie ohne demokratische Unterstützung.
Der nationale Populismus scheint in Deutschland und den Niederlanden seinen Höhepunkt überschritten zu haben (dank der internen Konflikte von Forum voor Democratie in den Niederlande und AfD in Deutschland). Wenn man sich aber Frankreich anschaut, sieht man, wie prekär die politische Situation in Europa wirklich ist. Dort stehen sich Präsident Macron und Éric Zemmour / Marine Le Pen – Establishment versus Antiestablishment – mit 55 Prozent zu 45 Prozent gegenüber. Und die Präsidentschaftswahlen in Frankreich entscheiden über die Stabilität und Unterstützung für die zukünftige europäische Politik.
Europa-Realismus
Ich habe dem deutschen Publikum klar gemacht, dass die Niederländer pragmatisch pro EU sind. Sie wollen wenig mit dem NEXIT-Gerede der Nationalpopulisten zu tun haben, sehen aber Europa auch nicht als ein Ersatzvaterland oder eine Art säkulare Religion. Die Niederländer sind europäische Realisten. Ihnen liegt der Binnenmarkt am Herzen, denn die holländische Wirtschaft lebt, wie die deutsche, vom Handel und vom Export. Sie kümmern sich um die offenen Grenzen und die Freizügigkeit von Menschen, denn die Niederländer sind touristische Großnutzer und holen sich gerne billige Arbeitskräfte für den Agrarsektor. Aber sie fürchten und meiden unbegrenzte Arbeitsmigration, weil sie den Wohlfahrtsstaat untergraben kann.
Die Niederländer erkennen an, dass die europäische Zusammenarbeit nach dem katastrophalen 20. Jahrhundert eine historische Verpflichtung ist: »Nie wieder Krieg«, Ende der deutsch-französischen Erbfeindschaft. Gleichzeitig widerstrebt kleinen Ländern auch eine Rückkehr des Großmachtdenkens in Europa. Das heißt: Respekt für nationale Demokratien, Kulturen und politische Traditionen.
Die Niederländer lieben das Erasmus-Stipendienprogramm, sehen aber im Prinzip in der europäischen Einigung eher einen Demokratieverlust als Demokratiegewinn. Wie kann man ein Mehrvölkerreich mit 500 Millionen Einwohnern in eine wahre Demokratie verwandeln?
Die EU, so argumentierte ich polemisch, ist keine große »deutsche Bundesrepublik« und wird es auch nie sein. Sie ist kein verzehnfachtes Deutschland mit sehr vielen Bundesländern. Nein, wenn die EU etwas ist, dann ist sie eher so etwas Ähnliches wie eine komplexe Vergrößerung Belgiens. Die EU ist dann »27-mal Belgien«. Das heißt: ein komplexes Pseudostaatsphänomen mit einer unglaublichen Vielfalt an Sprachen, Kulturen und politischen Traditionen. Und muss so angegangen werden, wenn sie ein langes, glückliches Leben haben soll.
Deutschland ist Europa im Kleinen
Mein Plädoyer für ein »vorsichtiges Europa« stieß auf lauwarme Reaktionen. Erst zur Mittagszeit sprachen mich die Leute begeistert an: »Sie sagen, wie es ist!«, und räumten damit implizit ein, dass das europäische Denken in Deutschland aus verständlichen historischen Gründen nicht realistisch sei und nicht realistisch sein dürfe.
Zur Relativierung muss nun gesagt werden, dass in Deutschland die europäische Suppe nicht so heiß gegessen wird, wie es das offizielle Denken und Sprechen sie kocht. Im politischen Alltag versuchen deutsche Politiker und politische Entscheidungsträger oft, die europäischen Pläne des französischen Präsidenten Macron abzuschwächen und zu stören. Nachkriegsdeutsche zeichnen sich durch die Haltungen aus: »Keine Experimente!« und ein stabiles und solides »Fahren auf Sicht« aus. Insbesondere in der deutschen CDU/CSU und der FDP gibt es eine große Zurückhaltung gegenüber einer weiteren europäischen Integration. Auch das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe spielt dabei eine entscheidende Rolle, weil es sich weigert, die EU als Pseudodemokratie mit eigenem »Demos« zu sehen. Darüber hinaus gelingt es Deutschland oft auf geniale Weise, nationale Interessen in den europäischen Diskurs zu verpacken. Bei der Interessenvertretung der deutschen Autoindustrie wird die EU plötzlich viel weniger »religiös« interpretiert.
Wie dem auch sei, tiefgründige Kenntnisse über Deutschland sind unverzichtbar für diejenigen, die etwas über die Zukunft der EU sagen wollen. Eine solche Konferenz in Berlin lehrt, dass man die Funktionsweise der Bundesrepublik viel besser studieren muss. Schließlich finden viele der föderalen Erfahrungen und -praktiken später ihren Weg in die EU.
Die Kenntnis Deutschlands ist auch deshalb entscheidend, weil Deutschland eine Art Miniatureuropa für sich ist. Die Nord-Süd- und Ost-West-Trennungslinien innerhalb Europas findet man in Deutschland selbst im Kleinen wieder: mit den Ossis in der Rolle der Osteuropäer, der FDP als Sprachrohr der »sparsamen Länder«, den deutschen Grünen als Macrons euroföderalen Handlangern und der Merkel-Doktrin vom Zusammenhalt, der alles ein bisschen zusammenhalten muss. Es ist dieses interne »europäische Kräftefeld« innerhalb Deutschlands, das letztlich tiefgreifende Auswirkungen auf die Zukunft der EU haben wird.