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Der Facebook-Vater
ОглавлениеBrief an meine Tochter
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So fühlt sich also Schuld an. Gar nicht mal so gut. Ehrlicherweise richtig schlecht. Das Gemeine an der Schuld ist, dass man sie nur dann loswird, wenn einem der andere in die Augen sieht und sagt: Ich verzeihe dir. Und genau das ist das Problem: Du bist viel zu weit weg, als dass wir uns in die Augen sehen könnten.
Ich hätte die Zeichen richtig deuten müssen. Den Ernst der Lage erkennen. Und dann entsprechend handeln. Und auch, als mir klar war, dass da etwas vorbereitet wird und dass es nicht nur um einen Urlaub geht, den deine Mutter mit dir plant, habe ich geschwiegen. Hilflos habe ich dir meine Handynummer in deine Jacke geschrieben und dann nochmals in dein Federmäppchen, damit du dich melden kannst, wenn Du an einen Ort gebracht werden sollst, an den du nicht willst. Hatte ich eigentlich noch alle Tassen im Schrank? Eine Fünfeinhalbjährige ruft dann also an und verhindert selbstständig ihre Entführung? War ich noch ganz bei Trost?
Für drei Wochen suchte deine Mutter eine Vertretung für den Sprachkurs, den sie gab. Inklusive Karneval vier Wochen. Sie war schon einmal drei Wochen mit dir in Polen und ist dann wiedergekommen. Dann aber erfuhr ich davon, dass sie ihren Festnetzanschluss zuhause kündigen wollte - sie, die die Telefonrechnungen in unserer Zeit des Zusammenlebens in astronomische Höhen trieb. Spätestens da hätte mir klar sein müssen, dass sie für immer weg will. Mit dir. Dieses Schimpfen auf Deutschland. Auf mich sowieso. Da war ein anderer Ton in der Musik. Ich hätte Alarm schlagen müssen! Die Behörden informieren. Ich habe es nicht getan. Ich habe sie zur Rede gestellt: Du willst mit unserer Tochter nach Polen, gib's zu! Nein, will ich nicht. Ich habe versucht, ihr zu glauben.
Ich fragte dich, und du sagtest, dass du auch von einer geplanten Reise wüsstest. Du hättest ja ihre Telefonate mitgehört und verstanden. Auf dem letzten Foto, dass ich in meiner neuen Wohnung von dir machte, siehst du traurig aus. Als wüsstest du, was dir bevorsteht. Und könntest doch nichts dagegen tun. Was solltest du auch tun, mit deinen fünfeinhalb Jahren. Domi habe ich schützen können, dich nicht. Das ist die Schuld, die nicht verjähren wird. Selbst wenn ich es schaffe, dich zurückzuholen, diese Zäsur wird bleiben.
Der 20. Februar 2017: das letzte Mal, dass du und dein Bruder zusammen bei mir in der neuen Wohnung ward. Wir verbrachten Zeit miteinander, spielten, sahen fern, aßen zu Abend. Um Viertel nach acht schickte ich Domi ins Bett. Du legtest dich in dein Bett, schliefst aber nicht ein, wie dein Bruder, denn deine Mutter wollte dich ja noch abholen kommen, das wusstest du. Sie wollte nicht, dass du bei mir, bei deinem Vater übernachtest. Also hat sie dich noch um 21 Uhr nach Hause geholt. Wenn ich gewusst hätte, dass es für lange Zeit das letzte Mal ist, dass ich dich sehe, vielleicht - wir wollen es nicht hoffen - sogar für immer ...
Da war sie schon nicht mehr bei ihrem Sprachkurs, die Unterlagen mitzuführen nur Alibi. Im Gegensatz zu den Wochen zuvor schien sie an diesem letzten Abend auf seltsame Weise innerlich gelöst. Als sei mit der Entscheidung, die sie getroffen hatte, ein Last von ihr abgefallen. Hat sie dabei auch dich gesehen? Nein, sie hat ihre Bedürfnisse, ihren Egoismus über deine Wünsche gestellt, über das Kindeswohl, wie es in der Behördensprache heißt.
Ich bin ein großer Fan des Kinderwillens. Sofern er nicht total chaotisch ist, bin immer der Meinung, man sollte ihn berücksichtigen, schon von früher Kindheit an. Wer hat eigentlich deinen Willen berücksichtigt?
Ich bin mit Domi ausgezogen, und du wolltest mit. Das hat man dir verwehrt. Schlimme Abschiedsszenen hatten wir am Düsseldorfer Hauptbahnhof, wenn ich abends mit ihm nach Krefeld gefahren bin.
Später habt ihr wieder viel Zeit zusammen verbracht, habt euch praktisch jeden Tag gesehen. Ich war es, der häufige, beinahe tägliche Besuche ermöglichte, und deine Mutter zog mit an diesem Strang, beziehungsweise, sie schien mit daran zu ziehen. Alle schienen sich mit diesem Zustand arrangiert zu haben, es schien zu gehen. Der Familienkarren holperte und knarrte, aber er lief.
Wie kommst du jetzt zurecht? Tauchst du in deine Phantasiewelten ein, malst Bild um Bild von beschützten Prinzessinnen in sicheren Burgen? Wo ist der Engel, der dich beschützt? Der Ritter auf dem Ross, der dich rettet? Ich war es nicht. Das ist die Schuld, die bleibt. Wenn wir uns wiedersehen, dann werde ich die Brille abnehmen und dich bitten, mir eine schallende Ohrfeige zu geben. Oder mehrere. Die habe ich verdient. Und danach fallen wir uns in die Arme und lassen uns nicht mehr los. OK?