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|10|Fronttheater oder die Schule des Lebens

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Herkunft – was bedeutet sie? Wie tief greift sie in ein Leben und die ihm beschiedene Zukunft ein? So viele Möglichkeiten es gibt, damit umzugehen, so viele Facetten weist das Verschweigen oder ihr Einsatz im Poker zu verteilender oder versagter Chancen auf: Herkunft als Gabe, Bremsklotz, Hürde oder Ansporn.

Gründgens’ Bemerkungen zu seiner Herkunft sind Fragment geblieben – im Entwurf zu einer Selbstbiographie weist er väterlicherseits auf rheinische Industrielle mit holländischem Einschlag, mütterlicherseits auf Kaufleute hin, die Rheinschifffahrt betrieben und einen Kölner Oberbürgermeister stellten. „Beide Familien hatten ihre große Zeit.“ Doch wenige Sätze danach klingt ein an Die Buddenbrooks erinnerndes Motiv an: „Der Verfall dieser Familie setzte bereits vor meiner Geburt ein.“ Das am 22. Dezember 1899, zehn Tage vor Beginn eines neuen Jahrhunderts, in Düsseldorf zur Welt gekommene erste Kind von Emilie Gründgens, geb. Ropohl, und Arnold Gründgens wird in ein Milieu hineingeboren, das anfangs noch Spuren einer glanzvoll gesicherten Vergangenheit aufweist, doch bald durch die immer weniger erfolgreiche Tätigkeit des Vaters als Inhaber einer Eisen- und Stahlwarenhandlung, schließlich als Angestellter in wechselnden Firmen geprägt sein wird.

Seine am 23. Mai 1903 geborene Schwester Marita erinnert sich später an „eine unbeschreiblich schöne und unbeschwerte Kindheit“, mit Spielen, bei denen der dreieinhalb Jahre ältere Gustav als Priester und Sänger und sie als Ministrantin oder Publikum auftrat. Beide erleben ihre Mutter tagsüber als Frau mit Sinn für kindliche Vergnügungen, doch am Abend, wenn sie in eleganter Toilette die |11|Wohnung verlässt, als Wesen einer anderen, geheimnisvollen Welt. Vor ihrer Heirat hatte sie bei der Sängerin Lilli Lehmann, einer international gefragten Sopranistin, studiert, die als Interpretin von Wagner und Mozart brilliert hatte. Jetzt tritt Emilie Gründgens nur noch in privatem Rahmen, bei Wohltätigkeitsveranstaltungen oder als Stimmbildnerin eines Chores auf Sängerfahrt auf, denn eine Karriere verbietet sich nach der Heirat von selbst. Anklänge an Die Buddenbrooks und Thomas Manns Kindheit auch hier: Die schöne Mama führt jenseits der geschäftigen Männerwelt ein Eigenleben, was ihr Sprössling mit kindlicher Faszination bestaunt.


Emilie Gründgens mit ihren Kindern Marita und Gustav, 1914

Emilie Gründgens hat auf die Entwicklung des Knaben entscheidenden Einfluss: „Ihre Musikalität war so stark ausgebildet“, schreibt er 1938, „daß mir noch heute die Stunden unvergeßlich sind, wo sie sich daheim an den Flügel setzte und Lieder von Schumann, Schubert, Wolf oder Brahms sang. Ihre Art, die stimmungsund gefühlsreichen Kompositionen vorzutragen, war schlechthin einmalig – ich habe sie auch späterhin nicht stilreiner und empfundener |12|singen gehört. Ich erinnere mich noch eines Augenblicks, wo sie das zarte Lied ‚Immer leiser wird mein Schlummer‘ sang, so ganz für sich hin, während ich still im Zimmer saß und andächtig den Tönen lauschte.“ Später darf er sie zu musikalischen Veranstaltungen begleiten.

Die Geschwister Gründgens lassen sich vom Weihnachtsmärchen bezaubern, doch als Marita ihren Bruder fragt, ob ihm die Drähte aufgefallen seien, an denen die Engel vom Himmel schwebten, mag er sich die Illusion nicht erklären und damit auslöschen lassen. Noch vierzig Jahre später erinnert er sich an die aus dem Handwerkskasten des Bühnenbildners genommenen Hilfsmittel des engelhaften Schwebens: „Ich wollte sie nicht gesehen haben …“

In der großbürgerlich eingerichteten Düsseldorfer Wohnung hängt ein Porträt der Mutter. Emilie Gründgens erscheint seitlich gewendet mit Blick aus dem Bild im aufwändigen Hochformat, als dunkel gekleidete, auf einen Schirm gestützte Erscheinung in Mantel und Hut – eine Brotarbeit des gleichaltrigen Düsseldorfer Malers Richard Friedrich Reusing, der sich mit Damen-, Kaiser- und Militär-Porträts profilieren wird. Das seitlich einfallende Licht liegt nur auf ihrer Stirn und dem spitz zulaufenden Ausschnitt in blendendem Weiß; sie wirkt älter als Mitte Zwanzig. Das Bildnis wird ihren Sohn lebenslang begleiten.

Noch kann Arnold Gründgens das Schulgeld für seinen Sohn aufbringen. Ab 1909 besucht Gustav mit mäßigem Erfolg die nahe gelegene Oberrealschule in Düsseldorf und die Höhere Knabenschule in Oberkassel, doch im Frühjahr 1916 wird er nach Mayen geschickt, um am dortigen Gymnasium wenigstens das „Einjährige“ zu machen. Keine erfreuliche Zeit, wie er später andeutet: „Wenn sie einem wenigstens etwas beigebracht hätten, diese Geistlichen! Wenn ich erzählen würde, was sie uns beibrachten …“.

Aus der Ferne, im zweiten Kriegsjahr, erlebt der Halbwüchsige seine Mutter als Schutzengel – und will sie nicht enttäuschen: „Sieh mal, wenn ich bei einer Klassenarbeit mal wieder der alte Leichtfuß |13|sein will, dann steht auf jedem Löschblatt versteckt: Denk an Mutter! und das gibt mir wieder die Besinnung. Die Mathematikarbeit, die habe ich mit Deiner Hilfe so schon gut gemacht … Siehst Du, so hilfst Du mir immer, auch ohne daß Du es weißt.“ Helfen wobei? Durchschaut er als Halbwüchsiger das „Schein-Dasein“ seines Vaters als „reicher rheinischer Kaufmannsprotz … mit progressivem Mißerfolg“, das „schwarze Schaf“ einer Familie erfolgreicher Kaufleute und Firmeninhaber, der sich mit Dienstmädchenaffairen die Zeit vertreibt und alles dafür tut, sich offiziell keine Blöße zu geben?

Bereits vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs erlebt der Achtjährige seine Mutter in Tränen aufgelöst, weil ihr Mann vor seiner Abreise kein Haushaltsgeld hinterlassen hat, und schickt ihr „durch das Dienstmädchen einen Pfennig mit folgenden Zeilen: ‚Meine liebe, liebe Mutter! Es ist zwar nicht viel, aber immerhin etwas. Sei stark – es werden bessere Zeiten kommen. Also: Verzage nicht! Gustav‘.“

Bald, in einem der wenigen erhaltenen Briefe an sie, beherrscht ihn „der Gedanke, dass ich Dir helfen möchte, ganz und gar. Ich will und ich muss Dir Freude machen.“ Noch ahnt Emilie Gründgens nicht, dass das Bündnis des Knaben „Gui“ mit „Mui“ wie es in Kindertagen heißt, künftig seine ganze Kraft entfalten und bis zu ihrem Tod Bestand haben wird.

Arnold Gründgens wünscht, dass sein Sohn in die Düsseldorfer Schiess-AG eintritt, in der Großmaschinen hergestellt und Werften beliefert werden, doch der Lehrling glänzt öfter durch Abwesenheit und legt sich lieber auf die Rheinwiesen, um die Klassiker zu lesen und mit Klassenkameraden erste schauspielerische Versuche zu machen. Im Entwurf zu einer Selbstbiographie wird er später noch einmal darauf zurückkommen: „Was hat mir damals vorgeschwebt, und was ist daraus geworden? Ich denke darüber nach und kann nur den Kopf schütteln.“

Jetzt will er fort, einfach nur fort und nicht nur den Ort seiner Geburt, sondern die zwischen „Bigotterie und einer ebenso unechten |14|Freizügigkeit“ schwankende „Gesellschaftsklasse, der ich angehörte“, verlassen. Als er nach drei Monaten die Lehrstelle aufgibt und man ihm bescheinigt, mit dem jungen Mann sei nicht viel los gewesen, platzt der Traum seines Vaters, sich über den Sohn zu rehabilitieren.

Aber es gibt einen Ausweg, denn noch herrscht Krieg. Der Siebzehnjährige tritt in die Maschinengewehrkompanie 30 Graf Werder ein, wird durch die Unachtsamkeit eines Kameraden verletzt, steckt sich im Lazarett mit Ruhr an und erfährt dort von einem Fronttheater in Saarbrücken, das Darsteller sucht. Seine Bewerbung hat Erfolg, weil er vorgibt, Bühnenerfahrung zu haben.

Nach Auflösung des Fronttheaters und der Verlegung seiner Einheit in den Harz kann er erstmals vereinen, was sein künftiges Leben ausmachen wird; er organisiert Unterhaltungsabende für die Bevölkerung in Thale, tritt als Darsteller auf, inszeniert und ist für die Verwaltung zuständig. Dort lernt er, auf „primitivste Mittel, kleinste Verhältnisse“ flexibel zu reagieren. Zuversichtlich und nur halb im Scherz beschriftet er bei seinem Abschied die Rückseite einer Foto-Postkarte, auf der er im Stil einer kaiserlichen Profilansicht erscheint, mit den Worten: „zum Aufbewahren bis ich berühmt bin“.

Man merkt Gründgens die Unlust an, bei seinem autobiografischen Entwurf ins Detail zu gehen; als leidenschaftlicher Leser von Biografien überspringt er stets Kindheit und Jugend: „Schließlich habe wir alle auf dem Eisbärfell gelegen“, heißt es mit Blick auf Lebensphasen, die sich der Selbstbestimmung entziehen. Wenn es um ihn selbst geht, möchte er nur das Typische seiner Herkunft und Generation hervorheben. Wie seine Briefe, Reden und Schriften zeigen, war Gründgens stets ein Mann des Wortes. Kaum begonnen bricht er den Entwurf seiner Selbstbiografie wieder ab – weil er sich zu seiner Karriere unter dem Protektorat des nach Hitler mächtigsten Mannes äußern müsste? Es bleibt bei der Erkenntnis: „Ich bin nicht verbittert und schon gar nicht stolz. Ich bin nur verwundert, |15|und ich sehe an meinem Schicksal, wie sehr wir alle überfordert sind, wie viel mehr das Leben von uns verlangt als wir zu geben imstande waren …“

In einem frühen, undatierten Couplet findet sich das durch die Arbeit am Entwurf erweckte Unbehagen:

„Ich tret aus meinem Traum heraus

Und stell mich leise neben mich

Und sehe wie das Leben sich

Von hier aus präsentiert.

Ich seh mir selber ins Gesicht.

Ich merke, ich gefall mir nicht.

Was ist denn das mit mir?“

Noch 1938 hatte er sich als auskunftsfreudiger erwiesen. Auf seine Anfänge kommt er nicht zurück.

Im Frühling 1919 ist klar, was ihn weiterbringen soll und muss. Er hat an Sicherheit gewonnen und seine Eltern davon überzeugt, seinen Neigungen folgen zu dürfen. Noch ist Arnold Gründgens in der Lage, eine standesgemäße Wohnung mit Dienstmädchen in Oberkassel und die Ausbildung seines Erstgeborenen an der im Kriegsjahr eröffneten, in hohem Ansehen stehenden Hochschule für Bühnenkunst zu finanzieren, die an das 1904 gegründete, von Louise Dumont und Gustav Lindemann geleitete Privattheater in Düsseldorf angeschlossen ist.

„Wo gibt es das noch – Schauspielkunst?“ hatte Dumont einmal gefragt. „Ein Trapezkünstler, eine Schulreiterin – die müssen ihr Handwerk wirklich gelernt haben … Für das Theater braucht man nichts, aber auch nichts weiter als ein gewisses Maß an Frechheit!“ Andererseits kämpfte sie im Unterricht dagegen an. Um das Theater von Grund auf zu erneuern, Routine auszuschalten, setzte sie auf die Magie der Sprache – Laut, Rhythmus, Klang: „Das Dichterwort darf niemals Handelsware sein.“ Sie hantierte nicht mit Rezepten, sondern sicherte sich mit dem Bau eines subventionsfreien, als GmbH |16|geführten, bereits mit Drehbühne ausgestatteten Theaters experimentelle Freiräume. Dumont und Lindemann konnten zwar nur bescheidene Gagen zahlen, doch die Intendantin beseitigte den weitverbreiteten Missstand, demzufolge Schauspielerinnen sich prostituieren mussten, um ihre Bühnengarderobe zu finanzieren. Woanders lautete die erste Frage eines Direktors oft schon beim Vorsprechen: „An Ihr Talent glaub‘ ich gern, doch wie steht’s mit Ihren Kostümen?“ Auf viele Elevinnen wartete dann die „Besetzungscouch“. Zuweilen wies man sie auf das „Kapital“ zwischen ihren Beinen hin. An manchen Hoftheatern wurde Schauspielerinnen deshalb ein Zuschuss gewährt. Das Privattheater von Louise Dumont und Gustav Lindemann stellte Frauen die Garderobe für klassische und moderne Rollen. Anders als an Privattheatern sonst üblich, schloss das Paar Verträge nicht nur für die Saison, sondern gleich für ein ganzes Jahr ab und bezahlte die Darsteller auch während der Ferien.

Gründgens ist mit Feuer und Flamme bei der Arbeit und freundet sich mit Mitschülern wie Hanns Böhmer und Renée Stobrawa an. „Wir haben alle geschuftet wie die Wilden. Aus reinem Vergnügen, aus lauter Überschwang, ohne Aufforderung. Unfaßbar die Geduld, mit der Frau Dumont alle diese Temperamentsausbrüche über sich ergehen ließ.“ Sie sind sich für nichts zu schade, genießen das Bohèmeleben, gehen mit Begeisterung über die Dörfer „schmieren“, ohne Louise Dumonts Überzeugung, Kunst gedeihe „nur auf dem Boden der Wahrheit und der Wirklichkeit“, aus dem Kopf zu verlieren. „Schmieren“ gewährt den jungen Leuten eine Pause von den Ansprüchen ihrer Lehrerin, die sie bis zur Überforderung einsetzt. Sie hat die Gabe, „beruflichen Ernst zu erzeugen, ohne die Spielfreudigkeit zu nehmen“. An ihrem Theater ist man gehalten, dem Dichterwort mit derselben Ehrfurcht zu begegnen, wie sie die unorthodoxe Prinzipalin dem Schauspielerberuf entgegenbringt und allen vorlebt.

Ihre Autorität war überall spürbar, hatte sie sich doch aus prekären Verhältnissen emporgearbeitet, ein reiches Repertoire erworben, |17|an Hoftheatern gespielt, in Berlin unter der Ägide von Otto Brahm ihre große Zeit als Ibsen-Darstellerin erlebt und – im Kontakt zur Frauenbewegung – gegen enorme Widerstände eine Lanze für die Noras dieser Welt gebrochen. Sie ist Anfang Vierzig und eine Schauspielerin von europäischem Ruf, als sie mit Hilfe ihres Managers Gustav Lindemann in der Stadt Heinrich Heines nicht nur ein Theater aufbaut, sondern sich darüber hinaus dem künstlerischen Nachwuchs und der Volkserziehung widmet.

Mit Louise Dumont hatte der junge Gründgens eine Frau vor Augen, die über einen unerschöpflichen Fonds an Erfahrung im In- und Ausland verfügte, im vollen Schwung ihrer Karriere den Sprung in die Provinz wagte und den Aufgaben einer Intendantin, Schauspielerin und Erzieherin gleichermaßen gerecht wurde. Künstlerisch hatte sie alles vom „Dichterwort“ erwartet. Textsensibilität, das „Nachschaffen“ von Dichtung „im großen Rhythmus der deutschen Sprache“, unterstützt von sorgsamer Ensemblebildung wird auch seine Zukunft bestimmen.

Noch ist es nicht soweit. Nachdem man den jungen Darsteller im Abgangszeugnis mit erquälten Phrasen für „komplizierte Charakterrollen in der klassischen-dramatischen Dichtung“ empfohlen hat, wird er an die Städtischen Bühnen Halberstadt mit einer Gage von 150, schließlich 550 Mark engagiert. Obwohl er von seinen Eltern unterstützt wird, hat er kein Auskommen und muss zusätzlich Jobs annehmen. Zum ersten Mal in unvertrauter Umgebung auf sich gestellt, bleiben ihm altersgemäße Rollen verwehrt; sein Fach sind mit Bärten und Bäuchen ausstaffierte Alte. Er fühlt sich allein und hält Kontakt zu Louise Dumont, die nach dem Ende der Spielzeit kein Engagement für ihn hat. Außerdem ist er unglücklich verliebt und bombardiert seine Mitschülerin Renée Stobrawa mit Gedichten und Briefen. Anders als er, hat sie ein Engagement am Düsseldorfer Schauspielhaus bekommen. Bald wird ihm klar, dass er der herb wirkenden, fast drei Jahre älteren Schauspielerin als Liebhaber nicht genügen kann, auch deshalb nicht, weil er „einen |18|großen Teil“ seiner Impulse „in künstlerisches Schaffen“ umsetzt, während sie – aus seiner Sicht – ihre Erotik ausleben muss, um im Beruf etwas zu leisten. Seiner Mutter schreibt der Zweiundzwanzigjährige, er könne „weder mit der Frau als Herrin noch mit der ‚Käthchen von Heilbronn‘-Natur etwas anfangen“, und kommt im Gedanken an Stobrawa zu dem Schluss: „Ich kann entweder nur ihr Mann sein oder nur ein guter Schauspieler werden … Für eine rein physische Erotik ohne starkes geistig-seelisches Band werde ich nie Verständnis haben.“

Die – ungewöhnlich offene – Erklärung richtet sich im April 1921 an eine Adressatin, die ihr Leben in einem katholischen, von Bigotterie und Doppelmoral geprägten Umfeld, d.h. dem „seit jeher gegen tüchtige Menschen undankbare[n] Düsseldorf“ fristet und keine Chance hat, es wie ihr Sohn zu verlassen: Emilie Gründgens. Auch wenn „Gui“ seiner „Mui“ vorerst nicht die ganze Wahrheit anvertrauen mag, sie wird ihn verstehen. Er ist in schweres Wasser geraten, weil seine Liebe zu Stobrawa in Widerstreit mit homosexuellen Impulsen gerät, die sich mehr und mehr bemerkbar machen. Solchen Problemen war Louise Dumont mit Liberalität und Humor begegnet: „Kränkt euch nicht, Kinder!“ rief sie ihren Schülerinnen und Schülern zu. „Bi-Sexualität! Sie schadet nicht. Seid ihr begabt, dann flutet’s ineinander!“ Kein Trost für jemanden, der sich über seine Anlagen nicht im Klaren war, auf Diskretion Wert legte und bei den ungeliebten, seinem Temperament fern liegenden Altmänner-Rollen, die keinem Anfänger erspart blieben, nichts ineinander fluten lassen konnte.

Außerdem wird er von seinem Chef am Ende der Saison mit einem Fußtritt entlassen: Gründgens dürfe wiederkommen, sobald er alt und dick geworden sei.

Deutlicher als seiner Mutter offenbart Gründgens sich Hanns Böhmer, mit dem er nach Halberstadt gegangen war. Beide haben für die kommende Spielzeit ein Engagement an den Kieler Vereinigten Städtischen Theatern in Aussicht und nehmen an, obwohl |19|sie getrennte Wege vorgezogen hätten. Tief gekränkt erfährt Gründgens später, dass er als „Knochenbeilage“ für den viel versprechenden Freund engagiert wurde.

Seine finanzielle Lage bessert sich, obwohl er auf zusätzliche Einkommensquellen angewiesen ist. Diesmal darf er als Charakterdarsteller auftreten. Unablässig eingesetzt, gerät er bald an den Rand seiner Kräfte: Stücke von Hebbel, Lessing, Goethe, Schiller, Grillparzer, Shakespeare, Ibsen folgen aufeinander – und im April 1922 spielt er im Faust anstelle eines erkrankten Kollegen zum ersten Mal den Mephisto. Neben Hamlet wird es die Rolle seines Lebens.

Tanz auf dem Vulkan

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