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Die vernünftige Mitte unter Druck

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Ich ringe mit der Unvorsichtigkeit Europas. Die unvorsichtige Art und Weise, mit der mit Europa umgesprungen wird. Nationalpopulisten reißen mit ihren Exit-Idealen die EU auseinander, als gäbe es keine Geschichte. Föderalisten reißen die Nationalstaaten auseinander, als gäbe es keine Geschichte.

Wir stoßen hier auf einen doppelten Fanatismus. Fanatische Europhile predigen öffentlich eine »Revolution gegen die Nationalstaaten«. Sie sehen einzig eine Europäische Republik vor sich, einen einzigen und ungeteilten Staat. Dem gegenüber stehen fremdenfeindliche Nationalpopulisten, die für eine fanatische Revolution gegen das Phantom eines zentralistischen Superstaats plädieren und in den europäischen Mitbürgern nichts anderes sehen als Schnorrer und Konkurrenten.

Diese extremen Positionen ziehen die vernünftige Mitte Europas auseinander. Diese wurde in der Nachkriegszeit von den Parteien in der Mitte getragen, doch diese Parteien sind heute durch Wahlen und die demografischen Entwicklungen stark geschwächt, unter anderem, weil sie sich – entgegen ihren ideologischen Traditionen – in den vergangenen neoliberalen Jahrzehnten nicht mäßigen konnten und den Sozialvertrag der Nachkriegszeit mit seiner relativ egalitären Mittelschichtgesellschaft und einem Wohlfahrtsstaat den Marktkräften innerhalb der Europäischen Union und darüber hinaus geopfert haben.

Diese einst verbindenden Parteien der Mitte sind, aufgrund von Konflikten um die neoliberale Globalisierung und Migration, gespalten in einerseits Hochqualifizierte mit einem kosmopolitischen Weltbild und andererseits Niedrig- und Mittelqualifizierte mit einem patriotisch-kommunitaristischen Weltbild. Die betreffenden Parteien sind infolgedessen auch in sich uneinig, was den Zustand und die Zukunft Europas angeht.

Eine gefährliche Entwicklung, weil eben jene vernünftige Mitte den ausbalancierten Kompromiss tragen und vertreten muss: den der »europäischen Integration unter Beibehaltung der nationalen Identität«. Die Mitte muss den Bürgern deutlich machen, dass die europäische Wirklichkeit hybrid ist, eine einmalige Mischung aus nationaler Demokratie und europäischer Integration.

Sowohl die europhile hundertprozentige europäische Föderation als auch die populistische hundertprozentige nationale Souveränität sind Illusionen. Beide sind sie Trugbilder, die die Geschichte sowie die demokratische und internationale politische Wirklichkeit ausblenden. Es entsteht nichts Gutes daraus, wenn man schlicht glaubt, die Geschichte negieren oder sie sich nach eigenen Wünschen zurechtbiegen zu können. Als Politik- und Kulturhistoriker fühle ich mich dann verpflichtet, »historischen Alarm« zu schlagen. In beide Richtungen.

Schön und wichtig war in dieser Hinsicht die Rede des deutschen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier, die er am 8. Mai 2020 in der Neuen Wache in Berlin gehalten hat. Wegen der Pandemie war er nur in Begleitung von Bundeskanzlerin Angela Merkel und Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble. Steinmeier sprach sich für einen aufgeklärten deutschen Patriotismus aus, schränkte dies aber eindrucksvoll mit den Worten ein: »Man kann dieses Land nur mit gebrochenem Herzen lieben.« Und über den Zusammenhang zwischen den europäischen Weltkriegen und dem Warum der Europäischen Union sagte er mit ebenfalls beinahe historischen Worten mahnend: »Wenn Europa scheitert, scheitert auch das ›Nie wieder!‹« Wir müssen also vorsichtig sein. Wir sind gewarnt.

7 Mythen über Europa

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