Читать книгу Überlast und Kernschmelze - Renate Amelung - Страница 5
Zwar waren sie eine endtäuschend kleine Gruppe,
Оглавлениеaber doch war dieses Klassentreffen ein voller Erfolg. Alle waren sie beruflich ihren Weg gegangen und dies meist recht erfolgreich. Genau genommen der ein oder andere eher privat, dachte Isa so nach. Auch trauriges gab es zu berichten Christina war schon tot. Und Leonhard war verschwunden irgendwo auf einem Aufenthalt im Ausland. Auch andere Mitschüler fehlten für immer.
Ja einen Moment sank die Stimmung bedenklich in traurige Melancholie, als man den verschollenen und verstorbenen gedachte. Doch es gab Uwe. Er war immer ein Stimmungsmacher. Er brachte die Erinnerung auf den kleinen dicken, mit einer ebenso dicken altmodischen Nerd-Brille, die seine großen Augen noch absurder aussehen ließen. Sie hatten Tränen gelacht als sie all die vielen Szenen noch einmal durchliefen wie sie ihn gefoppt hatten, wenn er vor ihnen stand in seiner billigen Kaufhauskleidung, kaum einen zusammenhängenden Satz sprechend. Schon damals war er eher ein stiller Computerfreak, auch wenn man noch nicht ahnen konnte was die Zukunft an Technik beriet hielt, unsportlich ja tölpelhaft war er. Und viel zu gutgläubig dachte Isa heute. Lev Kotz haben sie ihn genannt. Übel mitgespielt haben sie ihm! Sie nahmen ihm die Brille ab und ließen ihn in den Schrank laufen. Gerade das, fand sie heute nicht mehr witzig, und auch, wenn Uwe mit diesen Storys die Stimmung hob, so hatte er bei ihr die Sympathie doch etwas eingebüßt.
Sie schloss den Wagen auf und warf ihre Tasche auf die Rückbank des Clio. Warum dachte sie jetzt gerade an diesen Lev Kotz? In ihrer Ausgelassenheit am späten Abend malten sie sich aus wie sie ihn heute verarschen hätten.
Das hatte er wohl geahnt und kam nicht, wen sollte es wirklich gewundert haben?
Sie musste sich eingestehen die Einzige unter den Teilnehmern gewesen zu sein die nicht mit solchen Erfolgen glänzen konnte. Ihr Leben war anders verlaufen. Ein Kunststudium das sie nicht bereute aber auch ziemlich brotlos war. Sie hatte ein kleines Haus im Stadtteil Hamm von ihrer Tante geerbt wo sie die Landwirtschaft weiter betreiben wollte, aber der Hof war zu klein und sie zu unerfahren, um ein sicheres Auskommen zu gewähren. Der Mann der sie immer unterstützt hatte, hatte sie nie geheiratet und war jetzt mit einer jüngeren Frau unterwegs. Trotzdem war sie nicht unzufrieden. Sie hatte die Malerei und zwei oder dreimal arbeitete sie auf dem Carlsplatz und verkaufte Gemüse. Von dem was nicht verkauft wurde bis zum Abräumen durfte sie etwas mitnehmen.
Es war schon dunkel geworden als sie zum Parkplatz lief unten hinter dem kleinen See. Ihren kleinen alten Clio musste ja keiner sehen und dumme Fragen stellen. Verdammt wie konnte ihr ein ehrliches Leben peinlich sein? Und die Verabredung mit Sabine bereute sie jetzt schon. Was soll dabei rauskommen, wenn zwei von Männern verlassene Frauen sich treffen
Plötzlich hatte sie das Gefühl, sie war nicht allein. Der Mond hatte sich noch hinter den hohen Tannen versteckt. Ein Kauz rief in die Nacht, ein Ast knackte, dann hörte sie einen Motor, hörte auch einen Wagen wegfahren, sah aber keine Scheinwerfer. Sie stieg rasch in ihren Renault.
Dann sah sie den Wagen in der Ausfahrt, erst hier machte er die Scheinwerfer an und bog nach links ab.
Na zu viele Krimis im Fernsehen gesehen!
Wieder kreisten ihre Gedanken um Lev Kotz. Sie erinnerte sich an seinen Triumph. Es war ein Schlag ins Gesicht für so manchen, Abiturienten. Lev Kotz hatte sie alle hinter sich gelassen mit seinen Bestnoten, doch sozial lief nichts bei ihm. Er kam auch nicht zum Abi-Ball. Was machte Lev Kotz heute? Sie konnte ihn sich gut als verstaubten Nerd in einer Software-Schmiede vorstellen, völlig verkopft, grübelnd und Pizza kauend, fetter werdend.
Sie schob die Erinnerung zur Seite, denn der Himmel zog sich bedrohlich rasch zu. Sie wollte die 44 Kilometer gerne noch auf trockener Fahrbahn hinter sich bringen, und nicht auf die Autobahn gehen, da der Wagen zu leichten Altersschwächen neigte. Was heute Morgen noch schöne unberührte Landschaft war, die sie im Sonnenschein genoss, empfand sie nun als eine Zumutung, der Natur für den Autofahrer, na ja Städter musste sie eingestehen. So ein Bergischer Bauer schaffte das sicher blind. Schon am Hardenberger Bach und den engen Straßen brachte das Gewitter die Dunkelheit in rasendem Tempo über den Wald.
Augenscheinlich war sie die Einzige die den Weg über Land nahm, denn sie befand sich alleine auf der schmalen unbefestigten Landstraße. Und es musste so kommen mit dem ersten Blitz der in den Berg einschlug erschrak sie sich so heftig, dass sie beim Donner der Sekunden später nieder grollte einen winzigen Moment die Kontrolle völlig verlor. Der Wagen machte zwei unnatürlich Sprünge. Sie sah den Baum, den Acker, verdächtig berstende Geräusche, hüpfte wie ein Hase und kam auf der feuchten Wiese zum Stehen, dann krachte der Baumstamm mit Wucht auf die Motorhaube und schüttelt sie noch einmal in ihrem Gefährt. Der Airbag flog ihr um die Ohren und verschwand, hing wie eine schlappe Plastiktüte im Raum. Ganz offensichtlich war dieser Wagen in Zukunft nicht mehr ihr Gefährte. Durch das Seitenfenster klotzte ein neugieriger schwarzbunter Bulle. Die Gedanken rasten in ihrem Schädel, rausklettern, da schüttet es aus Kübeln. Das Vorhaben konnte sie verwerfen, auch weil die Tür klemmte und der Bulle hatte Verstärkung von seiner Herde bekommen. Blöde Viecher, standen da und gafften sie an. Was hatte sie je über Kühe gelernt? Nicht viel, außer, dass sie immer kauen. Sie kauten nicht.
In der Ferne flackerten zwei Scheinwerfer.
Ihr war plötzlich übel und feuchte Kälte überfiel sie. Auf der Rückbank lag ihre Tasche, nur war da nichts drin was sie wärmen konnte und die leichte Sommerjacke, die etwas Gefühl von Kleidung bringen konnte, lag im Kofferraum. Plötzlich setzten Gliederschmerzen ein, in was für einer merkwürdigen Haltung war sie verrenkt?
„Scheiße, Scheiße, Scheiße!“, rief sie und klopfte mit beiden Händen energisch auf das Lenkrad. Es war dieser Nerd schuld, dieser verdammte Lev Kotz, er hatte ihre Gedanken in den Bann gebracht. Er war wirklich kein Mann für den man schwärmen konnte! Ausgerechnet er hatte ihre Aufmerksamkeit gefordert und sie von der Straße getrieben. Späte übersinnliche Rache und völlig realitätsfremd dazu. Wenn sie jetzt nicht durchdrehen wollte, dann musste dringend das Hirn wieder eingeschaltet werden.
Dann atmete sie tief durch, sie hatte genau betrachtet doch Glück gehabt. Der Wagen hätte sich überschlagen können. Oder es war aus, verdursten, verhungern, erfrieren. Plötzlich begriff sie ihre Lage. Sie sah nicht nur das Maul der Rindviecher, sie sah auch ihre Hufe, Gras und derbe Stiefel. Das Blut lief ihr in den Kopf und machte ihn schwer. Sie löste den Sicherheitsgurt.
Mit einem Ruck wurde die Tür aufgerissen. „Alles Ok?“, fragte der Mann mit einer Tenorstimme, der in den Stiefeln stecken musste. Er streckte ihr eine, für einen Mann ungewöhnlich schmale Hand entgegen.
Doch ohne die Hand zu nehmen und ohne Antwort kletterte sie umständlich aus dem kleinen Wagen. Sie hatte einen alten Bauern mit grüner Cord-Hose und Karierter Jacke erwartet. Tatsächlich sah sie einen Mann mittleren Alters, im dunklen Parker und tiefgezogener Kapuze über dem Kopf. Die Kapuze war Spitz wie bei einer Mönchskutte. Der nächste Blitz ließ seine großen Augen auf funkeln und scharfe Gesichtszüge erkennen, fast leblos. Einen Moment glaubte sie der Satan stehe vor ihr. Der Teufel hatte ein grünes und ein blaues Auge. Konnte nicht sein, denn jetzt fühlte sie ihre weichen Knie und ein Herzrasen in der Brust. Eiskalte Füße spürte sie in den leichten viele zu hohen Wedges die vom Regen durchweicht waren.
Er fasste sie kurz mit festem Griff und beiden Händen an die Schulter, dann ließ er los und zog die Jacke aus, legte sie ihr führsorglich um die Schultern.
Verdammt wo kam er her, so völlig aus dem Nichts, sie war doch allein unterwegs auf dieser, Gott verdammten Straße, kein Haus, kein Hof weit und breit.
Unvermittelt legte er den einen Arm um ihre Taille mit der anderen fasste er sie am Ellenbogen und führte sie den leichten Hang hinauf. Es wäre für ihn kein Problem gewesen diese kleine, leichte Person zu tragen. Am Wagen öffnete er die Beifahrertür und half ihr auf den Beifahrersitz. Er nahm ihr die nasse Jacke ab und schleuderte sie auf den Rücksitz.
War das der Wagen der ohne Licht vom Parkplatz fuhr? Ab der fuhr nach links in die andere Richtung. Hatte er sie bedrängt und auf das Bankett getrieben? Er wäre doch mit seiner Charakter-Karre schon viel weitergekommen.
Die Tür flog zu als sperrte er seine gejagte Beute ein. Mit Elan schwang er sich auf den Fahrersitz und sah sie mit intensiven Augen an. Ein seegrünes und ein blaues Auge, bemerkte sie faszinierend. Mit beiden Händen fuhr er sich durch die nassen recht langen dunkelblonden Haare und schob sie zurück. Sicher machte er um jeden anständigen Friseur einen Bogen. Ein ernster Blick traf sie.
Sie erwartete Draculas Zähne zu sehen, nichts. Und der Blick ihres Retters ging ihr umso mehr und unangenehm unter die Haut. Was sollte sie tun? Sagen, danke ich warte auf den Bus? Stattdessen kam ihr über die Lippen. „Danke, es ist alles in Ordnung. Ich hatte wohl sehr viel Glück.“
„Könnte sein.“
Was heißt jetzt hier, könnte sein? „Mist, mein Handy, meine Papiere!“, stieß sie hervor. Ein Fluch auf die Papiere, aber das Handy musste her und zwar intakt!
„Wo?“
„Im Wagen, auf dem Rücksitz.“
Er zog die Kapuze seines Hoodie über den Kopf und lief ohne große Worte und ohne Hast zum Wagen zurück. Ja sie fand sogar, dass er sich extrem langsam bewegte. Eine gefühlte Stunde später legte er ihre Tasche auf den Schoß. Nun blickte er sie wieder so intensiv an, als erwarte er etwas. Sie beschloss sich noch einmal zu bedanken.
„Wirklich alles Ok?“, fragte er.
„Ja, wirklich, außer, mein Wagen. Können Sie mich hier im nächsten Ort rauslassen. Ich nehme mir dann ein Zimmer, oder den Bus, Zug, was da ist.“
Jetzt blickte er sie an als sei sie gerade vom Mars gepurzelt und hätte drei Kakteen auf dem Kopf
„Klar. Morgen kommt da sicher zweimal am Tag der Bus nach Wuppertal.“
„Morgen mit dem Bus nach Wuppertal. Was soll ich denn in Wuppertal?“, eigentlich hatte sie nur laut gedacht.
„Habe nicht gesagt, dass Sie da was sollen.“ Er ließ den Motor an. Das klang nach sattem Diesel und ordentlich Hubraum. „Ich fahre nach Düsseldorf, wenn Sie wollen auch bis zu Ihnen nach Hause.“
Hättest du gerne, dachte sie und unterstellte ihm sofort böse Absichten.
Er griff nach hinten und fischte einen dicken Pullover vom Sitz, den er ihr anbot.
Klar dachte sie, der riecht nach Schwefel aus der Hölle, deine Heimat. Genau das brauchte sie jetzt. Wolle, Wald, Feuer, gerne, denn ihr war kalt. Erfrieren war eins, warm und wohlig sterben war besser und das war dieser üppiger Pulli. Erde roch sie als sie das Strickzeug überstreifte. Skepsis blieb, auch wenn er noch so mild lächelte. Wunderbar, circa 40 Kilometer, mit einem – Himmel hilf, was war er denn nur? Der Teufel, ein rettender Engel oder ein berechnender Triebtäter, Frauenhasser? Sie musste unbedingt unauffällig auf das Handy sehen. Er hätte alle Zeit gehabt es beim Auffinden zu zerstören. Genau ihr Handy schreckte sie in dem Moment jäh aus den Gedanken.
Tante Klara meldete sich. Ehrlich sie wäre nicht rangegangen säße sie nicht in diesem verflixten Wagen. Sie musste ein Zeichen geben, einen Standort mitteilen, eine Autonummer übermitteln. Nur wie? Klara nervte mit einem Projekt Hausbau. Isa versuchte ruhig zu antworten, denn Klara konnte nicht dafür, dass sie in so einer Bescheidenen Situation war. „Ja – nein – weg wieso – verstehe ich nicht – wieso mein Ulf?“ Mit siebzig ein Haus bauen, dazu noch mit wackeren Freunden im selben Alter! Wer kam auf so eine Idee? Kein Wunder, dass die Banken da zurückhaltend waren mit der Vergabe von Hypotheken.
Sie beruhigte Klara, versuchte es, aber Klara war aufgebracht, sie versprach zu helfen und sich mit Ulf in Verbindung zu setzen. Das wird echt ein Problem. Isa legte auf. So ein Mist, ihre Vitamin B Quelle, Ex Ulf war ja versiegt.
Sie spürte das Schmunzeln ihres Chauffeurs, oder bildetet sich es ein. War sie zu laut? Hatte er mitbekommen worum es ging? Nein, eher nicht.
Er war ihr zu schnell unterwegs. Die schlechte Sicht in dieser stockfinsteren Nacht und das viele Wasser auf der Straße.
Sie meinte sie müsse etwas sagen. „Pardon, haben Sie schon mal ein Haus gebaut?“ Sie versuchte es erheitert auszudrücken.
„Eins?“, fragte er knapp.
„Ja ein Haus!“, sagte sie. Sprach sie kein Deutsch? Was für ein Gubbe!
„Nö“, sagte er knapp.
Aha, ein Mann baut ein Haus, zeugt einen Sohn und pflanzt einen Baum fiel aus. Ebenso wie Verständnis ihrer Lage. An einen komischen Waldschrat war sie da geraten.
Sie hätte ihm gerne etwas aus seinem Leben entlockt, aber wenn er der Luzifer war, sicher nicht so prickelnd.
Ab Wuppertal ging es auf der A 46 weiter. Die Lichter von Haan tauchten auf, wie der weite Blick über Düsseldorf. Sie hatte überlebt und am Bahnhof in Düsseldorf könnte sie in alle Richtungen unbemerkt verschwinden.
Wie gewünscht hielt er am Taxistand Hauptausgang am Bahnhof, als sie die Tür öffnete sagte er: „Viele.“
„Viele?“ wiederholte sie.
„Häuser gebaut.“ Er lächelte. „Man sieht sich immer dreimal.“ Er reichte ihr eine Visitenkarte, die sie unachtsam in ein Seitenfach stopfte, bevor sie in der Menschenmenge, die gerade aus dem Haupteingang stürmte untertauchte und für immer vor ihm flüchtete.
Zu Hause goss sie Tee auf, streifte den Pullover ab, schleuderte in auf den Sessel und warf sich auf das Sofa. Sie starrte auf das naturfarbene Strickzeug gegenüber. Narturbelassene reine Schurwolle mit Kaschmir von Hess Natur, das Teil hat ein Vermögen gekostet. Sie war in seiner Schuld. Postweg reicht, sinnierte sie sie zog die Visitenkarte aus der Tasche. Die Gedanken überschlugen sich.
Lev Czok
Gutachter & Architekt für Biologisches Bauen
Feng shui Berater
Czok, Schock gesprochen, Lev Kotz, der Mann mit den zweifarbigen Augen. Der seltene Name, die Wortkarg Art. Er war 17 als er das Abi machte. Er hatte nicht ein Haus gebaut, er hatte viele Häuser gebaut. Er hatte sich verdammt ansehnlich gemausert. Gut zehn Zentimeter gewachsen und ein Drittel Gewicht verloren und er sah wirklich nicht scheiße aus, im Gegenteil. Das glaubt ihr keiner von den damaligen Freunden. Vor allem aber, er war da! Hatte sogar möglicherweise hinter der Tür gestanden, als sich alle, wie damals über die alten Geschichten lustig machten!
Es war peinlich!