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|64|Jeunesse dorée oder die mit allem spielen

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Gründgens steht an einem Wendepunkt. Den Geschwistern Mann geht es 1927 ebenso. Ihre Weltreise ähnelt einer Flucht. Erika zweifelt an ihrer Eignung für die Bühne – mit Mittelmaß wird sie sich nie zufrieden geben –, Klaus setzen die nicht weg zu juxenden Kritiken an der Revue zu Vieren zu. Zwar nimmt er jeden Vorteil wahr, der ihm als Sohn von Thomas Mann in den Schoß fällt, aber es belastet ihn doch, wie selten man ihm unvoreingenommen begegnet. Als junger Autor fühlt er sich durch die Elterngeneration beschwert (wobei er nicht nur an Vater und Onkel, sondern auch an Rainer Maria Rilke oder Stefan George, Stefan Zweig oder André Gide denkt). Er nimmt sie als Mentoren in Anspruch und wird bei aller Selbstgewissheit das Gefühl nicht los, sie hätten seiner Generation nichts zu tun übrig gelassen.

Wenn verwöhnte Kinder ihr Spielzeug zerstören, ist gleich ein neues da; wenn Klaus oder Erika es mit einer Schule verdorben haben, ist gleich eine neue da; gerät man in Streit, wird der Schauplatz gewechselt. Äußere Umstände hatten es so gefügt, während der Schulzeit von einem Erzieher zum anderen, von einer Reformschule zur anderen weitergereicht zu werden – jetzt wird es zum Bedürfnis besonders für Klaus. So rasch er auftaucht, so schnell verschwindet er wieder, weil er Wiederholungen scheut, sich rasch langweilt und vermisst werden möchte. Die Unrast der von Wohnung zu Wohnung ziehenden Großmutter Julia Mann, deren „Schönheit“ allein im Auge familiärer Betrachter lag, mag das ihre zur Umtriebigkeit der Mann-Kinder beigetragen haben.

|65|Das Nomadisieren zwischen künstlerischen, intellektuellen und sexuellen Szenerien, Ländern, Kulturen und Milieus weitet seinen Blick auf die Welt, fördert seine literarische und politische Entwicklung. Sein Interesse greift früh über das unmittelbar familiäre, literarische, das Bohème- und Theater-Milieu, über die von Krisen geschüttelte Weimarer Republik hinaus – ein Vorsprung, den er mit wenigen Gleichaltrigen teilt. Das ermutigt ihn, als Vermittler zwischen den Generationen aufzutreten.

Fassungslos erlebt er in Berlin, wie Menschen, die sich nie einer Bildungsanstrengung unterworfen haben, bei Sportveranstaltungen Tausende Zuschauer anziehen, während andere, denen er sich zugehörig fühlt, weit davon entfernt sind, vergleichbare Wirkungen zu erzielen: „Junge Schauspieler kommen aus ihren Garderoben – nicht die ohne Erfolg, die Verbitterten, Kleinen und Mißmutigen, nein, die Anerkannten vielmehr und beinah Gefeierten – aber sie fragen sich trotzdem, leise und hoffnungslos: … Warum tun wir das? Und wenn wir uns die Seele ganz aus dem Leib spiel’n: kein Mensch interessiert sich im Grund mehr für uns. Was ist heute die Kunst?“

Kunst und Literatur müssen mit der Unterhaltungsindustrie, das Theater muss mit dem Film, das Ballett mit den getakteten Frauenkörpern der Revuen konkurrieren. Im Zeitalter der Massenunterhaltung gewinnt die wachsende Gruppe der Angestellten an Bedeutung; ihre von Siegfried Kracauer beschriebene „geistige Obdachlosigkeit“ ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass Menschen der Beziehung zwischen Angebot und Nachfrage ausgesetzt sind – kein neues, aber ein schärfer ins Bewusstsein geratendes Phänomen.

So weit wie Stendhal, der während seiner Militärzeit in Italien festgestellt hatte: „Kein Mensch liest“, mag Klaus Mann nicht gehen; noch findet er sein Publikum, doch kann es sein, dass er und junge Literaten sich einem „unmodernen Gewerbe“ widmen? „Weiß eigentlich einer, etwas Neues zu sagen? Ansätze allerorts, im Äußeren |66|eine schlimme Behendigkeit und überall Auftakte, die Hoffnung erwecken. Aber wer hat ihn gefunden, den ‚Stil unserer Zeit’?“

In diese Zeit der Suche fällt die Lektüre von Jakob Wassermanns Roman Caspar Hauser oder Die Trägheit des Herzens (1908). Die Figur des 1828 aufgefundenen, geistig zurückgebliebenen Jünglings, von dem angenommen wurde, er sei der 1812 geborene Erbprinz von Baden, hatte schon die Zeitgenossen fasziniert. Kaspar, der sich nur stammelnd verständigen konnte und unter mysteriösen Umständen starb, war zu Lebzeiten Gegenstand unzähliger Mutmaßungen von Ärzten, Juristen, Philosophen, Erziehern, Obskuranten, die sich zur „Prinzenlegende“ verdichteten und ihn zu einer symbolischen Figur erhoben. Sie lebte in der Literatur, der Oper, im Film fort und faszinierte vor allem junge Autoren.

Zwei Monate vor der Uraufführung der Revue zu Vieren in Leipzig hatten sich die Hamburger Kammerspiele des Themas angenommen. Es handelte sich um das erste Theaterstück von Erich Ebermayer, einem Juristen. Gleich mehrere Theater stritten sich um Kaspar Hauser. Der 26-Jährige hatte sein Stück als „dramatische Legende“ angelegt, weil man vermutete, der reale Kaspar habe sich die Stichverletzung, an der er mit 21 Jahren starb, selbst beigebracht, als das Interesse an seinem Schicksal verebbte.

In dieser „goldenen Zeit der ‚gleichzeitigen Uraufführungen‘ “pendelte Ebermayer zwischen Proben in München, Hamburg, Bochum und Oldenburg. Er war noch relativ unerfahren, hatte aber davon gehört, „daß eine Clique von Literaten den Einbruch eines neuen, jungen Autors an der Isar kollektiv und systematisch zu verhindern“ wusste. Seine Wahl fiel deshalb auf die Hamburger Kammerspiele. Dort ging es weniger steif zu als am Staatstheater München – „soviel intimer, ein bißchen schlampig, aber berstend vor großer literarischer Tradition“ mit Stücken „von Ibsen und Strindberg über Wedekind und Hauptmann, bis zu Toller und Brecht“.

Ebermayer hatte sich während seines Jurastudiums von Tod in Venedig, Tonio Kröger, Tristan, den Buddenbrooks faszinieren lassen |67|und fieberhaft darüber nachgedacht, wie er seinem in München lebenden Idol nahekommen könnte. Nach zaghaften Kontaktversuchen und Buchbesprechungen des verehrten Autors war er endlich von Katia Mann zum Tee gebeten worden, wobei die Tatsache, dass sein Vater, der Oberreichsanwalt und Professor für Strafrecht Ludwig Ebermayer, zu den angesehensten Juristen der Weimarer Republik gehörte, den Ausschlag gab. Die Teestunde hatte den Vorteil, von Thomas Mann ohne Zeitverlust für Besucher genutzt werden zu können. Nach dem Abschied ihres Mannes stellte „Frau Katia“ sich als Sekretärin vor – zuständig für Post, Verträge, Finanzen, Reisen –, sie wollte dem jungen Autor das Gefühl nehmen, ein lästiger Pflichtbesuch zu sein. Ganz gelang es wohl nicht, ihm die Schüchternheit zu nehmen, denn Ebermayer trug seinen ersten Novellenband, Dr. Angelo (1924), den er dem Hausherrn an diesem Tag überreichen wollte, wieder nach Hause.

Katia Mann ist Anfang Vierzig, als er mit ihr ins Gespräch kommt. „Ihre dunklen Augen sprühten ein kleines Feuerwerk von Lichtern. Ihr schwarzes, leicht angegrautes Haar war wirr, so, als habe sie bei der Arbeit viel darin herumgewühlt. Ihre Bewegungen waren hastig, ruhelos, nervös.“ Später, als Ebermayer sich mit Klaus angefreundet hat und in Kampen, in Nidden oder Ettal Ferien mit der Familie – einmal mit Thomas Mann allein – verbringt, sieht er sie in einem anderen Licht, als sie sich „in ihrer schusseligen Art“ für das Umtriebige ihres Wesens entschuldigt: „,Ich weiß, ich weiß, ich verbreite penetrante Ungemütlichkeit Was sie in Wahrheit ‚verbreitete‘, war Liebe, Güte, Klugheit und Humor.“ Den ältesten Sohn des Hauses lernt er anfangs nicht kennen; dafür erlaubt ihm Thomas Mann, Erika und seinen Schwiegersohn, „Herrn Ab-Gründgens“, anzurufen, sobald er in Hamburg einträfe.

In Hamburg schaut Ebermayer den Proben zu. Unvergesslich bleibt ihm der gleichaltrige Hauptdarsteller als Kaspar in jenem Moment, wo er – der Gefangenschaft entkommen – die Welt entdeckt: |68|„Zum ersten Mal im Leben sieht er Blumen und Falter, hört er das Rauschen der Bäume und die Stimmen der Vögel. Staunen, Verwirrung, Glück, Angst – alles erlebt der noch tierhafte Knabe in diesen Minuten, zum ersten Mal allein, zum ersten Mal in der Freiheit. Wie dieser junge Schauspieler Gustaf Gründgens da oben das spielte, wie zart und liebenswert und mitleidheischend mit der armseligen Kreatur, dem Opfer höfischer Intrige, war großartig. Es bewegte mich zutiefst. Aber auch der theatererfahrene Erich Ziegel war sichtlich fasziniert.“

Außerhalb der Bühne sind das vorbildlich Elegante, tänzerhaft Federnde, Energie, Witz, Charme und „unbändiger Ehrgeiz“ nicht zu übersehen. Gründgens’ Stellung ist gefestigt genug, um kurz vor der Premiere auf sich warten zu lassen; für Kaspar muss er sich zehn Jahre jünger schminken und nimmt er sich alle Zeit der Welt, um „vollendet jung, vollendet schön zu werden …“

Für den billig eingekauften Regisseur des Stücks und dessen Einfall, Kaspar an einem Pappflieder riechen zu lassen, hat Gründgens nur Verachtung übrig, denn der Erfolg des Stücks beim Publikum, in dem Studenten, Schüler, Altersgefährten des „pauvre Caspar“ überwiegen, wird einzig ihm zu danken sein: „Man riß sich um die Karten, wenn Gustaf Gründgens spielte. So war es an diesem Januarabend 1927, und so blieb es über 30 Jahre lang, bis zum Ende.“ Gründgens macht Ebermayer mit seinen Kollegen bekannt und entschuldigt sich, weil er ihn nicht nach Hause einladen kann: all seine Möbel seien gepfändet. Wenige Monate später sehen sie sich bei der Revue zu Vieren wieder.

Ebermayer arbeitet als Dramaturg am Stadttheater Leipzig und behauptet im Leipziger Tageblatt, nach dem Expressionismus komme nur Klaus Mann und anschließend – nichts mehr. Das findet den Beifall der Dichterkinder. Wie weit kann man zu weit gehen? Für sie ist das Ganze wieder ein Jux; sie genießen das Geschrei während der Vorstellung, die Prügeleien danach, während Gründgens einen Rückschlag befürchtet und seine Teilnahme beendet.

|69|In Anja und Esther gab es einen ebenfalls von Gründgens gespielten Kaspar, den bedächtigsten Jugendlichen im Stück. Was faszinierte Klaus Mann an dieser rätselhaften Figur? Die log, wenn man Lüge nennen will, was als Phantasie eines verwahrlosten, der Gesellschaft entfremdeten Wesens ins Kraut schoss? Nach der Lektüre von Jakob Wassermanns Roman Caspar Hauser oder Die Trägheit des Herzens (1908) ist er für Klaus Mann ein Fremdling unter den Menschen, ein „heimatloser Prinz“; er gilt als Lügner und wird durch seine Seidenstrümpfe als eitler Fatzke verlacht, weil niemand begreift, dass sein Wunsch nach schönen Dingen der Trauer verwandt ist.

Wie kommt der privilegierte Sohn einer Familie, die keine Anstrengung scheut, ihm beizustehen, und alles tat, ihm eine gute Erziehung zu verschaffen und Wege zu ebnen, dazu, sich mit einem vernachlässigten und traumatisierten Wesen zu identifizieren, an dem sich viele versündigt hatten? Das bunte Milieu, in dem Klaus Mann und seine Altersgenossen leben – „revolutionäre Versammlungslokale, Wandervogelspiele, Schülerratsitzungen, Bankbetrieb in der Inflation, Nachtlokal, Kloster, D-Zug, Hotel“ – ist all das nicht Lichtjahre entfernt vom „pauvre Caspar“? Der Anprall äußerer Eindrücke ist für die Jugend der 1920er Jahre sicher um ein Vielfaches heftiger als für den vermeintlichen Prinzen im 19. Jahrhundert. Was der Sohn aus dem Hause Mann unter Jugend versteht, betrifft eine überschaubare Schicht und hat mit dem legendären Kaspar nichts gemein. Oder doch? Ihm ging es nicht um die äußeren Umstände, sondern um ein „inneres Los, das mir sehr nahe, das mir wohl allzu nahe bekannt und lange vertraut war“.

Dieses Bekenntnis vertraut er nicht seinem Tagebuch an, sondern der Öffentlichkeit – es erscheint am 7. April 1925 in Siegfried Jacobsohns Weltbühne.

Wie sein Vater, der sich, der ihn und die übrigen Kinder in Unordnung und frühes Leid unter literarischem Vorzeichen auftreten ließ, hat Klaus Mann weder Bedenken noch Skrupel, die Grenze zwischen privatem und öffentlichem Dasein zu überschreiten. Die |70|frühen Erzählungen, das erste Theaterstück, in denen sich Paul Geheeb als Leiter der Odenwaldschule literarisch wiederfindet, aber nicht wiedererkennt, sind Beispiele dafür. In Zukunft wird das Freundschaften belasten oder beenden. Wie bei Thomas Mann stehen alle, die mit seinem ältesten Sohn umgehen, unter abschätzender Beobachtung. Der Vater zeigt höfliche Distanz, der älteste Sohn ist freundlich, offen und charmant; wer ihnen begegnet, wiegt sich in Sicherheit, bis er sich, wie Gerhart Hauptmann im Zauberberg oder Gustaf Gründgens in Treffpunkt im Unendlichen, durch einen literarisch gefilterten Doppelgänger bloßgestellt sieht.

Eine herausragende Rolle bei der Suche Klaus Manns nach einem intellektuellen Kompass kommt einem Schriftsteller zu, dessen Unkonventionalität ihn fasziniert: André Gide. Auch dessen Leben steht unter dem Motto „Reisen, Lieben, Schreiben“. Auf ihn fiel die Wahl, als es nach seinem Empfinden um alles ging. Gide stammte aus einer wohlhabenden, großbürgerlichen Familie. Er konnte seinen Interessen in völliger Freiheit nachgehen und wurde innerhalb weniger Jahre zu einem der bedeutendsten Schriftsteller Frankreichs. Wie viele Homosexuelle dieser Zeit ist er verheiratet, mit seiner Cousine Madeleine Rondeaux, die – wie Katharina Pringsheim in Königliche Hoheit – als bezaubernde Alissa in La Porte étroite (Die enge Pforte) 1909 erschien.

Schon in jungen Jahren war er Oscar Wilde in Paris begegnet. 1895 traf er ihn im algerischen Blida wieder. Danach wird Gide dieser Enklave nie mehr den Rücken kehren. L’Immoraliste war 1902 erschienen, 1926 beschrieb er in Si le grain ne meurt (Stirb und werde) sein erstes sexuelles Erlebnis mit einem arabischen Jungen. Für Europäer boten sich Reisen in die ehemaligen Kolonien und Länder an, die einheimischen Kindern und Heranwachsenden keinen Schutz gegen sexuelle Übergriffe gewährten. Nordafrika war ein beliebtes Ziel, weil man die Verfügbarkeit all der Athmans und Mohammeds ungehindert nutzen konnte. Dort wollte Gide den calvinistisch geprägten Puritanismus seiner Knabenzeit überwinden: |71|„Nie“, sagte er, „fühle ich mich intensiver leben, wenn ich mir selbst entschlüpfe, um irgend jemand zu werden.“

Die Aussicht, der eigenen Lust ungestraft nachgeben zu können, löschte jegliche Bedenken aus. Bei einem dieser Aufenthalte teilte er sich eine Prostituierte und mehrere Knaben mit einem Begleiter. In diesen Alltag platzte seine Mutter Juliette hinein; sie hatte sich trotz ihrer angegriffenen Gesundheit zu einem Besuch aufgemacht. Als sie bemerkte, was vorging, bekannte er sich zur „zynischen Auffassung des körperlichen Aktes“. Negative Folgen hatte das nicht; auf das non-dit einer streng erzogenen Dame der Oberschicht war Verlass. Aber: „Sie weinte und weinte.“ Und packte wortlos ihre Koffer. Auf diese Seite des bewunderten Schriftstellers wird Klaus Mann erst Jahre später zu sprechen kommen, als er nachvollzieht, wie Gide sich in zwielichtiger Umgebung, „zitternd vor Gier“ eines Vierzehnjährigen bemächtigte: „Ja, der Teufel kam auf seine Kosten – bei dieser höchst schmutzigen Angelegenheit.“

Klaus Mann erlebt die homosexuelle Subkultur und den Kampf für die Abschaffung des § 175 als Jugendlicher während der Weimarer Republik. Selbst- und Fremdbilder von Homosexuellen sind Gegenstand öffentlicher Aufmerksamkeit und Themen der Literatur. Zwischen Homo- und Pädosexuellen wurde nicht unterschieden. „Le père Gide“, wie Klaus Mann ihn nannte, galt als homosexuell, nicht als pädosexuell; bis zu seinem Coming-out im Jahr 1917 bestand sein lebenspraktischer Umgang mit dem Thema in Schweigen – nur als Literat ging er keine Kompromisse ein.

Für Klaus Mann ist Gide der „reichste und faszinierendste Geist“ der europäischen Literatur im 20. Jahrhundert. Seine Werke sind ihm eine Offenbarung. Gides stolze Unabhängigkeit und intellektuelle Souveränität verwandeln ihn in einen Altersgenossen: „Wir müssen uns von einem über Fünfzigjährigen den Typ ‚junger Mann‘ zeigen lassen, der wir selbst sind oder sein möchten.“ Mit besonderem Interesse betrachtet Klaus Mann Gides Ablehnung von Vorbildern als Hindernis auf dem Weg zur Eigenständigkeit. In einer Szene |72|aus Les Nourritures terrestres (1897) kommt das klar zum Ausdruck: „Nathanael, wirf mein Buch fort! Begnüge Dich nicht damit. Kein anderer kann Deine Wahrheit für Dich finden … Wirf mein Buch fort; sage Dir, daß dies nur eine Haltung dem Leben gegenüber ist. Such deine eigene. Was ein anderer ebenso tun könnte wie Du, tu es nicht. Was ein anderer sagen könnte, sag Du es nicht. Was er schreibt, schreib Du es nicht. Nur was sich nirgend anders findet als in Dir, das halte fest, und schaffe Dich in einmaliger Tat oder in langsamem Werden zum unvergleichlich, ja zum unersetzlich Einzigen.“

Gides jungem Verehrer ist das aus der Seele gesprochen. Der Schlüssel zu Klaus Manns wachsender Zuneigung liegt in Gides reich facettierter Persönlichkeit, der Verschmelzung von Lust und kreativer Disziplin, und der Tatsache, dass er nicht im Traum daran dachte, Ratsuchende mit Belehrungen zu überschütten. „Wußte er Antwort auf meine Fragen? Offerierte er ein Programm? Nein, es war immer nur sein ‚Beispiel‘, das er zu bieten hatte, das Beispiel seiner geistigen Integrität und Tapferkeit, seiner Neugier und Wahrheitsliebe, seiner Geduld, seines Stolzes, seiner Leidenschaft, seines sittlichen Ernstes. Durch ihn erfuhr ich, daß Erkenntnis und Glaube, Wissen und Liebe einander nicht ausschließen …“

In diesen Jahren ist Klaus Mann ständig unterwegs. Mit 19 Jahren beherrscht er die Klaviatur karrierefördernder Kontakte; bald gibt es nur wenige bewunderte oder einflussreiche Schriftsteller, die er nicht anschreibt, um von Plänen zu berichten oder etwas zu erbitten. Mit Erfolg: Stefan Zweig und Jean Cocteau sprechen Empfehlungen aus oder übernehmen zeitweise die Rolle des Mentors.

In Paris versteht Cocteau wie kaum ein anderer, die Öffentlichkeit in Atem zu halten, sich der Kunst-, Theater- und Musikszene zu bedienen, um homosexuelle Jünglinge zu fördern – er dürfte Klaus Mann bestärkt haben, Erstlingswerke zu besprechen. Nur Gide verharrt in kühler Distanz.

|73|Wer damals nur den Dramatiker im Blick hat, verkennt Klaus Mann. Seit 1924 veröffentlicht er Kritiken, Stellungnahmen und Erzählungen. 1925 erscheint sein Roman Der fromme Tanz, in dem er die Wirrsal einer bohèmistischen Jugend schildert. Doch in den ersten Monaten des Jahres 1927 zeichnet sich eine Wende von ästhetischen zu politischen Überlegungen ab.

Wie es dazu kam, wird im Essay Heute und Morgen deutlich. Hier versucht er, Einzelaspekte in einer Gesamtschau zusammenzuführen und die Generationenfrage politisch zu beleuchten. Was hat die Jugend in Deutschland, Frankreich, in Europa gemeinsam außer ihrer Ratlosigkeit? Kann es ein „Wir“ inmitten unterschiedlicher Phänomene wie Nationalismus, Militarismus und Faschismus geben? Verkörpert Jugend per se den Fortschritt? Er bezweifelt es. Was treibt deutsche Jugendliche, Krieg gegen Frankreich führen zu wollen? Pure Unwissenheit? „Sie haben niemals gehört, daß jedes dieser beiden Länder ohne das andere verloren ist, daß es für Europa nur eine Rettung gibt, wenn die beiden zusammengehen; Deutschland und Frankreich sind ja beinahe Europa.“

Den Hedonismus seiner Altersgenossen führt Klaus Mann auf das Gefühl zurück, im Übergang „zwischen zwei Katastrophen“ zu leben, das mache „leichtsinnig und verwegen“. Das Verbindende seiner Generation sieht er in einem neuen Körperkult.

Noch mag sich der 21-Jährige nicht ganz von der Konvention verabschieden, Lust und religiöse Ekstase gleichzusetzen. In Der fromme Tanz, seinem Roman über die Pariser und Berliner Bohème, macht die Hauptfigur Andreas, ein junger Mann bürgerlicher Herkunft, die Erfahrung, dass Menschen auf ihre Nützlichkeit hin taxiert und an ihrer sexuellen Verfügbarkeit gemessen werden. Noch lastet der Autor Promiskuität, Härte und Desillusioniertheit den Nachkriegsjahren an, und glaubt, hinter all dem eine „neue Unschuld, den neuen Glauben, die neue Frömmigkeit“ zu entdecken, die „durch all diese Verwirrungen schimmert“. Am |74|Ende packt Andreas seine Koffer und rennt den hinter ihm liegenden Erlebnissen davon – als „betender Läufer“.

Ein Großteil der Jugendlichen weiß mit der Verquickung von Sexualität und Religiösität nichts mehr anzufangen. Mit seinem Gespür für allerneueste Entwicklungen entdeckt Klaus Mann eine von religiösen Beimengungen gereinigte Variante erotischer Faszination. Nicht zuletzt durch den Film entstehen in den 1920er Jahren „Körperlegenden“; in Hollywood fällt der „Triumph des Leibes“ mit dem „Triumph der Schönheit“ in eins – am Beispiel des ersten Latin Lover des amerikanischen Stummfilms: Rodolfo Valentino. Als Torero, Scheich und Liebhaber elektrisiert er das weibliche Publikum und kreiert einen erotischen Männertypus, der die bisherigen Leinwandhelden – Komiker, blasse Gesellschaftslöwen, Cowboys – auf eine Art in den Schatten stellt, die ihm den Hass amerikanischer Männer zuzieht. Von einem anonym bleibenden Journalisten wird er als „pink powder puff“ verspottet – ein gefährlicher Vorwurf im damaligen Amerika. Valentino wird Opfer einer Intrige und stirbt im August 1926 mit 31 Jahren. Seine Aufbahrung wird zu einem Großereignis in New York. Zehntausende folgen seinem Sarg.

Klaus Mann ist nicht der einzige, der staunend registriert, wie sich „die halbe Menschheit … in einen Körper“ verliebt: „In der Lebensgeschichte dieses begnadeten Valentino gibt sich die typisch amerikanische Liebe zum Körper ein Fest.“ Mag seine Legende „veräußerlicht, plakathaft und grell“ erscheinen; in ihr erkennt Mann „das traurigste, geheimste, freudenreichste Erlebnis unserer unsicheren Jugend“.

In Heute und Morgen geht er erstmals über das unmittelbare Erleben seiner Altersklasse hinaus und nimmt das politische Umfeld in den Blick; sollte es zu einem Krieg in Europa kommen, dürfen die Intellektuellen nicht versagen wie 1914: „sie hielten nicht stand, sie verfielen dem triumphierenden Wahnsinn“. Krisen des Kapitalismus, Strategien des Kommunismus stellen die Menschen vor extreme Herausforderungen. Mit Richard Coudenhove-Kalergi erscheint |75|ihm Demokratie als Interimsphänomen: „Die Feudalaristokratie ist im Verfall, die Geistesaristokratie im Werden. Die Zwischenzeit nennt sich demokratisch, wird aber in Wahrheit beherrscht von der Pseudoaristokratie des Geldes.“

1927 denkt er darüber nach, ob es 1930 zu einer militärischen Diktatur kommen könnte. Wäre das der Fall, gehöre „unsereins … in Verbannung“, wenn auch nur für kurze Frist: Spätestens 1935, glaubt er, hätte „man sich eines anderen besonnen. Rettende Lösung ist nicht stolzes Heraustreten aus der Zeit“, sondern die Bereitschaft, „diese gefährlichste Zeit zu lieben, sei sie noch so nahe der Katastrophe, noch so nahe dem Gemeinen“.

Tanz auf dem Vulkan

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