Читать книгу Der Facebook-Vater - René Struve - Страница 10
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ОглавлениеIch bin ein großer Fan des Kindeswillens, sagte ich? Was aber war in der Zeit der Trennung mit deinem Willen? Wer nahm deinen Willen, wer nahm dich ernst? Wer fing dich auf mit deinen Ängsten, die dich Bilder wie am Fließband malen ließen?
Was ich angerichtet hatte, das wollte ich wieder gutmachen, wir waren auf dem richtigen Weg, die Behörden wollten uns in Ruhe lassen, aber deine Mutter war schon zu sehr in ihrer eigenen Welt, als dass sie diese Nachrichten noch erreicht hätten. Schließlich war sie tatsächlich auf keinem Weg mehr zu erreichen, und du auch nicht.
Deine Mutter glaubte, Jugendämter, Familiengerichte, Psychologen - all das seien Einrichtungen, die dazu da seien, Migranten die Kinder wegzunehmen, um sie den deutschen Elternteilen zu geben. Als polnische Migrantin fühlte sie sich in Deutschland immer benachteiligt. Als wir uns kennenlernten, sagte sie, wenn die Kassiererinnen in den Geschäften ihren polnischen Akzent hörten, gäben sie ihr zu wenig Wechselgeld heraus.
Wenn das stimmt, muss ich ein waschechter Pole sein, denn ich bekomme ebenfalls öfters zu wenig herausgegeben. Manchmal merke ich es und protestiere, manchmal bleibt nur das mulmige Gefühl, dass etwas falsch gelaufen ist. Und manchmal, wenn es um kleine Summen geht, ist es mir egal.
Als wir uns kennenlernten, fragte deine Mutter mich, ob ich polnisches Blut in den Adern hätte. Obwohl meine Eltern aus dem heutigen Polen kommen, musste ich die Antwort schuldig bleiben. Ich weiß nicht, ob polnisches Blut in meiner Familie eine Rolle spielt und wenn, dann welche.
In Pommern, woher meine Mutter stammte, meines Wissens keine. In Ostpreußen könnte es sein, denn die Ostpreußen waren ein eigenes Völkchen, in dem auch slawische Einflüsse eine Rolle spielten. Was das für meine Familie bedeutet, weiß ich auch hier nicht, und ich will es nicht wissen. An den Bruchstellen zwischen Polen und Deutschland wechselten die Einflüsse und Zugehörigkeiten in der Vergangenheit so oft, dass es in meinen Augen keinen Sinn macht, nach nationalen Kriterien zu unterscheiden. Wie viel Unglück hat der Nationalismus über Europas Völker gebracht, allen voran über die Polen!
Ich blieb also die Antwort auf die Frage nach meinem möglicherweise vorhandenem kleinen bisschen Polentum schuldig und wunderte mich: Als ob das wichtig wäre, wenn man verliebt ist!
Aber scheinbar ist ihr das wichtig. So wichtig wie ihr Versuch, aus dir nun eine „echte Polin“ zu machen. Und alle Verbindungen an dein altes Leben zu kappen. Und kein Wort zu deinem Bruder und deinem Vater zuzulassen. Dieser verdammte Nationalismus! Jemand mit Abitur und Studium sollte klüger sein. Andererseits befindet sich deine Mutter in bester Gesellschaft: Nationalismus ist allenthalben, in vielen Ländern, wieder salonfähig geworden.
Mich mit deiner Mutter ins Benehmen zu setzen, wird mir in diesem Leben wohl nicht mehr gelingen. Von ihr eine Auskunft zu bekommen, wo du bist, wie es dir geht, kann ich vergessen. Erst wenn du alt genug bist, um selber Kontakt aufnehmen zu können, werden wir uns wieder sprechen. Ich hoffe, dass das bald der Fall sein wird, ich bin guten Mutes, schließlich bist du klug, lernst schnell.
Wann treten Kinder heute Facebook bei? In der Grundschule? Hoffentlich erklärt dir bald jemand, wie das funktioniert, Facebook und Skype und die Namenssuche im Internet. Mich müsstest du schnell finden: Ich habe eine Homepage. Und mein Facebook-Profilbild habe ich aktualisiert: Es ist jetzt kein Spaßbild mehr, sondern eines, auf dem man mich gut erkennt. Hoffentlich hast du meinen vollen Namen noch im Gedächtnis. Bitte nicht nur Papa eingeben ;) Vielleicht hilft dir jemand dabei, Domi und mich zu finden.
Vielleicht aber hast du dann schon Freunde gefunden, und der neue Ort ist dir ein Zuhause geworden? Vielleicht willst du nicht mehr zurück, vielleicht bist du hin- und hergerissen? Ich will dir helfen, das Beste daraus zu machen. Deine Mutter hat dich fortgezwungen. Ich werde dich nicht zurückzwingen. Du sollst selbst entscheiden -, viel zu lange haben andere über deinen Kopf hinweg entschieden, schon jetzt, zu diesem Zeitpunkt. Irgendwann wird auch deine Mutter dich nicht mehr halten können. Ich glaube, wenn du in die Pubertät kommst, wird es ganz schön rundgehen bei euch.
Schließlich - verzeih, dass ich das sage - bist du auch kein ganz einfacher Charakter. Solch einen Trotzkopf wie dich habe ich selten erlebt. Domi immerhin hört auf mich, wenn ich etwas energischer, etwas lauter werde. Drei bis vier Mal muss ich sagen: „Jetzt räum endlich dein Zimmer auf!“, schließlich folgt er meinem Wunsch. - Du? Mitnichten! Bei dir half manchmal nur noch Bestechung! Eine neue Kinderzeitschrift mit Geschenkbeilage, das war der übliche Kurs, um dich zur Erfüllung einer Bitte zu bewegen. Und Domi bekam dann natürlich auch ein Heft. Ganz schön teure Kinder ward ihr!
Immer noch lachen muss ich, wenn ich an die Sprachfehler denke, die du machtest. Nein, eigentlich waren das keine Fehler, das waren Wortneuschöpfungen, und die Duden-Redaktion sollte darüber nachdenken, ob sie sie nicht als verbindlich anerkennt:
„Portemonnaie“ wurde zu „Pollonee“ (Domi übernahm das).
„Abakadabra“? „Abakanaba“!
„Dominik“ sprachst du „Domnik“ aus.
Er seinerseits nannte dich „Juja“.
Und statt in den „Kindergarten“ gingst du in den „Kinnegarten“.
„Ich sehe was, das du nicht siehst?“ „Ich sehe, was du nicht siehst!“
„Knäckebrot?“ Bei dir hieß es „Knusperbrot“.
Und die „Bimmelbahn“, mit der wir in unseren Urlauben in Norddeich fuhren, wurde zur „Windelbahn“. „Die Windelbahn, die stinkt!“, stelltest du immer wieder fest, was durchaus stimmte, denn der museumsreife Motor schickte bei entsprechendem Wind dicke Abgasschwaden ins Innere der Abteile.
Bist du jetzt, im Polnischen, auch so erfinderisch? Ich wette!
Andauernd fallen mir igendwelche Erinnerungen ein: Wie ihr den Türrahmen hochklettertet, euch barfuß im Rahmen abstütztet, bis ihr oben mit dem Kopf anstießt.
Was Domi für Augen machte, als du schon schaukeln konntest und er noch nicht. Du konntest dich schon auf die Schaukel stellen und im Stehen Schwung holen, während er noch dasaß und nicht wusste, wie die Schaukel in Gang zu bekommen ist.
„Möchtest du diese Gitarre haben?“, fragtest du mich die ganze Zeit, während wir im Bus zum Airport fuhren. Auf jedes Heft in meiner Gitarrenzeitschrift - eine hatte ich immer dabei - zeigtest du. Und ich sagte fast immer ja. Ja, ich wollte alle diese Gitarren haben.
Und die „Polen-Oma“ und die „alte Oma“, das haben Domi und du gemeinsam erfunden. Das hatte nichts Herabwertendes. Irgendwie musstet ihr die beiden Omas ja unterscheiden, wenn ihr über sie spracht.
So war dein Spracherwerb, deine Wortschatzbildung: Was nicht passte, wurde passend gemacht.
Eure Erfindungen, eure Phantasiereisen: Momente des Glücks, und ich denke, es ist kein Fehler, keine Straftat, euch das zu nehmen, euch zu entzweien, nein: Es ist eine Sünde! Begangen von jemandem, der - heute theoretisch und früher mal tatsächlich - jeden Sonntag in die Kirche geht, um Vergebung der Sünden bittet, die Kommunion zelebriert. Wie das zusammenpasst, ist mir ein Rätsel. Wahrscheinlich gilt auch hier: Was nicht passt, wird passend gemacht, wird sich passend zurecht gedacht.
Eure Phantasiereisen: Da wurde das Bett zum Schiff und der blaue Teppich zum Wasser, und die Spielsachen, die noch herumlagen und nicht weggeräumt waren, das wurden die Haifischflossen, die aus dem Wasser ragten. Und das Klettergerüst auf dem Frankenplatz wurde zur Burg, einer verteidigte sie und der andere griff an, und ungerechterweise war es meist der große Domi, der auf der Burg stand und die kleine Jul, die angreifen musste. Die Gepäckablagen in den Zügen auf dem Weg zur alten Oma wurden zu Klettergerüsten, zum Ärger der älteren Fahrgäste. In den Erste-Klasse-Abteilen, die ich fuhr, saßen fast nur ältere Leute mit ihrem Bärenticket. Wenn wir hereinkamen, senkten wir den Altersdurchschnitt im Abteil locker um hundert Prozent. Manche der „Bären“ störten sich an euch, selbst wenn ihr friedlich ward. Manche Leute, so scheint es, können überhaupt keine Kinder in ihrer Nähe ertragen.
Einmal tobtet ihr ziemlich wild, und im Abteil saß außer uns nur eine junge Frau, die störte sich nicht an euch und erzählte, dass sie aus Skandinavien sei und dass Kinder dort viel mehr dürften als hier.
„Seit Pipi Langstrumpf?“, fragte ich.
„Schon immer“, lachte sie.
Nein, ich bin nicht der Meinung, dass Deutschland ein besonders kinderfreundliches Land ist. Vieles hier stimmt, aber vieles eben auch nicht. Viele Restaurants haben eine Kinderkarte und geben zu den Menüs ein kleines Geschenk, aber meist beschränken die Speisen sich auf Hähnchen-Nuggets mit Pommes, Hähnchenschnitzel mit Pommes oder Spaghetti Bolognese. Bei Nordsee dann gibt es Fisch mit Pommes, in manchen Restaurants Frikassee mit Reis, das war es auch schon. Warum dann eigentlich nicht gleich zum Original, zu jenem Geschäft, das die Kindermenüs mit Geschenkbeilage erfunden hat? Da stört man sich noch am wenigsten daran, wenn Kinder toben, und kein Kellner rollt mit den Augen, wenn eine kinderreiche Familie hereinkommt.
Nein, Deutschland ist nicht sonderlich kinderfreundlich: Fast hätten wir unsere Wohnung wegen des Lärms verloren, nur ein guter Anwalt konnte das verhindern. Sicher waren wir zu laut, und meine dauernden Streitigkeiten mit deiner Mutter waren für die Nachbarn nur schwer zu ertragen (und für euch auch). Aber die Frau über uns klopfte schon gegen die Decke, als ihr geboren ward und nachts weintet. Sie selbst hat keine Kinder. Viele deutsche Frauen wollen und haben keine Kinder. Haben sie alle Nina Hagen gehört: „Warum soll ich meine Pflicht als Frau erfülln?“
Zum Glück hielt uns unsere Vermietergesellschaft den Rücken frei. Aber vor Gericht bekam uns die feindliche Mieterin dennoch. Das war eine Erfahrung! Sie hätte uns zusammenschweißen können, hat sie auch, aber das hielt nur kurz. Und vors Jugendamt hat uns die Frau gebracht. Irgendwie bissen sich alle an uns fest. Mir ging es immer schlechter in dieser Zeit, der Druck nahm zu. Unsere Streitereien nahmen zu. Ich sah keinen Ausweg. Ich wollte mir eine kleine Wohnung als Fluchtpunkt mieten, fand aber keine. Hätte ich weitere Entwicklung geahnt, hätte ich eine genommen, auch eine teurere, so viel ist sicher. Denn nichts ist so teuer wie ein Rosenkrieg, der in immer neue Runden geht.
Vielleicht hätte ich so Schlimmeres verhindern, hätte mir einen Fluchtpunkt, eine Rückzugsmöglichkeit schaffen können.
Oder vielleicht auch nicht? Ich hatte nun, vor rund drei bis vier Jahren, das Gefühl, den Einfluss auf die Dinge immer mehr zu verlieren. Besonders auf deine Mutter. Die regte sich schon morgens auf, und dann beruhigte sie sich gar nicht mehr. Unzählige Beleidigungen habe ich in den letzten Jahren von ihr erfahren. Und umgekehrt habe ich ihr auch viel Unrecht getan. Es macht wohl keinen Sinn, das gegeneinander aufzurechnen. Das Kapitel Groham-Ehe ist abgeschlossen. Weitere Kapitel wird es nicht geben.
Irgend etwas hatte sich mit der Geburt von Domi und dir geändert. Das soll aber nicht heißen, dass ihr an etwas schuld seid. Nein, das dürft ihr niemals denken. Mich wundert nur, dass sich die Dinge so zum Schlechten verändert haben. Eigentlich sollte es das größte Glück sein, zwei Kinder zu bekommen. Eigentlich sollte dann alles gut werden, und dieses Glück sollte die Eltern untrennbar verbinden. Beide sollten das Beste wollen und sich mit Respekt behandeln.
Ich habe eine Postkarte mit dem Konterfei von Clint Eastwood darauf gefunden und dem Zitat: „Eine Frau will von einem Mann das gleiche wie ein Mann von einer Frau: Respekt.“ Ich denke, das ist zwar nicht alles, doch aber ein ganz wesentlicher Punkt. Ein wenig mehr Respekt für meine Arbeit im Job, für die zu Hause und für die Beschäftigung mit den Kindern hätte ich mir schon gewünscht. Und deine Mutter hätte ich mehr akzeptieren müssen in der Art, wie sie war, selbst wenn mir vieles daran nicht gefiel.
Alles hätte super werden können, und dann wurde es das Gegenteil. Das ist ja das Verrückte: Wird man in einer Paarbeziehung beleidigt, dann hört man sich das ein paar Mal an, schließlich ist es genug, man beendet die Beziehung und geht. Nicht so, wenn Kinder da sind: Keiner will sie verlieren, also hält man die Beleidigungen aus. Jedenfalls tut man so. Unter der Oberfläche aber gärt es. Irgendwo muss der Druck hin, der entstanden ist. Irgendwann wehrt man sich und beleidigt nun ebenfalls, würdigt den anderen herab. Aus diesem Kreislauf sind deine Mutter und ich nicht mehr herausgekommen.
Ich hielt das oft nicht mehr aus, flüchtete aus der Wohnung, oder kam erst spät von der Arbeit zurück. Ich blieb lange im Büro, oder ich fuhr ziellos mit Bus und Bahn durch die Gegend, bis dorthin, wo der VRR und damit die Gültigkeit meines Tickets endete.
Spät abends kam ich zurück; deine Mutter war dann schon innerlich geladen und begann gleich mit Vorwürfen - abends, wenn ich meine Ruhe wollte, um am nächsten Tag wieder fit für die Arbeit zu sein. Wenn das Haus, in dem wir wohnten, zur Ruhe kam, dann wurde es bei uns laut. Fast jeden Abend, meist bis in die Nacht hinein. Nach Jahren, die ich in diesem Zustand des ständigen Streits und der ständigen Beleidigungen verbrachte, war ich nicht mehr derselbe. Ich wusste mir nicht mehr zu helfen. Ich suchte Rat bei Experten und Anwälten. Ich machte den Fehler, nicht für die Familie zu kämpfen, sondern gegen deine Mutter.